Im Mai 2010 schrieb der österreichische Schriftsteller in einem Essay über seine Hospitation in der Brüsseler EU-Bürokratie über den »Befreiungsschritt, wenn über die Rahmenbedingungen unseres Lebens eben nicht mehr wesentlich durch Volkswahlen abgestimmt wird.« Begründet wird diese »Befreiung« von den Niederungen der Demokratie, weil damit »xenophobe, rassistische, autoritäre Charaktere« keine Berücksichtigung finden würden. Als abschreckendes Beispiel dient u. a. das Europäische Parlament, welches durchaus Mitglieder solcher Parteien beherbergt. Die Idee, xenophobe und rassistische Politikentwürfe mit Sachargumenten zu bekämpfen, scheint bei Menasse nicht aufzukommen – er nimmt die antidemokratische Gesinnung von Teilen der Gesellschaft anscheinend als Fatum an. Er kommt zu dem Schluss, »dass die klassische Demokratie, ein Modell, das im 19. Jahrhunderts zur vernünftigen Organisation von Nationalstaaten entwickelt wurde, nicht einfach auf eine supranationale Union umgelegt werden kann, ja sie behindert. Demokratie setzt den gebildeten Citoyen voraus. Wenn dieser gegen die von Massenmedien organisierten Hetzmassen nicht mehr mehrheitsfähig ist, wird Demokratie gemeingefährlich.« Statt die Bildung des Citoyens hin zum Widerstand gegenüber Hetzkampagnen zu forcierten, wird dieser bequemerweise entmündigt. Freilich alles nur zu seinem Glück, wie Hans Magnus Enzensberger dieses Prinzip treffend charakterisiert: Die Europäische Union gibt sich »erbarmungslos menschenfreundlich. Sie will nur unser Bestes. Wie in gütiger Vormund ist sie besorgt um unsere Gesundheit, unsere Umgangsformen und unsere Moral. Auf keinen Fall rechnet sie damit, daß wir selber wissen, was gut für uns ist; dazu sind wir ihnen in ihren Augen viel zu hilflos und zu unmündig. Deshalb müssen wir gründlich betreut und umerzogen werden.«
In der aktuellen Diskussion um ein Referendum Griechenlands zur EU-Rettungspolitik spiegelt sich in der Mehrheit der deutschen Politik und auch Publizistik diese paternalistische Tyrannei wider: Es dürfe nicht sein, dass 9,9 Millionen wahlberechtige Griechen – bzw. 50% davon – »über den Fortgang der Welt« entscheiden dürften, wie Michael Spreng dies pathetisch ausdrückt. Wie schon seit Monaten, werden allerlei Drohszenarien heraufbeschworen – bis hin zu neuen Kriegen ist alles im Repertoire. Martin Schulz, SPD-Abgeordneter und Vorsitzender der Sozialistischen Fraktion des Europäischen Parlaments, entblödet sich nicht, ein Referendum als »gefährlich« zu bezeichnen. Ich frage mich ob nicht ein Abgeordneter, der ein derart derangiertes Verhältnis zur Demokratie hat, die wirkliche Gefahr darstellt.
Frank Schirrmacher bildet in seinem FAZ-Artikel fast die Ausnahme. Er irrt aber, wenn er schreibt:« Es wird immer klarer, dass das, was Europa im Augenblick erlebt, keine Episode ist, sondern ein Machtkampf zwischen dem Primat des Ökonomischen und dem Primat des Politischen. « Zwar ist es richtig, dass die Panikreaktionen aus der Politik in vorauseilender Ängstlichkeit ob eventueller Kurseinbrüche im globalen Handel zu erklären sind – und die Politik sich dabei einmal mehr zum Gejagten der Finanzwirtschaft degradiert. Tatsächlich haben wir jedoch nicht ein zu wenig an politischem Primat, sondern ein zu viel. Un ein Großteil der Krise ist darauf zurückzuführen, dass entgegen aller ökonomischen Vernunft Länder wie Griechenland und Portugal, aber auch Italien und Spanien mit unbeherrschbaren Geldpaketen in der Eurozone eingesperrt bleiben. Hätte man unideologisch die ökonomischen Daten als Grundlage genommen, wäre man sehr früh auf die Idee gekommen, mindestens Griechenland und Portugal aus der Euro-Zone zu entlassen. Damit hätte man auch den Spekulanten ein Zeichen gegeben. Nicht, um diese Länder zu schädigen, sondern im Gegenteil: Um ihnen mit einer neuen, eigenen Währung Hilfe zu leisten, statt von ihrem Mittelstand Sparrunden abzupressen und die Konjunktur damit abzuwürgen. Wir haben zu wenig volkswirtschaftlichen Verstand in der Politik – nicht zu viel. Ein Auseinanderbrechen der Euro-Zone (EWWU) galt zu lange als politisches Tabu und wurde mit allerlei Drohungen befrachtet, die bei Licht betrachtet, lächerlich sind.
