Ein silbernes Fast-Quadrat und grau-silberfarbene, vertiefte Buchstaben auf weißem Grund: Selten hat ein Cover die Stimmung eines Buches derart kongenial bebildert. Denn derart aseptisch erscheint das Leben in der fiktiv-utopischen Stadt CobyCounty in Leif Randts Roman.
Tatsächlich heißt es auf den Titelseiten noch »Coby County« – im Buch gibt es dann überall diese schicken Binnenmajuskeln, vom Kuchenbringdienst BakeryExpress über das Museum ConyCountyArthouse, einer ehemaligen Fabrik (Coleman&Aura), den Hügeln der Stadt (ColemanHills) und der Eisenbahngesellschaft CC.MetroExpress. Und natürlich heißt es jetzt CobyCounty, dieser im geografischen Niemandsland angesiedelte Ort, weder USA noch Europa. Ein Ort, in dem der Frühling Ende Februar beginnt und eine ganz spezielle Jahreszeit zu sein scheint – warm, mit vielen Touristen und Unmengen von Partys und Veranstaltungen.
CobyCounty erscheint zunächst eine Mischung aus Thomas Morus’ Utopia, einem durchgestylten, modernen Atlantis und verkappter Ökodiktatur. Die Energieversorgung ist autark und ökologisch korrekt – mit Solar- und Wind- und Wasserkraft. Die politischen Verhältnisse sind stabil; die Bevölkerung ist mindestens oberer Mittelstand. Die Dienstleistungen funktionieren perfekt. Alle sind schlank, soft gelaunt und verhalten sich smart. Man ist qualitativ hochwertig angezogen. Wims zeitweise enorm moralische Stimmung wäre – nach außen gekehrt – schon die Ausnahme. Man gibt sich gesundheitsbewusst: Auf Partys gibt es Fenchelcremesuppe (anschließend badet man zusammen), man trinkt Apfelsaftschorle oder Tee mit fettarmer Milch und bestellt eine Ruccolapizza mit Cocktailtomaten. Nicht ganz passend ist die Liebe zum selbstgemachten Espresso und – einer der zahlreichen Running Gag[s] – der geliebte Eistee. Im Untergrund (oder zu Hause) wird dann reichlich Alkohol getrunken. Aber warum tragen so viele Personen skandinavisch klingende Nachnamen?
Wie zum Beispiel der Ich-Erzähler, Wim Endersson. Er ist 26, seine Mutter 65. Das Buch beginnt mit ihrer Geburtstagsfeier. Sie ist Hotelmanagerin und lebt mit dem Architekten Tom zusammen; ihr Mann, Wims Vater, hatte CobyCounty verlassen, nachdem ein Film von ihm beim Publikum durchgefallen war. Überraschenderweise ist er nun zurückgekommen – mit seiner 34jährigen neuen Freundin. Wim ist in einer Literaturagentur beschäftigt, sucht junge, zeitgenössische Talente und redigiert ihre Texte. Zu Beginn ist er mit Carla befreundet. Wims Freund Wesley verläßt CobyCounty, um dann einige Tage später zurückzukommen und sich seiner Zuneigung zu Frank gewiss zu sein. Carla beendet die Beziehung mit Wim per Shortmessage. Später lernt er eine Keyboardverkäuferin kennen, die ebenfalls Carla heißt. Er nennt sie CarlaZwei. Dazwischen gibt es diverse Frühlingsfeste, an denen auch der Dokumentarfilm, der dem Buch den Titel gegeben hat, aufgeführt wird, eine Bürgermeisterwahl und eine Unwetterwarnung. Und scheinbar ist am Schluss auch alles überstanden.
