Jen­ny Er­pen­beck: Kai­ros

Jenny Erpenbeck: Kairos

Jen­ny Er­pen­beck: Kai­ros

An­fang des Jah­res konn­te man in ei­nem bri­ti­schen Ar­ti­kel ei­ni­ges über die Ur­sa­chen des Be­deu­tungs­ver­lusts der deut­schen Ge­gen­warts­li­te­ra­tur le­sen. Ein Ar­gu­ment war, dass es kaum noch zeit­ge­nös­si­sche deutsch(sprachig)e Au­toren ge­be, die über­setzt wür­den (ge­meint war na­tür­lich die Über­set­zung ins Eng­li­sche). Nach­träg­lich stellt sich her­aus, dass min­de­stens ei­ne deut­sche Au­torin über­se­hen wur­de, die seit Jah­ren flei­ßig über­setzt wird. Der eng­li­sche Wi­ki­pe­dia-Ar­ti­kel weist 22 Spra­chen aus, was höchst be­acht­lich ist. Na­he­zu al­le Pro­sa von und ih­re vier Thea­ter­stücke sind zeit­nah ins Eng­li­sche über­setzt wor­den.

Die Au­torin heißt Jen­ny Er­pen­beck, wur­de 1967 in Ost-Ber­lin ge­bo­ren und ge­wann vor ei­ni­gen Wo­chen für ih­ren 2021 er­schie­ne­nen Ro­man Kai­ros den In­ter­na­tio­nal Boo­ker-Pri­ze. Es ist nicht so, dass Er­pen­beck in Deutsch­land un­be­kannt wä­re – die Rei­he ih­rer Prei­se und Aus­zeich­nun­gen ist an­sehn­lich, dar­un­ter der Tho­mas-Mann- und der In­ter­na­tio­na­le Ste­fan-Heym-Preis. 2015 stand Er­pen­beck auf der Short­list des Deut­schen Buch­prei­ses. Ehr­li­cher­wei­se muss man aber zu­ge­ben, dass das Feuil­le­ton bis­her nicht un­be­dingt sehn­süch­tig ih­re neu­en Ro­ma­ne und Er­zäh­lun­gen er­war­tet hat. Die Aus­nah­me ist Vol­ker Wei­der­mann, der seit min­de­stens vier Jah­ren re­gel­mä­ßig er­klärt, dass Er­pen­beck bald den Li­te­ra­tur­no­bel­preis er­hal­ten wird. An­son­sten sind die Re­zen­sio­nen zu­meist wohl­wol­lend bis freund­lich; Ver­ris­se gab es sel­ten. Die auf­merk­sam­keits­för­dern­den und all­seits an­ge­se­he­nen deut­schen Li­te­ra­tur­prei­se hat Er­pen­beck al­ler­dings noch nicht be­kom­men.

Gilt al­so aber­mals, dass die Pro­phe­tin nichts im ei­ge­nen Land gilt? Und ist es ein deut­sches Spe­zi­fi­kum, dass ei­ne Au­torin, die in­ter­na­tio­nal Er­fol­ge vor­wei­sen kann, nicht ge­fei­ert, son­dern mit selbst­ge­fäl­li­ger Ar­ro­ganz, in der auch ei­ne ge­wis­se Por­ti­on Neid mit­schwin­gen dürf­te, be­dacht wird? So ver­fass­te Il­ko-Sa­scha Ko­wal­c­zuk ei­nen dif­fus an­kla­gen­den, fast zor­ni­gen Text, der ver­mut­lich ent­stand, weil sich Er­pen­beck in In­ter­views über ih­re man­geln­de li­te­ra­ri­sche An­er­ken­nung in Deutsch­land be­klagt hat­te (den Bun­des­ver­dienst­or­den der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land er­hielt sie im­mer­hin be­reits). Es wür­den, so soll sich Er­pen­beck ge­äu­ßert ha­ben, zu we­ni­ge ost­deut­sche Ju­ro­ren in den Ju­rys sit­zen. Ko­wal­c­zuk be­kennt mit gön­ner­haf­ter At­ti­tü­de, er le­se Er­pen­becks »Schrei­be« »nicht un­gern«, um dann sei­ne Vor­be­hal­te mit Er­pen­becks So­zia­li­sa­ti­on in der DDR zu be­grün­den. Et­li­che »ost­deut­sche« Preis­trä­ger wür­den zu­dem der The­se wi­der­spre­chen, dass es nicht an den Ju­ry-Be­set­zun­gen lie­gen wür­de und sug­ge­riert zwi­schen den Zei­len, dass die Zu­rück­hal­tung mit ei­ner ge­wis­sen »Ost­deutsch­tü­me­lei« in Er­pen­becks Li­te­ra­tur zu tun ha­ben könn­te, ei­ner »Sehn­sucht nach dem Ge­stern«. Dass auch an­de­re preis­ge­krön­te Au­toren aus der ehe­ma­li­gen DDR gibt, die ost­al­gisch schrei­ben, wird nicht the­ma­ti­siert.

