Ka­tha­ri­na Pek­tor (Hrsg.): Re­né Char und Pe­ter Hand­ke – Gu­te Nach­barn

Katharina Pektor: Rene Char und Peter Handke - Gute Nachbarn

Ka­tha­ri­na Pek­tor: Re­ne Char und Pe­ter Hand­ke – Gu­te Nach­barn

Bis­lang hat Pe­ter Hand­ke seit 1980 33 Bü­cher ins Deut­sche über­setzt. Nicht ein­ge­rech­net drei ei­ge­ne Thea­ter­stücke, die er vom Fran­zö­si­schen sel­ber über­tra­gen hat­te. Hand­ke hat im­mer dar­auf hin­ge­wie­sen, den pro­fes­sio­nel­len Über­set­zern nicht die Ar­beit weg­ge­nom­men zu ha­ben. Sei­ne Über­tra­gun­gen dien­ten auch (wenn nicht so­gar vor­dring­lich) da­zu, die Auf­merk­sam­keit auf an­de­re, bis da­hin un­be­kann­te Au­toren zu len­ken. So über­setz­te er aus dem Slo­we­ni­schen fünf Bü­cher mit Ge­dich­ten von Gu­stav Ja­nuš, zu­sam­men mit Hel­ga Mrač­ni­kar Der Zög­ling Tjaž von Flor­jan Li­puš und 2020 Er­ste und letz­te Ge­dich­te von Fab­jan Haf­ner. Vom ame­ri­ka­ni­schen Au­tor Wal­ker Per­cy über­trug er zwei Bü­cher und steu­er­te so­gar ei­ne neue Ver­si­on von Shake­speares Win­ter­mär­chen bei. Hand­ke wag­te sich auch an die grie­chi­schen Klas­si­ker Eu­ri­pi­des und So­pho­kles. Der größ­te Teil – ins­ge­samt 20 Bü­cher – sind Über­tra­gun­gen aus dem Fran­zö­si­schen. Von Mar­gue­ri­te Du­ras nahm er sich der Er­zäh­lung La Mala­die de la Mort im Hin­blick auf ei­ne spä­te­re fil­mi­schen Rea­li­sie­rung an. Hand­ke mach­te deutsch­spra­chi­ge Le­ser mit Em­ma­nu­el Bo­ve, Fran­cis Pon­ge, den spä­te­ren No­bel­preis­trä­ger Pa­trick Mo­dia­no, Ge­or­ges-Ar­thur Gold­schmidt, Bru­no Bay­en und den in (fran­zö­sisch schrei­ben­den) grie­chi­schen Ly­ri­ker Di­mit­ri Ana­lis be­kannt.

Auch vom fran­zö­si­schen Ly­ri­ker Re­né Char (1907–1990) über­setz­te Hand­ke zwei Bü­cher. Char ge­nießt in Frank­reich ei­ne ho­he Re­pu­ta­ti­on. Al­bert Ca­mus cha­rak­te­ri­sier­te ihn 1959 »Dich­ter des Auf­ruhrs und der Frei­heit« und nann­te ihn den »größ­ten le­ben­den Dich­ter«. Dies be­zog sich nicht nur auf sein ly­ri­sches Werk, son­dern auch sei­nen be­waff­ne­ten Kampf in der fran­zö­si­schen Ré­si­stance ab 1941 (»Ca­pi­taine Alex­and­re«). 1983 wur­de sein Werk in die »Bi­blio­t­hè­que de la Plé­ia­de« auf­ge­nom­men.

Hand­ke nahm sich zu­nächst 1984 der Ge­dicht­samm­lung Le Nu per­du et aut­res poè­mes 1964–1975 an. Sie er­schien un­ter dem deut­schen Ti­tel Rück­kehr strom­auf, Ge­dich­te 1964–1975, in der »Edi­ti­on Ak­zen­te« im Han­ser Ver­lag. 1990 dann in ei­ner bi­blio­phi­len Aus­ga­be der »Edi­ti­on Pe­trar­ca« im Münch­ner Klaus G. Ren­ner Ver­lag, Die Nach­bar­schaf­ten Van Goghs (Les voi­si­na­ges de Van Gogh [Erst­aus­ga­be in Frank­reich 1985]).

Im Rah­men der »Edi­ti­on Pe­trar­ca« er­scheint nun bei Wall­stein der Band Re­né Char und Pe­ter Hand­ke – Gu­te Nach­barn, der sich der Ge­ne­se und des Um­felds die­ser bei­den Über­set­zungs­ar­bei­ten wid­met. Ka­tha­ri­na Pek­tor, ak­tu­ell Lei­te­rin der di­gi­ta­len Edi­ti­on »Pe­ter Hand­ke: No­tiz­bü­cher« am Li­te­ra­tur­ar­chiv der Öster­rei­chi­schen Na­tio­nal­bi­blio­thek, ist ei­ne der be­sten Ken­ner des Wer­kes von Pe­ter Hand­ke und fun­giert hier als Her­aus­ge­be­rin.

Den voll­stän­di­gen Text »Wie ab­ge­dun­kel­te Räu­me im Som­mer« bei Glanz und Elend wei­ter­le­sen.

Wel­ten und Zei­ten I

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

Nichts ge­gen Na­me­drop­ping. Man be­geg­net mal die­sem, mal je­nem, in der Li­te­ra­tur und Gei­stes­welt wie im rich­ti­gen Le­ben, mal flüch­ti­ger, mal ernst­haf­ter, es ent­ste­hen Ver­bin­dun­gen, Ge­mein­sam­kei­ten wer­den ent­deckt, Ver­bin­dun­gen wer­den ge­löst, neu ge­knüpft, oder auch nicht: Un­ter­schie­de fest­ge­stellt, Ab­gren­zun­gen vor­ge­nom­men. Freund­schaf­ten und Be­kannt­schaf­ten. Und eben auch Feind­schaf­ten. Nicht al­les paßt zu­sam­men, nicht im­mer. Na­tür­lich wün­schen wir uns, daß mehr fällt als der Na­me. Viel­leicht der Gro­schen, im­mer wie­der ein­mal.