Das Primat der Politik muss dort einsetzen, wo es um Regulierung des Finanzmarktes und um demokratische Legitimation geht. Mit letzterem hatte die EU immer Probleme. Man hat Angst vor dem Europäer, den man in Sonntagsreden beschwört. Diese Angst kann man nicht mit Paternalismus bekämpfen, sondern nur mit Argumenten. Europa muss demokratisch legitimiert werden. Wenn ein, zwei Länder sich dagegen entscheiden, ist das nicht schlimm. Niemand packt dann wieder Stahlhelme aus. Man kann den Anti-Europäern in den nationalen Parlamenten nur mit Legitimation entgegentreten. Das ist ein schwieriges Unterfangen, weil es mehr verlangt als wohlfeiles Feiertagsgerede und den Bau von Wolkenkuckucksheimen. Es bedarf Überzeugungskraft. Und es bedarf einer Überarbeitung der antidemokratischen Institutionsstrukturen der Europäischen Union.
Die EU hat Probleme mit der demokratischen Legitimation? Wer ist hier überhaupt mit EU gemeint? Die Kommissare, das Europaparlament oder die nationalen Regierungen? Viele Fragen. Wer hat Angst vor dem Europäer? Wiederum die nationalen Regierungen, das Europaparlament?
Es gibt einen Konstruktionfehler in der Eurozone. Man hätte zentrale Instanzen für die Wirtschafts- und die Finanzpolitik als Voraussetzung für den Euro schaffen müssen, der Maastrichtvertrag ist nicht ausreichend.
Dann berücksichtigen Sie nicht ausreichend, dass bei Mandatsverteilung nach Bevölkeringszahlen die Angst bei vielen Nachbarn vor einem Übergewicht der großen Staaten gegen die kleinen bevölkerungschwachen Nationen besteht. Schon hier bekommt die demokratische Legitimation einen Knick.
Die Forderung nach Regulierung der Finanzmärkte ‑was bedeutet das konkret?- , wird allenthalben beschworen, ohne dass genau gesagt wird, wie das in der Globalisierung vonstatten gehen soll. Man bekommt ja noch nicht einmal die Ratingagenturen in den Griff.
Ich halte das ganze Thema für viel zu komplex, als dass es in einem kurzen Beitrag hinreichend präsentiert werden könnte. Dies bestätigen doch die Reaktionen auf die Ankündigung des griechischen Ministerpräsidenten, ein Referendum über die Sparvorschläge abhalten zu lassen. Die Börse und die Finanzwelt sowie die Regierungen reagieren geschockt, obwohl dies doch die einzig demokratisch legitimierte Abstimmung ist.
Wenn diese Abstimmung kritisiert wird, welche Vorstellung haben die Kritiker dann eigentlich von der Demokratie und der Macht des Volkes?
Ja, ich bekenne mich schuldig, in einem zweiseitigen Beitrag nicht die Probleme der EU und des Finanzmarktes (wieso gibt es hier eigentlich immer einen Plural?) umfassend dargestellt zu haben. Tatsächlich gestatte ich mir, nicht immer von vorne anzufangen und/oder nur Teilaspekte zu formulieren. Neben den gesetzten Links kann ich noch hierauf und hierauf verweisen.
Desweiteren bekräftige ich: Das Projekt EU hat ein Legitimationsproblem, dass sich in einer abnehmenden Akzeptanz zeigt. Und zwar sowohl was die Institutionen und deren Interaktionen untereinander angeht als auch in den Bevölkerungen der EU-Staaten. Zu den Problemen der Institutionen kann der Menasse-Link helfen – zu Beginn erklärt er das recht anschaulich. Das war bevor seine Gehirnwäsche begonnen hatte.
Im übrigen halte ich eine Diskussion um die Fehler des Maastricht-Vertrages für relativ fruchtlos. Es müsste gelten, dieses Vertragswerk in den Orkus zu befördern und durch ein neues, robustes, ökonomisch und sozial gestaltetes Werk zu ersetzen. Dies müsste dann in Volksabstimmungen legitimiert werden.