Er­pen­beck sei in ei­ne kom­mu­ni­sti­sche Fa­mi­lie hin­ein­ge­bo­ren wor­den, El­tern und Groß­el­tern hät­ten für DDR-Ver­hält­nis­se in ei­ner »Par­al­lel­welt« Pri­vi­le­gi­en ge­habt, so Ko­wal­c­zuk, der auch noch gleich ei­ge­ne Er­leb­nis­se ein­bringt, die ei­nen gro­ßen Kon­trast zu de­nen der Er­pen­becks dar­stel­len. Weil Er­pen­becks DDR-Bild nicht dem (wohl be­gründ­ba­ren) Ver­dam­mungs­ur­teil ent­spricht und sich die Au­torin ent­ge­gen den Usan­cen des Li­te­ra­tur­be­triebs über man­geln­de Wert­schät­zung be­klagt hat, sieht sich ein se­riö­ser Au­tor ge­nö­tigt, ei­ne Schrift­stel­le­rin – ja, was?, zu maß­re­geln? Es geht al­so nicht um Li­te­ra­tur, son­dern um ei­ne ab­stru­se Form von Sip­pen­haft. Grund ge­nug für mich, der au­ßer Er­pen­becks Text vom Bach­mann­preis 2001 noch nie et­was von ihr ge­le­sen hat­te, jetzt Kai­ros, das aus­ge­zeich­ne­te Buch, zu le­sen.

Die Grund­zü­ge des Plots sind rasch skiz­ziert: Ka­tha­ri­na, 19 Jah­re, »Fach­ar­bei­ter­lehr­ling für Satztechnik/Akzidenzsatz«, lernt 1986 den Schrift­stel­ler Hans ken­nen. Der ist 53 und da­mit noch zehn Jah­re äl­ter ist als Ka­tha­ri­nas Va­ter. Ne­ben sei­ner Schrift­stel­le­rei ar­bei­tet Hans beim Rund­funk in Ber­lin, schreibt dort Bei­trä­ge, ist ver­hei­ra­tet mit In­grid, hat ei­nen 14jährigen Sohn (der ihm, wie er fin­det, nicht be­son­ders ähn­lich sieht) und zahl­rei­che Frau­en­af­fä­ren. Im Pro­log zum Ro­man be­kommt Ka­tha­ri­na zwei Kar­tons mit Pa­pie­ren, Do­ku­men­ten und Zeug­nis­sen der Be­zie­hung, die bis 1992 ging, ge­lie­fert. Hans’ Tod hat­te sie nicht mit­be­kom­men; sie war in Pitts­burgh, sei­ne Pro­phe­zei­ung, sie wer­de nicht auf sei­ner Be­er­di­gung sein, traf zu. Die In­hal­te der bei­den Kar­tons wer­den in zwei Mal 29 Sze­nen plus ei­nem In­ter­mez­zo und ei­nem Epi­log ge­sich­tet. Er­zählt wird aukt­ori­al und zu­meist chro­no­lo­gisch.