Al­ter­na­ti­ve Tra­di­ti­ons­li­ni­en auf­zei­gen, nicht im­mer das­sel­be wie­der­käu­en. Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Li­te­ra­tur­ge­schich­te. Wie je­ne, die jetzt über­all Frau­en am Werk se­hen in der Kunst, Mu­sik etc. Frei­lich, das lohnt nicht im­mer, oft ist das ideo­lo­gie­ge­lenkt. Wie bei der »wie­der­ent­deck­ten« Ba­rock­ly­ri­ke­rin Si­byl­la Schwarz, die 17-jäh­rig ver­stor­ben war. Nein, sie war eben kein weib­li­cher Rim­baud des 17. Jahr­hun­derts, son­dern be­sten­falls Main­stream, al­so mit­tel­mä­ßig, hat halt die Re­gel­poe­tik ei­nes Mar­tin Opitz an­ge­wen­det wie so vie­le an­de­re, die man des­we­gen aber nicht »wie­der­ent­decken« muß. Dich­ten war da­mals nichts an­de­res als ei­ne Schul­übung. Nur we­ni­ge ra­gen aus dem Main­stream, Gry­phi­us, Fle­ming, Gün­ther. Das al­les, wirk­lich al­les, zu le­sen, war mei­ne Be­schäf­ti­gung, als ich un­ge­fähr 23, 24 war. So­gar Si­byl­la Schwarz ist mir da­mals un­ter­ge­kom­men, in der Her­zog Au­gust-Bi­blio­thek zu Wol­fen­büt­tel.

Aber hier geht es um den Ro­man und dar­um, was von ihm bleibt. Trans­ver­sa­le Blicke, Sei­ten­blicke auf be­schei­de­ne­re Wer­ke, nicht im­mer nur die groß­spu­ri­gen, groß­mäch­ti­gen. Nicht der Groß­ro­man, eher die klei­ne­ren. Gad­dis, Faul­k­ner, Joy­ce, Proust, Mu­sil, Da­vid Fo­ster Wal­lace… all die Ge­walt­anstren­gun­gen be­ein­drucken mich nicht mehr. Auch nicht die spie­le­ri­sche Ge­walt ei­nes Pe­rec in La vie mo­de d‘emploi. Statt des­sen die zu­gäng­li­che­ren Wer­ke, et­wa Le Grand Me­aul­nes von Alain-Fou­rier. Oder Pa­trick Mo­dia­no (na ja, ein No­bel­preis­trä­ger…).

Sol­che Trans­ver­sa­li­tät be­deu­tet na­tür­lich nicht, sich ein­fach ei­ne Li­te­ra­tur­li­ste zu­sam­men­zu­wür­feln und dann die Bü­cher der Rei­he nach zu le­sen. Es be­deu­tet eher, sie »gleich­zei­tig« zu le­sen, wo­bei gleich­zei­tig nicht im chro­no­me­tri­schen Sinn zu ver­ste­hen ist, son­dern in ei­nem or­ga­ni­schen: Man liest sie al­le in ei­nem Zeit-Raum, der da­mit ei­ne be­son­de­re Qua­li­tät an­nimmt. Es geht 1. dar­um, Ähn­lich­kei­ten über hi­sto­ri­sche Epo­chen, un­ter­schied­li­che Spra­chen und Kul­tu­ren fest­zu­stel­len, 2. dar­um, im sel­ben Sinn Un­ter­schie­de fest­zu­stel­len, 3. dar­um, sich Über­ra­schun­gen zu öff­nen und un­vor­her­ge­se­he­ne Er­kennt­nis­se zu­zu­las­sen. Es ist al­so nicht das wis­sen­schaft­li­che Prin­zip des Auf­stel­lens ei­ner Hy­po­the­se, die dann be­stä­tigt, er­gänzt oder ver­wor­fen wird, und auch kein sta­ti­stisch-quan­ti­ta­ti­ves Prin­zip, bei dem Kor­re­la­tio­nen, Wie­der­ho­lun­gen, Nach­bar­schaf­ten be­rech­net wer­den, son­dern ein qua­li­täts­ori­en­tier­tes und nur be­dingt steu­er­ba­res Prin­zip, das Krea­ti­vi­tät in der Lek­tü­re, als clo­se re­a­ding und her­me­neu­ti­scher Vor­gang mit star­ker sub­jek­ti­ver Kom­po­nen­te ver­stan­den, er­lau­ben und för­dern soll­te.

Wei­ter­le­sen

An­ne We­ber: Bann­mei­len

Anne Weber: Bannmeilen

An­ne We­ber: Bann­mei­len

Bann­mei­len – Ei­nen Ro­man in Streif­zü­gen nennt die seit vie­len Jah­ren in Pa­ris le­ben­de An­ne We­ber ihr neu­es Buch. Nach dem »rück­blicken­den Vor­spiel« fol­gen 18 Ka­pi­tel, in de­nen (bis auf ei­ne Aus­nah­me) ei­ne na­men­los blei­ben­de Ich-Er­zäh­le­rin zu­sam­men mit dem be­freun­de­ten Film­re­gis­seur Thier­ry durch die Pa­ri­ser Ban­lieus, die Vor­städ­te, streift. Ge­nau­er: Es ist das Dé­part­ment Sei­ne-Saint-De­nis, we­gen sei­ner mit 93 be­gin­nen­den Post­leit­zahl auch »das Neun-Drei« ge­nannt, den sich die bei­den da vor­neh­men. Thier­ry plant ei­nen Film über die Neu­bau­ten (Sta­di­en, aber auch Woh­nun­gen) in Pa­ris und spe­zi­ell in »Neun Drei« an­läss­lich der Olym­pi­schen Spie­le 2024.