Zugegeben, man konnte meinen Beitrag als Kritik an der Darstellung lesen, man hätte aber auch auf die genannten Punkte eingehen und sich das ironische mea culpa schenken können. Sei‘s drum. Mir ging es lediglich darum, die unzulänglichen Verallgemeinerungen zu hinterfragen bzw. zu kritisieren, so wie es doch in dem Beitrag zum Journalismus, Stichwort Sprachkompetenz, gefordert wurde.
In der Tat, am hoffentlich gelungenen Abschluss neuer Verträge und ernsthafter Regulierungen müssen Volksentscheide stehen. Aber man soll sich nichts vormachen, es können dabei auch Ergebnisse herauskommen, die viele kritische Zeitgenossen fassungslos machen könnten. Die Mehrheit muss nicht vernünftig entscheiden. Ich bin eher pessimistisch.
Die Mehrheit muss nicht vernünftig entscheiden.
Dieser Satz – dem ich im Grunde zustimme – zeigt aber eines: nämlich, dass es eine »vernünftige« Entscheidung gibt. Zugespitzt formuliert: Es gibt eine »richtige« Entscheidung (und eine »falsche«).
Aber worauf basiert eine Demokratie modernen Zuschnitts: Auf die Mehrheit. Ihr wird uneingeschränkt vertraut. Parlamentarische Demokratien haben Kontrollmechanismen eingerichtet, um Mehrheiten ggf. zu kontrollieren. Dennoch gilt: die Mehrheit hat recht.
Man mag das im Einzelfall kritisieren, aber es ist gängige Doktrin unseres politischen Zusammenlebens. Man hat sich – wie es so schön heisst – der Mehrheit zu beugen. Meinungen und Urteile müssen im Vorfeld so geformt werden, dass eine »vernünftige« Entscheidung herauskommt. Hierfür gibt es den Austausch der Argumente – den Wahlkampf.
In den Lesermeinungen zum FAZ-Artikel entdeckt man viele Ressentiments gegen demokratische Entscheidungen. Darunter auch Rekurse auf die deutsche Geschichte, d. h. die Weimarer Republik. Diese Einschübe sind in doppelter Hinsicht fatal: Zum einen verkennen sie, dass die Demokratie in den 1920er Jahren weder in der deutschen Gesellschaft noch bei den Eliten »angekommen« war. Die demokratische Struktur wurde von den Feinden der Demokratie bestimmt – von links und von rechts. Die gemäßigten Parteien waren weder willig noch in der Lage, sich dieser Entwicklung entgegen zu stemmen. Sie haben versäumt, die Demokratie zu retten, weil sie nicht wussten, wie kostbar das war, was sie hatten. Zum zweiten ist diese Allegorie falsch, weil sie per se die Bevölkerung als amorphe, dumpfe Masse versteht, die eigentlich nur »Bild«-Zeitung liest, Fußball guckt und sich um neue Handys kümmert. Das erinnert fatal an das England des 19. Jahrhunderts, als man geschickt auf Demokratisierungsmaßnahmen regaierte. Selbst wenn dem so wäre, müssen Parteien dafür sorgen, dass das Interesse für die politischen Kernthemen unserer Gesellschaft geschult bleiben. Ansonsten bauen sich mit der Zeit Mauern auf; das Bekenntnis zur Demokratie verkommt zur hohlen Phrase.
In Griechenland entlud sich das Unbehagen der Bevölkerung in Straßenschlachten und Generalstreiks. Auch wenn die Politik zu Griechenlands Finanzkrise richtig wäre – ohne die Legitimation der Bevölkerung macht sie keinen Sinn, weil ständig neue Auseinandersetzungen drohen. Ein besonders schäbiges Bild gibt der griechische Oppositionsführer ab, der gegen die Papandreou-Regierung stimmt, obwohl er, käme es zu Neuwahlen und er würde gewinnen, auch diese Politik machen würde.
Man kann dermaßen einschneidende politische Maßnahmen nicht ohne Akzept durch die Bevölkerung durchziehen. Diese hat Gründe für ihre Skepsis. Die Reichen konnten längst ihre Vermögen ins Ausland bringen – hier hat die Regierung jämmerlich versagt. Man kann aber nicht über die Köpfe von fast 10 Millionen Menschen regieren. Es müssen Argumente her, die Mehrheit auf die »richtige« Linie umzustimmen. Wenn dies nicht gelingt werden die Griechen die Konsequenzen zu tragen haben. Aber das sollen die bitte selber entscheiden. Demokratie bedeutet auch das Recht auf eine »falsche« Entscheidung.