Die Amour fou des auch in­tel­lek­tu­ell un­glei­chen Paa­res wird zu­nächst mit Epi­so­den aus dem re­al exi­stie­ren­den So­zia­lis­mus der DDR, so­weit er die bei­den be­trifft, gar­niert. Hans kann pro­blem­los in den We­sten fah­ren, wenn dies be­ruf­lich not­wen­dig er­scheint (was we­nig pas­siert), macht jähr­lich sei­nen Ost­see­ur­laub mit Frau und Kind, liebt klas­si­sche Mu­sik, kennt sei­nen Brecht und ist al­les in al­lem ein über­zeug­ter So­zia­list. Bei Zwei­feln er­in­nert er sich an die Na­zi­zeit, sein HJ-Le­ben, das er, wie er zu­gibt, ger­ne hat­te und da­nach ist al­les wie­der ideo­lo­gisch im Lot. Auch Ka­tha­ri­na ist aus­rei­chend ideo­lo­gisch ge­fe­stigt und als sie wi­der Er­war­ten zum Ge­burts­tag ih­rer Oma nach Köln rei­sen darf, fällt ihr na­tür­lich so­fort die Ver­darbt­heit des Ka­pi­ta­lis­mus in Form ei­nes Stra­ßen­bett­lers auf. Über­wäl­ti­gend hin­ge­gen das Er­leb­nis in ei­nem Sex­shop. Die West-Ver­wandt­schaft ver­blüfft sie mit Hans’ Aus­sa­ge, dass Ade­nau­er den Osten an die NATO ver­kauft ha­be.

In Ost-Ber­lin ge­hen Hans und Ka­tha­ri­na in die be­sten Re­stau­rants, »Ga­ny­med« am Schiff­bau­er­damm oder im Pa­last der Re­pu­blik, nur muss Hans auf der Lau­er vor bis­wei­len lä­sti­gen Ver­flos­se­nen sein. Zu Be­ginn sind bei­de back­fisch­haft; sie schrei­ben sich Brie­fe, er na­tür­lich in Klein­schrei­bung, weil al­le Buch­sta­ben gleich ge­recht zu be­han­deln sind (Ka­tha­ri­na über­nimmt das bald). Hans führt sie in die Welt der klas­si­schen Mu­sik ein, bringt ihr ei­ni­ge Au­toren na­he. Na­tür­lich ent­wickelt Ka­tha­ri­na so­fort ei­nen Kin­der­wunsch, das Kli­schee macht vor dem rea­len So­zia­lis­mus nicht halt. Hans be­rei­tet sie in­des für sei­ne be­son­de­re Lei­den­schaft vor, er­zählt ei­ne Epi­so­de, wie er als Kind ei­ne Frau beim Zahn­arzt ha­be schrei­en hö­ren und da­bei das er­ste Mal er­regt ge­we­sen sei. Die »un­ge­trüb­te Zeit mit Ka­tha­ri­na« dau­er­te je­doch nur drei Mo­na­te. Als In­grid ei­ni­ge Brie­fe Ka­tha­ri­nas ent­deckt, wirft sie Hans kur­zer­hand aus der Woh­nung und Ka­tha­ri­na und er be­woh­nen ein für ei­ne be­grenz­te Zeit über­las­se­nes, ein biss­chen schmud­de­li­ges Apart­ment, ob­wohl Ka­tha­ri­na noch of­fi­zi­ell bei den El­tern wohnt. Hans woll­te ei­gent­lich ei­nen neu­en Ro­man schrei­ben, kann dort aber nicht ar­bei­ten, aber noch scheint die Lie­be al­les auf­zu­wie­gen, man fei­ert den Tag des Ken­nen­ler­nens wö­chent­lich, mo­nat­lich, halb­jähr­lich; an­de­re Fei­er­ta­ge er­ge­ben sich. Man er­fährt de­zent von Gür­tel- und Reit­ger­ten­spie­len; »R. für Rie­men schreibt Ka­tha­ri­na an sol­chen Ta­gen in ih­ren Ka­len­der. Tisch + R.«, manch­mal »zeckt« es. Nach meh­re­ren Aus­spra­chen mit In­grid darf Hans nach ein paar Wo­chen wie­der zu­rück­kom­men.