Die Er­zäh­le­rin leb­te, wie sie fast bü­ße­risch be­kennt, bis­her na­he­zu aus­schließ­lich im Zen­trum mit den »Ki­nos, Lä­den, Mu­se­en«, den schö­nen al­ten Häu­sern, dem Ufer der Sei­ne, und so wei­ter. Sie ha­be »jahr­zehn­te­lang in un­mit­tel­ba­rer Nä­he ei­ner frem­den Welt«, »je­der für sich«, ge­lebt. Und nun al­so ei­ne Art Pro­jekt: »Ge­hen, wo nie­mand geht.« Was gar nicht so ein­fach ist, denn die Er­reich­bar­keit ist um­ständ­li­cher, als die Luft­li­ni­en­ent­fer­nung dies na­he­legt. Mit öf­fent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln muss man lang­wie­ri­ge Um­stei­ge­pro­ze­du­ren in Kauf neh­men und auch mit dem Au­to wä­re man auf­grund des Ver­kehrs­ge­wühls nicht schnel­ler. An­ge­kom­men, stellt man fest, dass es oft ge­nug kei­ne Geh­stei­ge gibt und das man »quer­stra­ßen­ein« Au­to­stra­ßen über­que­ren muss. Um­so über­rasch­ter, dass es tat­säch­lich ei­ne Tou­ris­mus­sei­te im In­ter­net für Sei­ne-Saint-De­nis gibt.

Im Lau­fe der sich über meh­re­re Mo­na­te hin­zie­hen­den Tref­fen nimmt bei der Er­zäh­le­rin das be­reits zu Be­ginn an­klin­gen­de Schuld­be­wusst­sein des bis­he­ri­gen Nicht­be­ach­tens der Ban­lieu-Be­woh­ner (nebst der Bau­sün­den der Stadt der letz­ten Jahr­zehn­te) ste­tig zu. Da­bei wird auch Thier­rys Le­bens- und Her­kunfts­ge­schich­te er­zählt. Er ist Jahr­gang 1963, sein Va­ter wur­de 1941 in Al­ge­ri­en ge­bo­ren. 1969 zog die Fa­mi­lie aus der so­ge­nann­ten »Ci­té des 4000«, ei­ner Art Hoch­haus­get­to, das man in­zwi­schen längst ab­ge­ris­sen hat, aus. Da­mals gab es, so Thier­ry, kei­ne Dro­gen und kei­ne Ka­pu­zen­trä­ger. Der Va­ter schaff­te es mit sei­ner Selbst­stän­dig­keit als Elek­tri­ker zu be­schei­de­nem Mit­tel­schicht-Wohl­stand und ei­nem Haus. Sein sehn­lich­ster Wunsch war, nicht mehr als Ara­ber zu gel­ten – ver­geb­lich. Den (fik­ti­ven) Nach­na­men Thier­rys, Ben­sa­lem, er­fährt der Le­ser auf Sei­te 98. Thier­rys vier Jah­re äl­te­rer Stief­bru­der (der Va­ter war Wei­ßer), heißt Jean-Luc Du­bo­is. Die bei­den wa­ren so­gar auf ei­ner Schu­le; nie­mand be­merk­te ih­re Ver­wandt­schaft. Das Ver­hält­nis ist ge­spannt oder viel­leicht auch: nicht vor­han­den.

Den voll­stän­di­gen Text »›Zwi­schen zwei Wo­an­ders‹« bei Glanz und Elend wei­ter­le­sen.

Ju­lia Jost: Wo der spit­zeste Zahn der Ka­ra­wan­ken...

Julia Jost: Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht

Ju­lia Jost: Wo der
spit­zeste Zahn der
Ka­ra­wan­ken in den
Him­mel hin­auf fletscht

2019 ge­wann die 1982 ge­bo­re­ne Kärnt­ne­rin Ju­lia Jost im Kla­gen­fur­ter Bach­mann­preis-Wett­be­werb für ih­re Er­zäh­lung Scha­kal­tal den Ke­lag-Preis (das war da­mals ähn­lich ei­ner Bron­ze­me­dail­le). Nor­ma­ler­wei­se wer­den der­art er­folg­rei­che Tex­te rasch in fer­ti­ge Bü­cher über­führt, aber bei Jost muss­ten po­ten­ti­el­le Le­ser fast fünf Jah­re war­ten, bis heu­er der fer­ti­ge Ro­man vor­liegt. Er trägt den zu­nächst schreck­li­chen, nach der Lek­tü­re aber kon­ge­ni­al er­schei­nen­den Ti­tel Wo der spit­zeste Zahn der Ka­ra­wan­ken in den Him­mel hin­auf fletscht.

Scha­kal­tal ist der kom­pri­mier­te Be­ginn des jet­zi­gen Ka­ra­wan­ken-Ro­mans. Die Schluss­sze­ne der elf­sei­ti­gen Er­zäh­lung fin­det sich im Buch auf Sei­te 25. Es ist ein Er­eig­nis, dass die Men­schen um den Gast­hof Gratsch­ba­cher Hof, ir­gend­wie in der Nä­he von Feld­kir­chen, Kärn­ten, »wo der spit­zeste Zahn der Ka­ra­wan­ken in den Him­mel hin­auf fletscht«, noch Jah­re spä­ter be­schäf­tigt und für ei­nen kur­zen Mo­ment kam es da­mals der Er­zäh­le­rin vor, »als wä­re die Welt auf­ge­braucht.«

Zu Be­ginn be­trach­tet die Ich-Er­zäh­le­rin, von der man nur den er­sten Buch­sta­ben des Vor­na­mens – ein J – er­fährt, ein Klas­sen­fo­to aus dem 1989. Sie war da­mals 7 Jah­re alt. Nicht auf dem Fo­to sind ih­re bei­den Brü­der Tho­mas und Jo­han, die neun bzw. vier Jah­re äl­ter sind. Da­bei war al­ler­dings der kurz zu­vor aus Ti­rol »emi­grier­te« Fran­zi Ruck, der da­bei er­wischt wur­de, wie er dem Pfar­rer in den ge­öff­ne­ten Mund hin­ein­pin­kel­te was als Grund für den Um­zug der Fa­mi­lie an­ge­ge­ben wird. Fran­zi hat es schwer in die Klas­sen­ge­mein­schaft auf­ge­nom­men und ak­zep­tiert zu wer­den, nicht zu­letzt bei J.