Was zunächst belanglos klingt, wird in einem Tonfall zwischen Thomas Meinecke und Wilhelm Genazino erzählt. Dabei fällt die gefühlskontrollierte, fast gestelzte Sprache Wims auf, die mit Anglizismen und Relativsätzen gespickt ist. Die Menschen leben und erleben sich stark sozialkontrolliert, wie exemplarisch das küssende Paar zeigt, das Wim am Rande einer Party betrachtet:
- Sie scheinen sich gerade kennenzulernen, wirken beide betrunken und haben die meiste Zeit die Augen geschlossen. Sie wissen, dass sie ein Bild abgeben. Bei einigen seiner Bewegungen, wenn die Hand zum Beispiel schon ihren Po streift, weicht sie zurück. Dann schauen sie sich kurz an. Er simuliert einen weichen Blick, den er sich im betrunkenen Zustand vielleicht sogar selbst glaubt, und sie genießt seinen leicht gelogenen Ausdruck, muss aber stets ihre Grenzen markieren. So wahren beide ihr Gesicht und können am nächsten Tag von einem Erfolg erzählen, von einem sinnlichen Erlebnis, aus dem sie jeweils als Gewinner hervorgegangen sind. Er hat sie gekriegt und sie hat klargemacht, dass sie nicht so leicht zu kriegen war.
Das nimmt gelegentlich komische Züge an, etwa wenn Wim Carla nicht zurückküsst und sich mit ich war kurz in Gedanken entschuldigt. Oder als Wim mit einer Frau tanzt und ihr testweise an den Po greift, und relativ positiv überrascht ist. Die Begründung des Chefs Wim zu beurlauben ist für ihn völlig griffig und richtig. Der Sex mit CarlaZwei ist nicht ruppig wie am Anfang mit Carla I, sondern eckig und sie macht nichts besonders gut, was Wim aber wahnsinnig recht ist, denn auch ihm gelingt nichts optimal.
Das Leben in CobyCounty ist vernünftig, rational und geplant; man legt Wert darauf, ein in jeder Situation beherrschtes Verhalten an den Tag zu legen. So ist auch die Wahlbeteiligung immer bei rd. 96%; niemand will sich eine Blöße geben. Und sogar das Übergeben nach übermäßigem Alkoholgenuss oder Völlerei für den nächsten Tag wird entsprechend im voraus terminiert. Kotzen nach Ansage, sozusagen.
Aber es gibt Risse in dieser schönen Welt. Sie deuten sich zunächst nur sehr zaghaft mit den Veränderungen in Wims Privatleben an. Nach Carlas Trennungs-SMS bekommt er eine leicht abgestandene Melancholie. Dann geht die Bürgermeisterwahl anders aus als gedacht – obwohl niemand den siegreichen Herausforderer gewählt zu haben scheint. Schließlich brennt es in einem Außenbezirk und am Ende gibt es die Evakuierung infolge einer Unwetter- bzw. Sturmwarnung. Wim bleibt mit seiner Carla und einigen anderen und wie durch ein Wunder scheint nichts zu passieren. Dennoch: Die Furchtlosigkeit, mit der Wim am Ende mit CarlaZwei am Strand wandelt, wirkt aufgesetzt; irgendwie hat man das Gefühl, eine Katastrophe pompejanischen Ausmaßes ist nicht mehr weit.
So nebulös wie Wims Sprache und so pseudo-cool wie sein Verhalten (und das der anderen), so vage kommt auch Randts Prosa daher. Insofern soll hier etwas »abgebildet« werden. Nachteilig ist dabei, dass die Hauptfigur ein intellektuell eher anspruchsloser Junge ist, der als von Randt als eine Art »CobyCounty-Korrespondent« mit leicht narzisstischer Persönlichkeitsstörung ausgestattet wurde. Eine Entwicklung findet nicht statt und ist auch nicht vorgesehen. Auch Wesley, Wims Freund, der scheinbar mehr Informationen zu haben scheint, bleibt seltsam entrückt. Sein raunender Befund, der Zenit von CobyCounty sei längst überschritten, bleibt bloße Behauptung.
Leif Randt ist ein Meister der Andeutung. Es wimmelt von Interpretationsmöglichkeiten, die manchmal listig in der Schwebe gehalten werden und beim Leser Assoziationen hervorrufen. So bieten sich durchaus Parallelen zu einigen utopischen bzw. dystopischen Romanen und Szenarien an. Randt gelingt es, einen suggestiven Sog hervorzubringen. Geschickt verstärkt wird dies durch den Kursivdruck aller wörtlichen Rede (und von Wims Selbstzitaten), womit auch optisch ein Kontrapunkt zur schönen neuen Welt gesetzt werden soll.