Nach En­de ih­rer Leh­re geht Ka­tha­ri­na nach Frankfurt/Oder, macht ein Prak­ti­kum am dor­ti­gen Thea­ter, freun­det sich mit Va­dim, ei­nem Büh­nen­ar­bei­ter, an. Fast je­de freie Mi­nu­te fährt sie mit dem Zug nach Ber­lin oder auch an die Ost­see, manch­mal nur, um ei­nen kur­zen Blick auf ihn zu er­ha­schen. Hans kommt auch nach Frank­furt, und ein­mal gibt es ei­ne er­ste Ver­stö­rung. Er steigt aus und sagt »Ich muss dich aus mei­nem Schä­del raus­krie­gen. Ka­tha­ri­na ver­steht nicht. Hans sagt: Es ist aus.« Und er steigt in den Zug, der nach kur­zem Auf­ent­halt wie­der zu­rück­fährt, ein. Ka­tha­ri­na er­lei­det ei­nen Ner­ven­zu­sam­men­bruch, aber am näch­sten Tag te­le­fo­nie­ren sie wie­der und al­les ist wie im­mer.

Der er­ste dra­ma­ti­sche Hö­he­punkt ist der Tag als Hans ihr ei­nen Brief schreibt, in dem »das Wort ›Schwanz‹ und des­sen Syn­ony­me ›Glied‹ und ›Er‹ vier­und­drei­ßig­mal« und »das Wort ›ficken‹« zwölf­mal vor­kommt, wäh­rend in Frank­furt zur glei­chen Zeit »Va­dim ihr die Blu­se auf­knöpft« und »wäh­rend sie end­lich mit den Hän­den un­ter Va­dims T‑Shirt fährt und um sei­nen Leib fasst, glatt, warm und fest ist sei­ne Haut, schreibt Hans sechs­mal das Wort ›Fot­ze‹ […] ein­und­zwan­zig­mal aber die Wor­te ›Hin­tern‹, ›Arsch­loch‹ und ›von hin­ten‹« und Ka­tha­ri­na gibt sich Va­dim hin. Wie der Zu­fall und die Er­zäh­le­rin es will ent­deckt Hans kurz dar­auf ei­nen im Pa­pier­korb ge­lan­de­ten Ta­ge­buch­ein­trag Ka­tha­ri­nas und dann be­ginnt ein mit klei­nen Un­ter­bre­chun­gen jah­re­lan­ges Mar­ty­ri­um, in dem ihr Hans per­sön­lich, in Brie­fen, spä­ter auf Cas­set­ten un­end­li­che Rei­hen von Vor­wür­fen, Un­ter­stel­lun­gen und Be­schimp­fun­gen zu­kom­men lässt, die sie, Ka­tha­ri­na, dann ent­spre­chend zu be­ar­bei­ten und zu be­ant­wor­ten hat.

Ka­tha­ri­na lässt sich die lan­gen Haa­re auf zwei Mil­li­me­ter ab­schnei­den, muss Hans ih­re ge­sam­ten Ta­ge­buch­auf­zeich­nun­gen of­fen­le­gen, darf Brie­fe nicht mehr hand­schrift­lich ver­fas­sen (»Dei­ne Hand­schrift hal­te ich nicht mehr aus«). Er ver­bie­tet ihr die Ab­schieds­for­mel »Dei­ne Ka­tha­ri­na« und nö­tigt sie, ei­nen Brief an Va­dim zu schrei­ben, in dem sie ihn ob­szön be­schimp­fen muss und von nun an fei­ern sie den Tag, an dem sie ihn be­tro­gen hat, denn »was man nicht ver­ges­sen kann, das muss man fei­ern.« Gleich­zei­tig suhlt sich Hans im ge­spiel­ten Selbst­hass, po­stu­liert, sie ha­be ihn nie ge­liebt und wen­det per­fi­de psy­cho­lo­gi­schen Spiel­chen an, zwingt Ka­tha­ri­na zu im­mer neu aus­ge­dach­ten Selbst­de­mü­ti­gun­gen und ent­spre­chen­den Be­kennt­nis­sen. Bei ih­rem Ge­burts­tag, »ist er ihr ein­zi­ger Gast, mit der Reit­ger­te schlägt er zu und sagt, dass sie sich für im­mer dar­an er­in­nern soll, wie er es ihr ge­ge­ben hat, an ih­rem 21. Ge­burts­tag.« Ein­mal über­rascht er Ka­tha­ri­na mit der Aus­sa­ge, dass er Va­dim in Frank­furt be­sucht ha­be. Er wis­se nun, dass es kein Aus­rut­scher ge­we­sen war, sie mehr­mals »die Bei­ne breit ge­macht« ha­be, und erst nach »vol­len fünf­und­vier­zig ver­zweif­lungs­vol­len Mi­nu­ten, als Hans ganz und gar si­cher ist, dass Ka­tha­ri­na wirk­lich nichts an­de­res weiß, als auf der Ge­schich­te, wie sie sie ihm er­zählt hat, zu be­har­ren, löst er das Rät­sel auf und gibt zu, dass er die Rei­se nach Frank­furt nur er­fun­den ha­be, um sie zu prü­fen.«