Ir­gend­wann fin­den die Kin­der ein Mes­ser des Groß­va­ters mit der In­schrift »Mei­ne Eh­re heißt Treue«. Beim Kni­fe-Game packt J die Angst und schleu­dert das Mes­ser in den na­hen Brun­nen. Die Al­ten wer­den to­ben, al­so muss das Mes­ser her­aus­ge­holt wer­den. Fran­zi will sich be­wei­sen und es ho­len. Man seilt ihn in den Brun­nen ab. Aber es kommt zur Ka­ta­stro­phe. Als man nichts mehr von dem Jun­gen hört, ruft man die Feu­er­wehr. Fran­zi ist tot – das Mes­ser steckt in sei­nem Bauch. Die Er­zäh­le­rin lässt im Lau­fe des Ro­mans vom Zu­stand der Lei­che über den Ob­duk­ti­ons­be­richt bis zur Be­er­di­gung im wei­ßen Bir­ken­sarg kein De­tail aus. Ein Bei­spiel für den Er­zähl­duk­tus die­ses Ro­mans: Pen­deln zwi­schen Tra­gik, Ko­mik und poe­ti­schen Mo­men­ten.

Vor­der­grün­dig er­zählt J fünf Jah­re nach dem Fran­zi-Er­leb­nis, aus dem Jahr 1994 her­aus, als Zwölf­jäh­ri­ge, was durch das Er­zäh­len im Prä­sens un­ter­stützt wird. Tat­säch­lich schwingt aber ei­ne wei­te­re Ebe­ne mit, in dem ei­ne er­wach­se­ne Frau ih­re Er­in­ne­run­gen zu wie­der­ho­len scheint. An­ders ist die zu­wei­len an­spruchs­vol­le Wort­wahl nicht zu er­klä­ren.

Suk­zes­si­ve ent­wickeln sich die Ge­schich­ten der ein­zel­nen Prot­ago­ni­sten. Et­wa die El­tern. Der Va­ter, Carl, ist acht Jah­re äl­ter als die Mut­ter Mar­ga­re­the, für die er sich da­mals hat­te schei­den las­sen. Für Mar­ga­re­the war die Hei­rat mit 21 ein Ent­kom­men aus der Do­mi­nanz ih­rer El­tern, die sie schon mit 12 ne­ben der Schu­le in der Gast­wirt­schaft ar­bei­ten lie­ßen. Sie konn­te nach der Hei­rat stu­die­ren, wur­de aber erst mit dem SPÖ-Par­tei­buch als Leh­re­rin ein­ge­stellt. Als es um den Di­rek­tor­po­sten ging, er­klär­te man ihr, dass sie als Frau da­für nicht ge­eig­net sei, was sie in die Onio­ma­nie trieb. Sie kann von nun an nicht an­ders als al­le mög­li­chen an­ti­qua­ri­sche Mö­bel zu er­stei­gern und sich da­bei als Auk­ti­ons­sie­ge­rin zu in­sze­nie­ren.

Der Va­ter ist Au­to­händ­ler; ein Self­ma­de-Un­ter­neh­mer, der es zu Wohl­stand brach­te. Sin­ni­ger­wei­se heißt er Kö­nig mit Nach­na­men. Auf das Geld braucht man nicht zu ach­ten. Zu Be­ginn der 1990er Jah­re steigt er dann in ein Groß­ge­schäft mit 50 LKWs für Ser­bi­en ein, was schließ­lich nur den »Ver­mitt­lern« half, wie ein klei­ner, aber ein­deu­ti­ger Ne­ben­satz ver­rät. Als ein von sei­ner Frau ge­kauf­tes Mö­bel beim Spie­len von den Kin­dern be­schmutzt wur­de, prü­gel­te er mit dem Gür­tel auf die nack­ten Hin­tern sei­ner Söh­ne (dass die Toch­ter, al­so die Er­zäh­le­rin, Ver­ur­sa­che­rin des Flecks sein könn­te, kam ihm nicht in den Sinn). Die­se An­lei­he an Ha­n­ekes Das wei­ße Band wird kon­ter­ka­riert durch die Ver­zweif­lung des Va­ters über den sich durch Kauf­lust ob­ses­siv aus­ge­leb­ten Nar­ziss­mus sei­ner Frau. Jo­han und Tho­mas, die bei­den Brü­der der Ich-Er­zäh­le­rin, wer­den stark idea­li­siert, wa­ren mit ih­ren lan­gen Haa­ren und locke­ren Be­klei­dun­gen ein­fach »schön« und pro­vo­zier­ten so man­chen Dorf­be­woh­ner.

J ver­birgt sich am Er­zähl­tag im Som­mer 1994, wäh­rend die Fa­mi­lie mit ei­nem mon­strö­sen Um­zugs mit fünf oder sechs LKWs vom Gratsch­ba­cher Hof, den man an Ber­li­ner ver­kauft hat­te, nach Klo­ster­berg (die Orts­an­ga­ben im Ro­man sind mal fik­tiv, mal re­al) be­schäf­tigt ist. Der Grund für den Um­zug liegt nicht zu­letzt dar­in, dass al­le Ge­bäu­de von den ge­kauf­ten Mö­beln über­quol­len und ei­nes Ta­ges der Va­ter ei­nen Ner­ven­zu­sam­men­bruch er­litt und sei­nen Mer­ce­des wol­lü­stig zer­stör­te, weil die­ser über Nacht von ei­nem Mö­bel­hau­fen be­gra­ben wor­den war. Zu­nächst liegt J un­ter ei­nem LKW, spä­ter sitzt sie für al­le un­be­merkt in ei­ner LKW-Fah­rer­ka­bi­ne. Hier hört sie das lang­sa­me Her­un­ter­zäh­len von ein­hun­dert auf null ih­rer be­sten Freun­din Lu­ca, die 1991 mit ih­rer Fa­mi­lie aus Bos­ni­en nach Kärn­ten kam.