»Schimmernder Dunst über Coby County« erzeugt durchaus eine gewisse Spannung. Und man findet einige hübsche Bilder, etwa die der Obstkorbkinder (nach dem Motto: Als es nach der Geburt noch Obstkörbe gab) oder das Besteckklappern als einziges Geräusch auf einer Party, auf der es kurz danach zum Eklat kommt. Aber Leif Randts Kunstfertigkeit, sein subtiles (gelegentlich doch ein bisschen gespreiztes) Spiel mit diversen (literarischen) Anspielungen wird dem Buch dann doch zum Verhängnis, weil letztlich alles verschwommen und indifferent bleibt und der Leser allzu leicht in Gleichgültigkeit flüchten kann. Wer dabei bleibt, erhält am Ende statt einer anregenden Kopfmassage nur ein paar Klapse auf den Hinterkopf.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch. Hierbei zwischen der im Buch kursiv gesetzten wörtlichen Rede der Protagonisten und den Erzählungen der Hauptfigur nicht unterschieden.
Mmmh. Da war ich nach der Klagenfurt-Lesung eigentlich richtig neugierig geworden auf das Buch – vielleicht wegen den vielen hübschen Effekten, denen an Suggestion? Ich hatte angenommen, hinter soviel Oberfläche würde sich dann schon etwas hervorarbeiten müssen (wenn auch nichts Pompejanisches).
Oder kann es sein, dass das erste Kapitel, so belassen, eine ganz gute Geschichte gewesen wäre – ohne was danach? Jedenfalls so, wie jetzt zusammengefasst, selber anscheinend eine Art Stilübungsergebnis seines Hervorbringungsortes, würde mich das Buch doch nicht weiter interessieren....
Der Klagenfurttext ist aus den ersten Kapiteln zusammengewürfelt. Tatsächlich wirkte er frischer als das Buch über die lange Strecke. Eben weil es eine gewisse Erwartungshaltung gibt. Ein typischer Fall dafür, dass die Kurzform besser ist.
Ich bin neugierig auf dieses Buch geworden. Nicht nur, weil mir als »Science Fiction-Fan« utopische bzw. dystopische Texte liegen, sondern auch, weil ich Ansätze in Richtung CobyCounty wirklich kenne.
Einiges kommt mir aus der »schwedischen Provinz« bekannt vor, was auch die skandinavisch klingenden Nachnamen erklären könnte: man legt Wert darauf, ein in jeder Situation beherrschtes Verhalten an den Tag zu legen, niemand will sich eine Blöße geben. (Oder, wie es meine damalige schwedische Lebensgefährtin ausdrückte: es ist so, dass die Leute eine unsichtbare Plastik-Blase um sich tragen würden.)
Andere Ansätze in Richtung CobyCountry erkenne ich im »bürgerlich-grünen« Milieu, das sich z. B. hier in Hamburg sehr deutlich entwickelt hat. Kreuzt man »schwedische Provinz« mit »hamburgischen Ökospiessern«, dann kommt man so einer »keimfreien«, öko-korrekten und bis ins Letzte durchorganisierten Utopie schon recht nahe.
(Wobei die relative Nähe Hamburgs zu Nordeuropa und die relative Nähe der Hamburger Mentalität, zumindest in bürgerlichen und bürgerliche sein wollenden Kreisen, zu skandinavischen Verhaltensnormen, diese Verbindung nahe legt. Meine Vermutung: CobyCountry wurde von norddeutschen Großstädtern und skandinavischen Provinzlern gegründet, die vielen Anglizismen erklären sich daher, dass die Gründer auf Englisch als »gemeinsamer Fremdsprache« zurückgriffen.)
Allerdings wird meine Neugier auf diese interessante, »greifbare« Utopie durch die Befürchtung gedämpft, mich durch einen Text mit zu vielen Durchhängern und zu wenigen klaren Aussagen (von der gute Utopien / Dystopien meiner Ansicht nach leben) kämpfen zu müssen.