Ich meine mich erinnern zu können, dass Sie gelegentlich gegen die direkte Demokratie votierten. Wo verläuft die Grenze zwischen repräsentativer und direkter Demokratie? Bei einem Volksentscheid über die Todesstrafe wird wohl vielen mulmig, sehen in der EU-Kommission die repräsentative Demokratie aber überspannt. Wo verläuft die Grenze? Und wer kann das entscheiden? Mein Gefühl billigt den Griechen das Recht zu, über ihre Zukunft zu entscheiden. Viele der wesentlichen politischen Fragen der letzten Jahre wurden in Deutschland aber konsequent gegen den »Volkswillen« entschieden.
Man hatte vor der Osterweiterung versäumt das Haus zu bestellen, bevor man neue Mieter geladen hatte. Wäre der Begriff der Balkanisierung Europas, vor allem mit der Zukunftsperspektive, noch opportun?
Und um Menasse zu widersprechen: die Iren haben sich nie beschwert, plötzlich billige Kredite zu bekommen und als Dankeschön die Unternehmenssteuern auf Dumpingniveau zu bringen, viele Griechen habe gerne ein sechzehntes Monatsgehalt und Ausgleichszahlungen für zu warme Autos mit billigem Geld erhalten. Das auszusprechen macht noch keinen Nationalisten. Das Schlimme ist, dass wieder die Folgen zum größten Teil von den Falschen getragen werden müssen und kein Korrektiv vorhanden ist, dies zu verhindern.
@Peter
Es ist tatsächlich nicht so, dass ich ein glühender Anhänger der direkten Demokratie bin. Es gibt aber Entscheidungen, die derart richtungsweisend sind, dass sie eine breite Legitimation brauchen. Das kann auch mit der repräsentativen Demokratie funktionieren – ich denke da an 1972, als die Bundestagswahl praktisch zur Abstimmung über Brandts Ostpolitik wurde.
Ich halte es durchaus für problematisch, jede Entscheidung direkt legitimieren zu lassen. So ist es fast unmöglich, einen Haushalt zur Volksabstimmung zu stellen. Und gibt es auch andere komplexe Gesetzesvorhaben. Natürlich ist auch der Lissabon-Vertrag komplex gewesen – und dennoch hätte es aufgrund der Wichtigkeit zu einer umfassenden, EU-weiten Abstimmung hierüber kommen müssen. Ich stelle mal die These auf, dass ein Großteil der Ablehnung in Ländern wie Frankreich und den Niederlanden (vielleicht sogar Irlands auch) auf die Tatsache zurückzuführen war, dass man generell so wenig Mitsprache über das Projekt EU hat. Da wollte man es »denen« einfach mal zeigen. Der Umgang mit dem Resultat ist ja fatal: Abgesehen von kleineren Änderungen wurde einfach so lange abgestimmt, bis es das »richtige« Ergebnis gab. Demokratie sieht anders aus.
Ich halte auch Abstimmungen über emotional besetzte Themen nicht für per se schwierig. Dabei gilt es einfach mit Argumenten um die Stimmen zu werben, statt heilige Sonntagsreden zu halten, die niemanden interessieren. Ein in Volksabstimmungen getroffenes Votum hat eine grössere Legitimation. Problematisch könnte sein, dass bei knappen Entscheidungen Neuauflagen drohen könnten und in gewissen Zyklen immer wieder abgestimmt werden muss. Themen können so zu Dauerbrennern werden. Was sie aber ohne entsprechende Legitimation auch sein können.
Es war ja eines der Versprechen von Rot-Grün zuerst die bestehende EU der 15 zu festigen und dann erst neue Kandidaten aufzunehmen. Es wurde wohl in satter Unkenntnis bestehender Verträge und Zusagen getroffen: in Wirklichkeit war der Zug zur Osterweiterung längst abgefahren. Die Regierung Kohl hatte die Zusagen getroffen – es konnten nur noch Nuancen korrigiert werden. Und als Fischer Außenminister war, konnte es dann gar nicht mehr schnell genug gehen. Seine »Visionen« hat er dann schon als »Privatmann« geäußert.
Meine Frage war, wo die Grenze ist und vor allem, wer das entscheidet. Wenn man es der Politik überlässt, welches die abstimmungswürdigen Fragen sind, wird es wohl viele Begründungen geben, aber wenige gute. Oder sollte es vielleicht ein Pendant zum Verfassungsgericht geben, dass entscheidet, welche Frage basal genug ist, um vom Volk direkt entschieden zu werden.