Im­mer­hin fah­ren sie 1988 für ei­ne Wo­che nach Mos­kau, »sei­ne stein­ge­wor­de­ne Hoff­nung«. aber auch hier spielt Hans zu­nächst mit ihr, sagt, er kom­me nicht, um dann doch be­reit zu ste­hen. Er fei­ert dort den So­zia­lis­mus, lobt die Be­wir­tung, das, was man in den letz­ten vier­zig Jah­ren in der UdSSR er­reicht ha­be, be­sich­tigt die tou­ri­sti­schen At­trak­tio­nen – nur die Lyu­by­an­ka oder das ehe­ma­li­ge Ho­tel Lux wer­den um­fah­ren, aber ins­ge­heim fin­det Hans Ge­fal­len an dem Ge­dan­ken, sich, be­zie­hungs­wei­se an­de­re zu op­fern, für die Sa­che, auch als Un­schul­di­ger, »[v]erhaftet wer­den oder ver­haf­ten, und an die Sa­che glau­ben, ge­schla­gen wer­den oder schla­gen, und an die Sa­che glau­ben, ver­ra­ten wer­den oder ver­ra­ten, und an die Sa­che glau­ben.« Selbst­er­grif­fen­heit über das Leid an­de­rer, weil es um das Gu­te geht: »Ei­ne er­bar­mungs­lo­se Welt ab­schaf­fen durch Er­bar­mungs­lo­sig­keit.« Die Schau­pro­zes­se, die Er­pres­sun­gen, die Ver­ban­nun­gen und Exe­ku­tio­nen – ei­ne Prü­fung, ei­nem über­ge­ord­ne­ten Zweck die­nend. So er­zeugt man wie ne­ben­bei Mär­ty­rer. Im­mer­hin die Fra­ge. »Aber wann be­ginnt das Da­nach? Wann darf man wie­der auf­hö­ren mit dem Mor­den?«

Die Mos­kau-Rei­se bleibt ei­ne In­sel; Hans quält sie. zu Hau­se an­ge­kom­men. wei­ter, »[i]mmer grö­ßer wird die­ser Schrecken, al­lein schon da­durch, dass er nie auf­hört.« Die­se Schil­de­run­gen zie­hen sich schier end­los, man ist er­schöpft von den die­sem Be­zie­hungs­dra­ma, in dem die Schwei­ne­rei­en des Man­nes auf­ein­an­der­sta­pelt wer­den wie lee­re Bier­kä­sten. War­um die­se Aus­führ­lich­keit? Ich le­se Hans’ An­kla­gen, die da­zu die­nen, Ka­tha­ri­na zu be­herr­schen, als al­le­go­ri­sche Um­schrei­bun­gen für die po­li­ti­sche Auf­ar­bei­tung des SED-Er­bes, wie man sie spä­ter be­trei­ben wird. So äu­ßert sich Ka­tha­ri­na ein­mal zu Ro­sa, ei­ner Freun­din, mit der sie für kur­ze Zeit ei­ne les­bi­sche Lie­bes­be­zie­hung ein­geht, über Hans’ Ei­fer: »Ich fra­ge mich…ob das rest­lo­se Aus­spre­chen der Wahr­heit nicht zu Zer­stö­rung füh­ren muss.« Pas­send auch Hans’ Über­le­gun­gen, über die Ver­öf­fent­li­chung von Jo­han­nes Be­chers Text »Selbst­zen­sur« mit 32 Jah­ren Ver­spä­tung in der Zeit­schrift »Sinn und Form«: »Wem hat das Schwei­gen ge­nützt? Und wem nützt es, wenn die Tür jetzt mit so gro­ßer Ver­spä­tung doch noch auf­geht? Was, wenn der Wind ei­nem das Tür­blatt aus der Hand schlägt? Die To­ten ha­ben al­le Zeit der Welt, aber wie­viel Zeit ha­ben die Le­ben­den, mit der Wahr­heit um­zu­ge­hen, oh­ne von ihr ver­schlun­gen zu wer­den?« In die­ser Welt ist die Wahr­heit dem Men­schen nicht zu­mut­bar.