Vor­der­grün­dig er­zählt ei­ne toll­küh­ne 12jährige mit be­tont kur­zen Haa­ren und ei­ner All­er­gie auf Kleid­chen über sich und ih­re Freund­schaft mit Lu­ca, dem kecken Emi­gran­ten­kind, dem man »Öster­rei­chisch« bei­gebracht hat­te. Man tauscht Küs­se und über­prüft das, was man in ei­nem »Sex­heft« sah. Die bei­den ha­ben ge­hei­me Rück­zugs­or­te, spie­len mit Holz­ge­weh­ren, in­sze­nie­ren Os­kar-Ver­lei­hun­gen.

Josts Buch er­scheint zu­nächst als Dorf­ro­man, der mit be­kann­ten Mo­ti­ven auf­war­tet. Na­tür­lich bau­melt je­mand am Strick, es gibt ei­nen un­ge­klär­ten Groß­va­ter-To­des­fall (die vier mög­li­chen To­des­va­ri­an­ten wer­den aus­ge­führt), Kat­zen wer­den in ei­nem Fluss er­tränkt, NS-De­vo­tio­na­li­en wie sa­kra­le Ge­gen­stän­de be­han­delt und der träu­me­ri­sche Jo­han wird von der »Land­ju­gend« ein­mal als »Schwuchtl« ver­or­tet, dem man ein­fach mal die Haa­re mit dem Tep­pich­mes­ser ab­schnei­det. Der Un­fall­tod Fran­zis ist ein kur­zer Wink­ler-Mo­ment, aber J ist ro­bust, nicht zu­letzt durch Lu­ca. Zur Ab­wechs­lung kom­men die Groß­el­tern ein­mal nicht so gut weg. Schließ­lich sympathisier(t)en die­se noch Jahr­zehn­te spä­ter mit der Na­zi-Zeit (und ein Opa las im­mer wie­der Sein und Zeit).

Im­mer­hin wer­den im Lau­fe des Ro­mans ei­ni­ge die­ser satt­sam be­kann­ten Bil­der de­mon­tiert und so manch ei­ne Fi­gur ist nicht das, was sie zu­nächst scheint. Da ist zum Bei­spiel Jo­sef Brug­ger, der »Focknhocker«-Bauer, ei­ne ver­wahr­lo­ste, ent­stell­te Ge­stalt, »dau­er­rau­schig«, et­was zwi­schen Dorf­idi­ot und Gru­sel­clown. So ist sein Ge­sicht die »er­ste Er­in­ne­rung über­haupt« der Er­zäh­le­rin. Die Pup­pe, die sie einst von ihm ge­schenkt be­kam, er­tränk­te J im »Katzl­teich«. Aber auf ih­rem er­sten und ein­zi­gen Aus­flug mit ih­rem Bru­der Tho­mas in den Gail­ta­ler Al­pen, zur win­di­schen Ka­pel­le auf dem Do­bratsch, der in ei­ner wun­der­ba­ren, poe­ti­sie­ren­den Stim­mung er­zählt wird, wird die Le­bens­ge­schich­te des Fock­nhockers er­zählt. Wie die­ser vom ver­hass­ten Va­ter, der ihn im­mer wie­der ver­prü­gel­te, aus­riss und halb ver­zwei­felt, halb mu­tig zu den slo­we­ni­schen Par­ti­sa­nen ging. Aus Jo­sef wur­de Lo­j­ze, der für sei­ne Ka­me­ra­den Le­bens­mit­tel stahl und für sie koch­te. Kämp­fen las­sen woll­te man ihn nicht, weil der Va­ter ihm schon ei­nen Fin­ger ab­ge­schnit­ten hat­te. Als er 1943 er­wischt wur­de, kam er ins KZ, grü­ner Win­kel, Zwangs­ar­beit am Ka­ra­wan­ken­tun­nel. Als al­les zu­sam­men­brach, kam er frei, wä­re fast noch von an­de­ren Par­ti­sa­nen er­schos­sen wor­den, ging zu­rück zu sei­nem Va­ter und er­mor­de­te ihn. Ein Le­ben, das man so schnell nicht ver­gisst.

Auch die Lo­kal­po­li­tik der 1990er fin­det Ein­lass, in Per­son ei­nes ge­wis­sen Ger­not Pfandl, einst bei der Frei­wil­li­gen Feu­er­wehr, dann Ge­mein­de­bür­ger­mei­ster und, wenn man es rich­tig ver­stan­den hat, spä­ter Par­tei­chef. Die Par­tei und auch die Fi­gur wei­sen hier und da Zü­ge der FPÖ bzw. von Jörg Hai­der (oder wo­mög­lich ei­nem an­de­ren »blau­en« Po­li­ti­ker) auf. Aber selbst er, der Spezl-Po­li­ti­ker und Strip­pen­zie­her, wird in ei­nem Mo­ment lei­dend ge­zeigt, als er sich an den to­ten Fran­zi schau­dernd er­in­nert, den er Jah­re zu­vor ge­bor­gen hat­te.

Bis­wei­len wird (si­cher­lich ab­sich­tig) die Schwel­le zum Kla­mauk über­schrit­ten, et­wa wenn öf­fent­lich Beich­ten am Stamm­tisch beim Pfar­rer Don Mar­co ge­hal­ten wer­den. Auch die Jagd­ge­sell­schaft, die sich zwei Mal im Jahr in der Gast­wirt­schaft traf, be­kommt ka­ri­ka­tures­ke Zü­ge. Bei der Bür­ger­mei­ster­wahl gibt es ein gro­ßes Rät­sel­ra­ten, wer die ei­ne Stim­me für die Kom­mu­ni­sten ab­ge­ge­ben hat – der Kan­di­dat sel­ber war es, wie man er­fährt, nicht. Bleibt ei­gent­lich nur der Fock­nhocker.