Mir fällt da z.B. die Frage nach den zweigliedrigen Krankenkassen ein. Das System ist ganz offensichtlich nur zum Vorteil einer Minderheit und hätte wohl in einer Abstimmung keine Chance. Wäre das z.B. eine Frage, die man dem Volk stellen sollte (anstatt der Bauart eines Bahnhofs)? Oder erst, wenn es um die Abgabe von Souveränitätsrechten geht?
Wenn ich im EU-Parlament auf die rumänische und bulgarische Delegation schaue, ist meine frühere Europaunterstützung eher gedämpft. Unsere Geschicke z.B. in den Händen eines irrlichternden Seehofers zu sehen, ist schon unangenehm, aber in Zukunft die Vertreter Mazedoniens, Serbiens, der Türkei, der Ukraine und eventuell noch Weißrusslands als Teil des Souveräns anzusehen? Diese Perspektive macht nicht euphorisch.
@Peter
Die Frage, wann eine Entscheidung so wichtig ist, dass sie dem ganzen Volk vorgelegt wird, ist nicht einfach zu beantworten. Meiner Meinung nach sollten wir uns zunächst einmal lösen zu glauben, es ginge immer nur um moralische Entscheidungen. Direkte Demokratien zeigen, dass dies eigentlich kaum der Fall ist. Zunächst entwickelt die Politik einen Entwurf zu einem Projekt oder einfach nur ein Gesetz. Dies wird dann zur Abstimmung gestellt. Man muss das nicht immer tun. Vielleicht schätzt man ab, ob dies von einer breiten Bevölkerung getragen wird oder nicht. Im vorliegenden Fall rebellierten die Griechen mit diversen Generalstreiks und tumultähnlichen Auseinandersetzungen. Selbst wenn die Opposition diesen Kurs Papandreous mitgetragen hätte (sie treibt ein innenpolitisches Machtspiel), muss hier klar sein, dass die Politik einer Legitimation bedarf.
Wie dies genau zu organisieren ist, weiss ich nicht. Ob in Deutschland das Verfassungsgericht so etwas »anweisen« kann, zweifle ich einmal an. Man könnte im Grundgesetz einen Passus einbringen, der langfristige und essentielle Entscheidungen zu EU-Themen vom plebiszitären Votum abhängig macht (man könnte es mit einem Quorum verbinden). Wenn man dauerhaft Innenpolitisches in direkter Demokratie zur Abstimmung stellen will, kommt man um eine Neuorganisation des demokratischen Gemeinwesens nicht herum. Der Bundesrat als Länderkammer und Parlaments-Kontrollorgan ist wohl ein bisschen obsolet geworden und sollte durch eine anders strukturierte Zweite Kammer ersetzt werden. Hier könnten beispielsweise auch Entscheidungen über plebiszitäre Elemente verankert werden.
Was mich am meisten erstaunt ist, dass die Politik ihr »Europa« in den höchsten Tönen lobt und preist – dabei aber gleichzeitig eine fast panische Angst vor dem Urteil der Bevölkerung hierüber hat. Die Verdienste der Europäischen Union sind unzweifelhaft – aber jegliche Kritik beispielsweise an den Institutionen wird sofort mit »Europaskepsis« denunziert. Damit treibt man ungewollt den Anhängern sogenannter »Rechtspopulisten« zusätzliche Wähler in die Arme. Indem die EU, besser: diese Form der EU als sakrosankt betrachtet wird, dürfte sie irgendwann das Schicksal jeder Oligarchie erleiden: sie wird hinweggefegt werden.
Es geht nicht nur um moralische Fragen (speziell Souveränitätsfragen sollten nie ohne Volksentscheid beantwortet werden), aber gerade diese Fragen nach Weltanschauung und Gerechtigkeit sollten durch das Korrektiv Volksentscheid abschließend behandelt werden.
Die Begründung für eine repräsentative Demokratie ist, die Entscheidungen in die Hände von Fachleuten bzw. Organisatoren des Fachwissens zu legen, denen man sein Vertrauen schenkt. Abgesehen davon, dass die Fachleute heute vielfach von externen Lobbygruppen gestellt werden, sind gerade die moralischen Fragen die, wo nicht unbedingt die Sachkenntnis gefragt ist, sondern die Korrektur von Interessenskonflikten.