Erst der sich ab­zeich­nen­de Zu­sam­men­bruch der DDR gibt dem Ro­man wie­der Luft. Hier wech­selt der brä­si­ge Er­zähl­stil, der ab und an ver­sucht, um Ka­tha­ri­na ei­nen Je­li­nek-Ton zu si­mu­lie­ren, vor­über­ge­hend in ei­nen sur­rea­len Duk­tus, ei­ner as­so­zia­tiv ver­fass­ten Art Je­re­mia­de auf die un­ter­ge­hen­de DDR und man ahnt, war­um die­ses Buch vor al­lem im Aus­land re­üs­siert, weil es die­sen Zu­sam­men­bruch ze­le­briert und man so et­was ver­mut­lich kaum ge­se­hen und ge­le­sen hat, wäh­rend der deut­sche Le­ser es zur Ge­nü­ge kennt, all die Ver­wer­fun­gen, Stilllegun­gen, Ent­las­sun­gen und die Do­ku­men­ta­tio­nen dar­über, all die nicht mehr Be­nö­tig­ten, der Ein­bruch des Ka­pi­ta­lis­mus und hier ist es wohl be­son­ders tra­gisch, weil es Kul­tur­men­schen sind, Or­che­ster­an­ge­hö­ri­ge et­wa, Thea­ter­hel­fer oder sol­che Leu­te wie Hans, der schließ­lich auch sei­ne Pa­pie­re be­kommt.

Und dann? Im Epi­log sitzt Ka­tha­ri­na zwi­schen sechs Ak­ten­ord­nern, liest von Hans’ Ver­pflich­tung, »IM Ga­li­lei«, 1964 bis ir­gend­wann En­de 1970er Jah­re, da­nach lief es aus. Erst 1988 wird die Ak­te ar­chi­viert, die »Per­spek­tiv­lo­sig­keit der Zu­sam­men­ar­beit« fest­ge­stellt. Das Wort »Sta­si« taucht vier Mal im Ro­man an un­we­sent­li­chen Stel­len auf, zwei Mal ein »Sta­si­blick« bei Kell­nern in Ost­ber­li­ner No­bel­re­stau­rants und dann die Sta­si­leu­te um ei­ne Kir­che. Jetzt ist es »das Or­gan«, die Ver­bre­chen des Or­gans wer­den auf »Ver­rat« her­un­ter­ge­schnurrt, das Selbst­mit­leid wu­chert, Lar­moy­anz quillt aus den Zei­len, der Op­fer­my­thos gras­siert, ge­biert häss­li­che Ent­schul­di­gun­gen. »Nackt macht sich der Staat vor sei­nen Zu­trä­gern, nackt ma­chen die Zu­trä­ger sich vor ih­rem Staat. Die neue Hei­mat wächst im mit­ein­an­der ge­teil­ten Ge­heim­nis«, so kom­men­tiert Ka­tha­ri­na die Re­kru­tie­run­gen durch die Sta­si in den 1960ern und fragt sich, »war­um es nach der Na­zi­zeit in ganz Deutsch­land nicht ge­nau­so ge­macht« wur­de.