Merk­wür­dig, wie die­se he­te­ro­ge­ne Ge­sell­schaft am Schluss un­ter frei­em Him­mel ein fried­li­ches Fest für die ab­rei­sen­de Fa­mi­lie fei­ert. In den Mo­men­ten des Ab­schieds ge­lingt für kur­ze Zeit so et­was wie ei­ne Ge­mein­schaft jen­seits al­ler Dif­fe­ren­zen. Der Ro­man en­det mit der Ab­fahrt des Kon­vois und John­ny Cashs One Pie­ce At A Time. Der Prot­ago­ni­stin ge­mäß wird die Tren­nung der Freun­din­nen oh­ne Sen­ti­men­ta­li­tät er­zählt.

Viel­leicht ist der Ro­man ei­ne Spur zu süf­fig ge­schrie­ben, im­mer blit­zen sze­nen­wei­se groß­ar­ti­ge, poe­ti­sche Mo­men­te auf. Der Ver­lag wirbt mit dem häss­li­chen Wort vom »Coming-of-age«-Roman. El­frie­de Je­li­nek, bei der sich Ju­lia Jost be­dankt, spricht von »hei­te­rer Bös­ar­tig­keit«, was At­mo­sphä­re und Stil tref­fen­der be­schreibt. Die Au­torin kann dem Zeit­geist nicht wi­der­ste­hen und outet ih­re Prot­ago­ni­stin als »que­er«. Who ca­res? Und ja, ich möch­te so­fort wis­sen, wie es wei­ter­geht.

Die Über­wäl­ti­gung des Er­zäh­lers

Jon Fosse: Ein Leuchten

Jon Fos­se: Ein Leuch­ten

Schon seit vie­len Jah­ren galt bei den bri­ti­schen Buch­ma­chern der nor­we­gi­sche Au­tor Jon Fos­se zum er­wei­ter­ten Kreis der mög­li­chen Li­te­ra­tur­no­bel­preis­trä­ger. Im Herbst 2023 san­ken die Quo­ten im­mer deut­li­cher, so dass sich die Über­ra­schung bei der Ver­kün­dung dann in Gren­zen hielt. Fos­se hat rund 40 Thea­ter­stücke ver­fasst, schreibt Ge­dich­te, Pro­sa, Kin­der­bü­cher und Es­says. Er schreibt in Ny­n­orsk, ei­ner im 19. Jahr­hin­dert aus tra­di­tio­nel­len Dia­lek­ten kon­zi­pier­ten Spra­che, die heut­zu­ta­ge nur von ei­ner Min­der­heit von et­wa 10–15% ver­wen­det wird (die »Buch­spra­che« in Nor­we­gen ist Bok­mål). Sein Werk wur­de be­reits vor dem No­bel­preis in mehr als vier­zig Spra­chen über­setzt. Fos­se sel­ber über­setz­te zahl­rei­che Wer­ke eng­lisch- und deutsch­spra­chi­ger Au­toren, dar­un­ter Franz Kaf­ka, Tho­mas Bern­hard und Pe­ter Hand­ke ins Nor­we­gi­sche. Seit 2022 ist er Mit­glied der Deut­schen Aka­de­mie der Kün­ste in Ber­lin.

Seit mehr als zwei Jahr­zehn­ten über­setzt Hin­rich Schmidt-Hen­kel Fos­ses Bü­cher, die zu gro­ßen Tei­len im Ro­wohlt-Ver­lag er­schie­nen sind. Dort wur­de im letz­ten Jahr der letz­te Band sei­ner Hepta­lo­gie auf­ge­legt, all­ge­mein als das Opus-Ma­gnum Fos­ses be­zeich­net. Das deut­sche Feuil­le­ton scheint Fos­se al­ler­dings den No­bel­preis nicht zu ver­zei­hen. So konn­te man neu­lich le­sen, Fos­se sei ein »No­bel­preis­trä­ger mit dem Ro­sen­kranz-Tick«. Der Hang des Nor­we­gers, sei­nen ka­tho­li­schen Glau­ben in ein­zel­ne Fi­gu­ren und Hand­lun­gen ein­zu­bau­en, wird pau­schal als In­ter­pre­ta­ti­ons­ge­rüst an­ge­bo­ten. Nun ist es fast un­mög­lich im sich pro­gres­siv ge­ben­den, selbst­ge­fäl­li­gen deut­schen Li­te­ra­tur­be­trieb mit dem Eti­kett des »christ­li­chen« Au­tors auch nur an­näh­rungs­wei­se zu re­üs­sie­ren.

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Da­ni­el Kehl­mann: Licht­spiel

Daniel Kehlmann: Lichtspiel

Da­ni­el Kehl­mann:
Licht­spiel

Licht­spiel ist von Da­ni­el Kehl­mann, hat fast 500 Sei­ten und ist ein Ro­man, ge­nau­er: ei­ne spe­zi­el­le Form von Künst­ler­bio­gra­phie. Im Zen­trum steht der deut­sche Film­re­gis­seur Ge­org Wil­helm Pa­bst (1885–1967), der sich ir­gend­wann G. W. Pa­bst nann­te. Seit den 1920er Jah­ren galt Pa­bst zu­sam­men mit Fritz Lang, Ernst Lu­bit­sch und Fried­rich Wil­helm Mur­nau als ei­ner der wich­tig­sten Ver­tre­ter des deut­schen Films. Wäh­rend Lang mit Me­tro­po­lis und Mur­nau mit Nos­fe­ra­tu ex­pres­sio­ni­sti­sche Mei­ster­wer­ke schu­fen, ge­lang Pa­bst mit Die freud­lo­se Gas­se ein neo­rea­li­sti­sches So­zi­al­dra­ma (mit Gre­ta Gar­bo und Asta Niel­sen), ver­film­te er mit Die Büch­se der Pan­do­ra zwei Thea­ter­stücke von Frank We­de­kind und dreh­te zu­sam­men mit Ar­nold Fanck den Berg­film Die wei­ße Höl­le des Piz Palü mit Le­ni Rie­fen­stahl in der Haupt­rol­le. Die Ver­fil­mung der Drei­gro­schen­oper 1931 brach­te ihm schließ­lich den Spitz­na­men »ro­ter Pa­bst« ein.

