24.12.

…ich weiß nicht mehr ge­nau, wann das war als mei­ne Mut­ter nach ei­ner Dis­kus­si­on, ei­nem Dis­put oder viel­leicht nur ei­ner un­be­dach­ten Be­mer­kung der­art ver­letzt war, dass sie in ei­ne ge­wis­se Ra­ge ge­riet, schimpf­te – das tat sie oft – dann aber, und das beküm­merte und be­sorg­te uns, U. und mich, plötz­lich zu wei­nen an­fing, uns nun ih­rer­seits mit Wort­hie­ben ver­letz­te, viel­leicht so­gar be­lei­dig­te und da tra­fen sich mit mir und ihr plötz­lich zwei sich ge­gen­sei­tig hoch­schau­keln­de Cho­le­ri­ker auf­ein­an­der, wäh­rend U. da­ne­ben saß und hilf­los ver­such­te, zu be­schwich­ti­gen. Wie ge­sagt, ich weiß nicht mehr ge­nau, wann das war, aber es war an ei­nem so­ge­nann­ten Hei­li­gen Abend, am 24.12., nach dem Es­sen, aber ich ha­be jeg­li­che Er­in­ne­rung an die äu­ße­ren Um­stän­de ver­lo­ren. Ich weiß nur noch, was dann ge­schah, sie stand auf, wä­re fast ge­stürzt, denn sie war nicht mehr ganz rü­stig (es muss al­so in der zwei­ten Hälf­te der 80er Jah­re ge­we­sen sein, falls die Er­in­ne­rung rich­tig ist) und lief (!) in Rich­tung Ba­de­zim­mer, wo­bei wir uns nichts da­bei dach­ten und uns in un­se­re Zim­mer zer­streu­ten. Ich war wü­tend, denn ich mag es nicht, wenn je­mand ei­nem Streit, sei er auch noch so hart, da­von­läuft, sich ent­zieht und ich hät­te lie­ber noch ei­ni­ge Schimpf­ka­no­na­den mei­ner Mut­ter ge­hört, auf die ich dann hät­te re­agie­ren kön­nen.