Bei der Be­trach­tung die­ses Ro­mans sind meh­re­re Din­ge zu ver­mei­den. Da ist zu­nächst die ver­füh­re­ri­sche au­to­bio­gra­phi­sche Sicht­wei­se. Zwar ist Ka­tha­ri­na wie die Au­torin 1967 ge­bo­ren und hat ei­nen ähn­li­chen Start ins Be­rufs­le­ben. Den­noch ist ei­ne sol­che Les­art nicht nütz­lich. Eben­so er­scheint ei­ne Su­che nach der Fi­gur des Hans im rea­len Le­ben über­flüs­sig. Schließ­lich dür­fen die Ge­sin­nun­gen der je auf ih­re Art un­sym­pa­thi­schen Haupt­fi­gu­ren, die der DDR aus un­ter­schied­li­chen Grün­den nach­trau­ern, nicht den Blick auf die li­te­ra­ri­schen Qua­li­tä­ten die­ses Bu­ches trü­ben. Die sind al­ler­dings eher be­schei­den.

Sehr vie­les ist stumpf und pla­ka­tiv ge­schil­dert, et­wa der Auf­ent­halt Ka­tha­ri­nas in Köln oder die in­tel­lek­tu­el­le Fall­hö­he zwi­schen Hans und Ka­tha­ri­na, die bis zum Schluss bleibt. Bei­de Haupt­fi­gu­ren blei­ben au­ßer­halb ih­rer Lie­be­lei merk­wür­dig blas­se Cha­rak­te­re; es gibt kei­ne Ent­wick­lun­gen. Ih­re her­me­ti­sche Welt bleibt auch die her­me­ti­sche Welt des Le­sers. Man hät­te schon ger­ne ge­wusst, wel­che Art Tex­te Hans fürs Ra­dio ge­schrie­ben hat, wel­che Art sei­ne Ro­ma­ne wa­ren, wie sie an­ka­men. Kai­ros lie­fert be­que­me Rol­len­pro­sa oh­ne Tie­fe. So bleibt zum Bei­spiel die be­tro­ge­ne In­grid stets im Dun­keln, nur am En­de kommt her­aus, dass sie bei den Mon­tags­de­mon­stra­tio­nen da­bei war und dann, so­zu­sa­gen zum Dank, von der Ar­beit der »Ost­ber­li­ner Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten« »ab­ge­wickelt« wird. Es scheint, dass die DDR ein Wohl­fühlstaat mit ei­gent­lich nur klei­nen Feh­lern ge­we­sen sein muss. Man weiß zwar, dass es 25 Jah­re War­te­zeit auf ein Te­le­fon gab, aber Hans und Ka­tha­ri­na ken­nen das Pro­blem nicht. Sie hat­ten ih­ren Brecht oder Mo­zarts Kla­vier­kon­zert in d‑Moll. Die Pro­te­ste 1989 kom­men dem­zu­fol­ge aus dem Nichts. Als Ka­tha­ri­na ei­ne Thea­ter­vor­stel­lung vor­zei­tig ver­lässt und Op­po­si­tio­nel­le aus ei­ner Kir­che kom­men sieht, flüch­tet sie sich in Hä­me, denn »hier sind Men­schen ver­sam­melt, die sich et­was vor­spie­len, um Ge­füh­le zu pro­du­zie­ren und durch die­se Ge­füh­le ei­ne Ge­mein­schaft zu wer­den.« Der Be­griff der Schuld sei durch das Chri­sten­tum »in die Welt ge­kom­men« und da­mit »auch die­se un­end­li­che, ge­ra­de­zu ›schafs­mä­ßi­ge Op­fer­be­reit­schaft‹, wie Hans es ein­mal ge­nannt hat, die aus Leu­ten ei­ne Ge­mein­de macht.« Scha­fe sind al­so im­mer die an­de­ren.