Kehl­manns Ro­man setzt 1934 ein. Pa­bst ist zu die­ser Zeit 49 Jah­re alt, be­fin­det sich in Hol­ly­wood und muss man­gels an­de­rer Mög­lich­kei­ten ein schlech­tes Dreh­buch ver­fil­men. Dar­aus ent­steht A Mo­dern Hero. Der Film floppt und das un­ge­schrie­be­ne Ge­setz, dass ein Emi­grant kei­ne zwei­te Chan­ce er­hält, lähmt Pa­bst, denn als As­si­stent sieht er sich nicht. Es zieht ihn zu­rück nach Eu­ro­pa, nach Frank­reich, aber auch blei­ben die Er­fol­ge aus. Bei ei­nem Tref­fen in Pa­ris lässt er er­ken­nen, wie­der zu­rück nach Hol­ly­wood ge­hen zu wol­len. Vor­her nur noch sei­ne zu­se­hends ge­brech­lich wer­den­de Mut­ter be­su­chen und ent­we­der mit­neh­men oder in ei­ne Re­si­denz un­ter­brin­gen. Sie lebt in ei­nem schloss­ar­ti­gen An­we­sen in der Stei­er­mark. Am Tag, als sie auf­bre­chen woll­ten, bricht der Zwei­te Welt­krieg aus. Die Gren­zen wur­den ge­schlos­sen. Pa­bst blieb und ar­ran­gier­te sich mit den Na­zis, mach­te für die UFA, die, wie es ein­mal aus pro­mi­nen­tem Schau­spie­ler­mund heißt, »er­staun­lich un­po­li­tisch ge­blie­ben« war, Fil­me.

Im­mer wie­der taucht die Fra­ge auf, ob Pa­bst wirk­lich in die USA zu­rück woll­te. Das Tref­fen in Pa­ris, in dem er dies an­deu­te­te, gab es tat­säch­lich. Carl Zuck­may­er be­rich­te­te da­von in sei­nem Ge­heim­re­port. Er stuf­te Pa­bst un­ter die »Son­der­fäl­le« ein (wie z. B. auch die Brü­der Jün­ger, Erich Käst­ner, Hans Fal­la­da und so­gar Wer­ner Krauß). Pa­bsts Be­such der Mut­ter hat­te im üb­ri­gen auch fi­nan­zi­el­le Grün­de. Hier­von er­fährt man frei­lich bei Kehl­mann nichts.

Den voll­stän­di­gen Text »Aus­ge­wei­det« bei Glanz und Elend wei­ter­le­sen.

Uwe Witt­stock: Mar­seil­le 1940

Uwe Wittstock: Marseille 1940

Uwe Witt­stock: Mar­seil­le 1940

Vor drei­ein­halb Jah­ren ver­fass­te Uwe Witt­stock mit Fe­bru­ar 33 ei­ne akri­bisch ge­führ­te, ra­sant er­zähl­te Stoff­samm­lung über die Ver­än­de­run­gen im deut­schen Kul­tur­be­trieb nach der Macht­über­nah­me durch die Na­zis am 31.1.1933. Schwer­punk­te wa­ren Ber­lin und Mün­chen. Par­al­lel zu den Sor­gen und Nö­ten der Künst­ler, die nicht sel­ten schnell le­bens­be­droh­li­che Aus­ma­ße an­nah­men, gab es Er­läu­te­run­gen, wie die Na­zis ih­re Macht zu fe­sti­gen be­gan­nen. Da­bei ver­blüff­te, wie schnell und zu­gleich struk­tu­riert die ge­sell­schaft­li­che und ju­ri­sti­sche In­fra­struk­tur trans­for­miert wur­de. In nur we­ni­gen Wo­chen be­setz­te man wich­ti­ge Po­si­tio­nen in Ver­wal­tung, Po­li­zei und Ju­stiz mit SA- oder NSDAP-Leu­ten.

Mit Mar­seil­le 1940 legt Witt­stock nun aber­mals ein hi­sto­risch grun­dier­tes Buch vor. Dies­mal wer­den die Flucht­we­ge der deut­schen Exi­lan­ten, die in Frank­reich Schutz ge­sucht hat­ten, nach dem An­griff der Wehr­macht im Mai 1940 er­zählt. Un­ter­ti­tel­te man Fe­bru­ar 33 als »Win­ter der Li­te­ra­tur«, so soll in Mar­seil­le 1940 »Die gro­ße Flucht der Li­te­ra­tur« ge­zeigt wer­den. Viel­leicht wä­re der im Vor­wort ent­wickel­te Be­griff des »Dra­mas der zwei­ten Flucht« (nach Deutsch­land nun Frank­reich) noch tref­fen­der ge­we­sen.

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Pe­ter Flamm: Ich?

Peter Flamm: Ich?

Pe­ter Flamm: Ich?