Genau das Dystopische hätte mich wohl auch interessiert – aber eben die (natürlich unausbleiblichen, nie ganz auszublendenden) Erklärungen kommen mir dann eher ungut vor: Bei einer Dytopie wäre es mir eigentlich lieber, wenn sie geistig so weit wie es geht auch entlegen bleibt, ihre »exzentrische Positionalität« (H. Plessner) hält – eine »polyvalente« Distanz erhöht einfach den Verwunderungsfaktor.
Ich war nämlich auch mal Science-Fiction-Leser! Habe aber nach den Büchern von Philip K. Dick damit aufgehört: Diese schienen mir – nicht zuletzt in den Qualitäten ihrer dystopischen Dimension – nicht mehr zu toppen, und alles andere an SF fand ich dann oft nurmehr kindisch.
In diesem Zusammenhang aber noch ein Hinweis auf eine Wiederentdeckung von mir: J.G. Ballard, etwa seine »Die tausend Träume von Stellavista«.
Erzählerisch möglicherweise etwas angestaubt, aber immer noch voller Ideen (die damals, Anfang der 70er geschrieben, als psychedelisch wahrgenommen wurden, aber viel mehr auf etwas reflektierten, von man heute hier und da als »Neuro-Kunst« hören kann – ihre Modernität war und bleibt in gewissem Sinne selber etwas exzentrisch).
UND: Die in Ballards Büchern entwickelten Settings sind wahrhaft dystopisch. (Dafür sind dann die Charaktere etwas herkömmlich und reichen nicht ran.) Man könnte aber bereits an die Heterotopien Foucaults denken. Orte, Posititionen und Perspektivitäten schließen vielfältig an, sind aber auf keine Eindeutigkeit oder schlichte Entsprechung im Realen mehr herunterzubrechen. Sie bleiben distant.
@MartinM
Ja, irgendwo zwischen schwedischer Provinz und Hamburger Ökospiessern – das klingt sehr nach dem Vorbild dieses fiktiven CobyCounty. Geografisch kann es Skandinavien selber nicht sein (CC bekommt an einer Stelle Besuch von europäischen Touristinnen [!] aus Großbritannien, den Beneluxstaaten und vor allem Skandinavien). Der Frühling, der im Februar »ausbricht« spricht für eine Zeit nach einem gravierenden Klimawandel...
Ich selber kenne mich im SF-Genre nicht aus und weiss daher nicht, ob dieses Buch diesen Anspruch erfüllen würde. Durchhänger gibt es eigentlich wenige; man liest es in einem Rutsch durch. Ansätze bietet es einige, aber es bleibt eben ein bisschen unbefriedigend.
@en-passant
Interessanter Tip. Werde ich mir – obwohl nicht unbedingt am SF- und Utopie-/Dystopie-Romanen interessiert – vormerken.
Frühling im Februar könnte auch einfach für einen mediterranen Standort sprechen. Nein, im Ernst: ein klar umrissener geographischer Standort für CobyCounty wäre dem Roman wohl eher abträglich, genau so übrigens wie ein klar umrissenes Datum. Gerade weil er so im wagen, angedeuteten bleibt, wäre eine Angabe wie: »2040, auf den Azoren« tödlich.
Den Tipps von en-passant schließe ich mich voll und ganz an. Auch wenn ich selbst die SF nie aufgegeben habe – obwohl ich noch keinen »zweiten Dick« entdecken konnte.
Die Idee mit den Binnenmajuskeln ist aus den Wikis geklaut. Dort verwendet man sie zur Kennzeichnung eines internen Links (ein Link, der auf eine andere Seite in demselben Wiki verweist).
Bei dem Namen »Thomas Meinecke« klingelte es bei mir. Ich kenne zwar nicht den Schriftsteller, aber einen andere Thomas Meinecke. Das ist ein ganz flotter Bursche... Er läuft Marathon in etwa 2:25. Sorry für diesen Offtopic-Kommentar.