Die ent­ste­hen­de Mi­schung aus Ver­ach­tung und Re­si­gna­ti­on der bei­den Prot­ago­ni­sten ist der Mehl­tau, der sich auch auf ih­re Be­zie­hung setzt. Zu­wei­len wird es aber auch ver­mut­lich un­frei­wil­lig ko­misch, et­wa als bei­de, Hans und Ka­tha­ri­na, Trä­nen ver­gie­ßend, sich ge­gen­sei­tig an ih­ren Kin­der­wunsch er­in­nern, der nun, durch die bal­di­ge Wie­der­ver­ei­ni­gung, für sie nicht mehr mög­lich ist und »stil­les, sal­zi­ges Was­ser tropft an bei­den Ufern aufs Tisch­lein­deck­dich.« Aber Ka­tha­ri­na hat ei­nen an­de­ren Plan, pünkt­lich zum Zu­sam­men­bruch der DDR wen­det sie sich ei­nem an­de­rem Mann zu, Ro­bert, ei­nem Stu­den­ten. Da­bei wer­den ganz ge­nau die che­mi­schen Vor­gän­ge ih­res Ei­sprungs ge­schil­dert, der sie ziel­ge­rich­tet zu ihm und ei­ner Schwan­ger­schaft führt. Hans hat da schon auf­ge­ge­ben, grü­belt noch, ob das Kind nicht viel­leicht doch von ihm ist, was sie ne­giert. Dass sie das Kind ver­liert, ist na­tür­lich noch­mals ei­ne Al­le­go­rie; der drit­te Weg ist ei­ne Sack­gas­se, den Run­den Tisch nennt Hans »ein schö­nes Mö­bel­stück«. Am En­de gibt es ei­nen die Ko­mik strei­fen­den Er­ha­ben­heits­kitsch, wenn ein Lied auf Ka­tha­ri­na an­ge­ho­ben wird, »…dein Kör­per ist wie der März­schnee in ei­nem Ber­li­ner Hin­ter­hof, / dei­ne Schul­tern sind wie zwei Blu­men­zwie­beln auf trocke­ner Er­de, / dei­ne Au­gen sind wie zwei Vö­gel, die sich um Brot­kru­men bal­gen, / dei­ne Ohr­läpp­chen wie Vor­hän­ge in ei­nem ver­las­se­nen Haus.« (Und man fragt sich, wie man das über­setzt hat.)

Nun, so wen­det der Le­ser ein, das kann doch al­les sein, die Fi­gu­ren sind ge­fan­gen in sich sel­ber, nicht ent­wick­lungs­fä­hig, un­sym­pa­thisch. Ja, rich­tig, aber ich möch­te trotz­dem den dop­pel­ten Bo­den spü­ren und nicht bloß den Trotz aus­ge­stellt be­kom­men wie in ei­ner eher mit­tel­mä­ssi­gen Re­por­ta­ge, die Aus­sa­gen an­ein­an­der­reiht. Es geht an­ders und da er­in­ne­re ich mich an mei­ne Ste­fan-Heym-Lek­tü­re von vor zwei­ein­halb Jah­ren. Selbst er, der auch für »sei­ne« DDR ein­trat und trotz­dem die Feh­ler be­nann­te, er­schuf kom­ple­xe­re, ein­dring­li­che­re Bil­der und Fi­gu­ren, ist heu­te noch min­de­stens le­sens­wür­dig, teil­wei­se aus le­sens­wert.

Jen­ny Er­pen­becks Er­folg im Aus­land speist sich wo­mög­lich dar­aus, dass an­de­re, li­te­ra­risch zum Teil hö­her ein­zu­schät­zen­de ost­deut­sche Au­toren, nicht bzw. kaum ins Eng­li­sche über­setzt wor­den sind. Man schaue sich in der eng­li­schen Wi­ki­pe­dia die Über­set­zun­gen bei­spiels­wei­se von Chri­stoph Hein an (auch er John­son- und Heym-Preis­trä­ger), oder je­ner Ste­fan Heym, aber auch Vol­ker Braun und Lutz Ra­the­now. Sie sind schlicht­weg nicht be­kannt.

Und der Ti­tel? Kai­ros ist, wie es zu Be­ginn heißt, der Gott des glück­li­chen Au­gen­blicks. Der Ro­man fei­ert die­sen Au­gen­blick, der 41 Jah­re dau­er­te und sich »Deut­sche De­mo­kra­ti­sche Re­pu­blik« nann­te. Das kann man sich er­le­sen, oh­ne der Au­torin ih­re Ver­wandt­schaft vor­zu­hal­ten.

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