Als sie dann nach ei­ner ge­wis­sen Zeit nicht aus dem Ba­de­zim­mer kam, be­gann ich un­ru­hig zu wer­den, ging zum Ba­de­zim­mer und sah Licht un­ter der Tür. Ich frag­te sie, ob al­les okay ist und ich hör­te ein Schluch­zen, was sehr un­ge­wöhn­lich für mei­ne Mut­ter war und sie stam­mel­te et­was von »kei­nen Sinn mehr ma­chen« und »Le­ben neh­men« und ich dach­te an Tan­te Il­se, die gar nicht mei­ne Tan­te war, son­dern ih­re be­ste Freun­din, die vor sehr vie­len Jah­ren beim zwei­ten Ver­such wäh­rend ih­res Kur­auf­ent­hal­tes Selbst­mord ver­übt hat­te (ich nann­te es in­zwi­schen Frei­tod) und ich dach­te an die Re­ak­ti­on mei­ner Mut­ter dar­auf (das ist ei­ne an­de­re Ge­schich­te) und ih­re Vor­wür­fe, nicht auf sie ge­hört zu ha­ben, was aber fast un­mög­li­che Fol­gen ge­habt hät­te. Ich ging zu U. und nun re­de­ten wir bei­de auf sie ein und ich ha­be auch voll­stän­dig die Er­in­ne­rung dar­an ver­lo­ren, was wir al­les so ge­sagt ha­ben und was sie er­wi­der­te, sie hob zu­wei­len ih­re Stim­me an, schrie fast, auch et­was, was sie ganz sel­ten mach­te, ei­gent­lich nie und da war sie nun im Ba­de­zim­mer und wir da­vor und ich dach­te an die Ra­sier­klin­gen, die dort her­um la­gen und fast in­stink­tiv dach­te ich dar­an, was wohl pas­sier­te, wenn sie sich dort die Puls­adern auf­schnei­den soll­te, dach­te an das vie­le Blut und dar­an, dass ich kein Blut in grö­ße­ren Men­gen se­hen kann, vor al­lem kein flie­ßen­des Blut oder Blut in La­chen, we­der ei­ge­nes noch frem­des, und ich über­leg­te gleich­zei­tig, ob ich die Tür ein­tre­ten soll­te und dann ver­warf ich das wie­der, weil ich fürch­te­te, es kommt zu ei­ner kör­per­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung mit mei­ner Mut­ter, ich oder U., oder bei­de müss­ten sie vor ir­gend­et­was be­wah­ren, mit ihr rin­gen oder gar kämp­fen. Und plötz­lich hat­te ich auch Be­den­ken, weil man si­cher­lich nie­man­den am 24.12. fin­den wird, der ei­nem dann die Tür re­pa­riert und ich be­fürch­te­te, wenn man die Tür ein­tritt, bricht der Tür­sturz ein, denn das Ge­bälk war alt. Als ich dies ab­wog er­kann­te ich, dass die Tür nach in­nen auf­geht, d. h. wenn wir die Tür ein­tre­ten wür­den, könn­te mei­ne Mut­ter – je nach Stand­ort im Bad – ver­letzt wer­den, aber viel­leicht lag sie auch schon in ih­rem Blut und so horch­ten wir, weil sie nichts mehr sag­te und kei­ne Lau­te mehr zu uns dran­gen und wir häm­mer­ten auf die Tür, rie­fen sie an, ap­pel­lier­ten an – tja: was?, und U. schlug vor, wir soll­ten viel­leicht L. an­ru­fen, aber in­zwi­schen war es 22 Uhr, der Co­lum­bo-Film soll­te in ei­ner hal­ben Stun­de be­gin­nen, aber wir kön­nen doch um die­se Zeit am 24.12. nicht ei­nen Nach­barn stö­ren, es ist doch Weih­nach­ten und dann die Bla­ma­ge und das ging über Stun­den und wir rie­fen durch die Tür, ich hoff­te, ir­gend­wann wer­de viel­leicht je­mand von den Nach­barn die Po­li­zei we­gen der Ru­he­stö­rung an­ru­fen, war­um nicht, und ich rief, dass wir die Po­li­zei an­ru­fen wer­den und dann sag­te mei­ne Mut­ter, das wir uns das spa­ren kön­nen und ein­fach ge­hen soll­ten, nein, sie sag­te »ab­hau­en«, nicht »ge­hen«. »Ab­hau­en« soll­ten wir, »haut doch ab« rief sie, »lasst mich in Ru­he« und ich über­leg­te, was wir ma­chen soll­ten, wenn wir auf Toi­let­te muss­ten und dann pin­kel­te ich auch schon in den Spül­stein und ich dach­te, das ist viel­leicht ein Weih­nachts­fest und ver­fluch­te mei­ne Be­mer­kung, die mir wirk­lich nicht mehr ein­fällt, denn es ist ja ge­lo­gen, dass man sol­che Mo­men­te be­son­ders klar be­hält, man ver­gisst sie, weil sie ei­nem pein­lich sind und all die Dich­ter, die über die­se Mo­men­te schrei­ben und phan­ta­sie­ren, die­se Dich­ter lü­gen al­le aber das macht nichts, weil es ja tat­säch­lich so hät­te sein kön­nen.

Dö­send in der Nä­he des Ba­de­zim­mers sit­zend ging ir­gend­wann kurz nach Mit­ter­nacht die Tür auf, ein Schloss­klap­pern, was in An­be­tracht der Stil­le im Raum ein lau­tes Ge­räusch war. Mei­ne Mut­ter kam her­aus, wort­los, wie­der wie sonst leicht äch­zend ob der An­strengung des Ge­hens. Nie­mand sag­te ein Wort. Sie war fast schon an der Tür ih­res Schaf­zim­mers als ich frug, ob al­les okay sei, was sie mit ei­nem schnip­pisch-stöh­nen­den »Ja« be­ant­wor­te­te, be­vor sie dann die Tü­re ve­he­ment schloss, die aber nicht ins Schloss knall­te. Und ich über­leg­te kurz, ob im Schlaf­zim­mer nicht noch ir­gend­et­was lä­ge, was ei­nen Selbst­mord (Frei­tod) er­mög­li­che, ich kam auf die Na­gel­sche­re, die zu­meist in der Schub­la­de des Nacht­tisch­chens lag, aber ich sag­te U. nichts, ich war der­art er­schöpft, dass ich un­ge­ach­tet der Auf­re­gung prak­tisch so­fort ein­schlief als ich mich zu Bett leg­te.

Sie hat­te sich we­der um­ge­bracht noch es ver­sucht und zwei Jah­re spä­ter konn­ten wir sie dar­an er­in­nern und sie seufz­te und nach dem Weg­blei­ben mei­nes Va­ters vie­le Jah­re vor­her hat­te nun die­ses Er­leb­nis Weih­nach­ten für mich end­gül­tig er­le­digt.


Die­ser Text ist neu und ei­ne klei­ne Aus­schmückung.