»Nicht ich, mei­ne Her­ren Rich­ter, ein To­ter spricht aus mei­nem Mund.« Das ist der er­ste Satz die­ses un­ge­wöhn­li­chen Buchs mit dem Ti­tel Ich? aus dem Jahr 1926, wel­ches dan­kens­wer­ter Wei­se nach fast ein­hun­dert Jah­ren wie­der neu auf­ge­legt wur­de. Es be­ginnt 1918 mit dem En­de des Krie­ges. Der Feld­we­bel Wil­helm Bettuch stol­per­te wäh­rend des Rück­zugs über die Lei­che ei­nes Dok­tor Hans Stern, ei­nes »Ge­bil­de­ten«. Fast ein biss­chen scha­den­froh, dass er, der Bäcker, im Ge­gen­satz zum Arzt den Krieg über­lebt hat­te, nahm er den Pass des To­ten re­flex­haft an sich und schlüpf­te mehr zer­streut als vor­sätz­lich ge­plant in die Rol­le des To­ten. Und so er­tapp­te er sich da­bei, nicht nach Frank­furt zu­rück zu fah­ren, zur Bäcke­rei sei­ner Mut­ter, son­dern nach Ber­lin, wo Dr. Stern als Chir­urg prak­ti­zier­te und mit Frau Gre­te, dem klei­nen Sohn und Hund Ne­ro leb­te.

Wie selbst­ver­ständ­lich wur­de Wil­helm von Gre­te als Hans freu­dig emp­fan­gen und »ein blau­er Strahl von un­säg­li­cher Zärt­lich­keit glänz­te aus ih­ren Au­gen, und wäh­rend Trä­ne auf Trä­ne un­auf­halt­sam über die Wan­ge tropf­te, öff­ne­ten sich die Lip­pen feucht und weich zu un­lös­li­chem Kuss.« Er kann sein Glück nicht fas­sen, »es war al­les Traum, ein Glück wie in der Luft, das gab es, man durf­te nicht auf­wa­chen, man muss­te sehr lei­se sein«. Er, der in der Schu­le un­ter sei­nem Na­men ge­lit­ten hat­te (»…in der Pau­se stan­den sie um mich, zo­gen mich an der Ho­se, an der Jacke, am Hemd. Bettuch, Tüch­lein!«), gibt sich die­ser wun­der­ba­ren Frau hin, die ihn liebt, »ich kann doch nichts da­für, dass ich schwach bin, dass ich sie lie­be, ja, da­mals schon, so­fort, ich sah ihr Ge­sicht und lieb­te sie und hat­te kei­ne Kraft, ihr zu sa­gen, dass ich es ja gar nicht war, dass sie ei­nen an­de­ren mein­te mit ih­ren Küs­sen, ei­nen an­dern lieb­te, ei­nen an­dern, ei­nen an­dern!«

Auch der stil­le Ver­eh­rer Gre­tes, Staats­an­walt Sven Bor­ges, und die Freun­din der Fa­mi­lie, Bus­sy San­dor, be­merk­ten nicht, dass ih­nen ein an­de­rer ge­gen­über stand. Nur der Hund biss ihn zur Be­grü­ßung ins Bein. Ins­ge­samt fügt sich Wil­helm pro­blem­los ein. Nur manch­mal kommt er sich wie Kas­par Hau­ser vor, »aus ei­nem dunk­len Kel­ler, ich se­he Licht zum er­sten Mal, zum er­sten Mal ei­nen Baum, ei­ne Wol­ke, ei­nen Stein, ei­nen an­de­ren Men­schen, ei­ne Frau, mei­ne Frau, die Er­in­ne­rung kommt ganz lang­sam, man muss mir sehr viel Zeit las­sen, ich bin wie krank, ich se­he al­les ganz neu, ich er­le­be al­les zum er­sten Mal.« In Be­zug auf Gre­te ent­wickelt er, wie er er­fährt, ei­ne ähn­li­che Ei­fer­sucht wie Hans. Und er ent­deckt »hin­ter der wei­ßen Stirn« sei­ner Frau ih­re »klei­ne See­le, krank«, sie »blu­tet aus tau­send Wun­den.« Groß die Über­ra­schung als Bus­sy ihn in ei­nem stil­len Au­gen­blick heim­lich zu sich be­stell­te: Der Herr Dok­tor hat­te ein Ver­hält­nis mit ihr.

Auch als Arzt kam Wil­helm über­ra­schend gut zu­recht. Er nahm nach sei­ner Rück­kehr die Ar­beit so­fort wie­der auf, führ­te so­gar ei­ne Blind­darm­ope­ra­ti­on durch, frei­lich nicht oh­ne dar­über nach­zu­den­ken, war­um es die­sen un­nüt­zen Ap­pen­dix über­haupt gibt. Man setzt ihn als Ge­richts­gut­ach­ter ein, schickt ei­ne Blut­pro­be. Es soll un­ter­sucht wer­den, ob das Blut von der An­ge­klag­ten stammt oder, wie die­se be­haup­tet, von ei­nem Hund. Mord oder Un­fall? Ei­ne ein­fa­che Un­ter­su­chung; er weiß so­fort, was zu tun ist. Und das Er­geb­nis ist ein­deu­tig.

Als er den Ge­richts­saal be­trat, staun­te er nicht schlecht: Die An­ge­klag­te war Em­ma Bettuch, sei­ne Schwe­ster, auch sie er­kann­te ihn, sei­nen Bru­der, nicht und die­ser hör­te ih­re Ge­schich­te, ih­re Rei­se nach Ber­lin, um Geld für die kran­ke Mut­ter zu ver­die­nen, die An­stel­lung als Dienst­magd, die Aus­sicht, noch mehr als den Lohn zu er­hal­ten, wenn sie sich dem Guts­her­ren hin­ge­ben soll­te, was sie tat, »sie war be­schmutzt, ent­ehrt«, aber »es gab kein Geld«, und dann ih­re Ge­schich­te von die­sem Hund, der den Mann in die Keh­le ge­bis­sen hät­te. Wilhelm/Hans wuss­te es bes­ser, er wuss­te, es war Mord, aber er sagt et­was an­de­res, der Staats­an­walt, Sven Bor­ges, der sich als Freund ein­ge­schmei­chelt hat­te, ge­rät in Ra­ge, aber »es ist al­les gut, das Mäd­chen ist frei, sie geht schwan­kend hin­aus, Emmchen, im Vor­bei­glei­ten se­he ich ih­re Zü­ge, sie blickt mich an, sieht sie mich, mich, mich selbst?«

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