Das von mir genannte Beispiel ist dabei exemplarisch. Die demokratisch gewollte Lösung differiert sicherlich von dem durch nichts als Partikularinteressen gerechtfertigtem Status Quo. Eine Frage, bei der die Sachkompetenz nur für die Nebelkerzen der Gesundheitsindustrie nötig wäre. Viel schwieriger ist z.B. die Frage nach der Kernkraft, da die nötige Sachkenntnis über elektrische Netze einfach nicht vorhanden ist. Was für einen Blödsinn ich im letzten Jahr dazu gehört habe, geht auf keine Kuhhaut.
Und, was wäre eigentlich falsch daran, wenn eine große Mehrheit für die Todesstrafe wäre, dies auch zuzulassen. Ich bin wohlgemerkt entschieden dagegen, aber Demokratie nach Gutsherrenart macht sich selbst obsolet. Die Abwägung, welche Themen geeignet sind, per Volksentscheid entschieden zu werden, ist also zumindest sehr schwierig. Wie Sie schon schreiben, wäre dies alles einfacher, hätten wir das Ideal des mündigen Citoyens. Aber da beißt sich die Katze schon in den Schwanz, da sich dieser Zustand offensichtlich nicht von selbst einstellt.
Ich glaube, dass es der Mehrheit der Bürger möglich ist, sich in politische Themen einzuarbeiten (sachbezogen), Argumente zu entwickeln und eine begründete Entscheidung für oder gegen etwas zu fällen. Dem stehen selbstverständlich bestimmte Faktoren entgegen: Interesse, Zeit, Zugänglichkeit von Information, persönliche Präferenzen und natürlich hängt das alles mit der Situation zusammen in der man ist, wie sie einen persönlich betrifft, usw.
Was wohl kaum jemand gelingen wird, ist zu allen politischen Themen eine gut begründete Ansicht zu haben. Aber vielleicht lässt sich durch eine geeignete Themenwahl eine gewisse Regelmäßigkeit – hier wäre auch ein selbstorganisatorischer Beitrag der Bürger wichtig – und kompetente Beteiligung »anregen«?
(Natürlich nicht, in dem man versprochene Referenden wieder absagt oder sie als Mittel der politischen Taktik verwendet.)
PS: Kommentar von Habermas zu Schirrmachers Artikel.
Es zeigt sich doch in den Beiträgen von @ G. K. und auch von @ Peter, dass beide eine gehörige Portion Skepsis hinsichtlich der Vernunft der Politiker als auch der Institutionen haben. Ein Fazit wäre dann, dass im Moment eine Unsicherheit darüber herrscht, wie die Krise der Ökonomie und der Politik zu bewältigen ist.
Einen Dissens zwischen Ploitik und Ökonomie hat es immer gegeben, siehe Link zu Habermas von @metepsilonema, das Besondere im Moment ist doch, dass einerseits die Ökonomie anscheinend schamlos ihre Position ausnutzt und andererseits die Politiker aus Angst vor unpopulären Entscheidungen, sie wollen gewählt werden, und aus Unsicherheit vor den Folgen ihrer Entscheidungen oft den kleinsten gemeinsamen Nenner oder die geringste Korrektur anstreben und durchführen.
@Peter
Nicht zustimmen kann ich ausdrücklich der Abstimmung über die Atomfrage. Hier gibt es Gott sei Dank die Grundrechte und es gibt die Menschenrechte, hier hat das Volk nicht abzustimmen, es sei denn, es ergäbe sich eine ganz andere Situation als heute.
Dann spricht es doch für eine gehörige Portion Arroganz gegen Abgeordnete aus Mazedonien, Serbien, Türkei , sie nicht als gleichberechtigte Abgeordnete wie aus den anderen Ländern wie Deutschland, Frankreich , Italien zu sehen.
Auch die Abstimmung über die gestzliche oder private Krankenversicherung sehe ich nicht so gravierend. Viel entscheidender in dieser Frage ist nicht die Art der Versicherung, sondern eher, zu welcher Schicht/Gruppe/Klasse man gehört. Es gibt valide Zahlen darüber, wer das höhere Risiko hat, eher zu sterben, krank zu werden usw. Dass aber auch hier Grenzen gesetzt sind, beweist nicht zuletzt der Tod von Steve Jobs.
@metepsilonema
Ich bewundere Sie, dass Sie immer noch den Glauben an den mündigen und informierten Bürger nicht verloren haben. Ich sehe da nur schwarz, wenn ich an dan Egoismus, die Gleichgültigkeit und die Vergesslichkeit der Menschen denke. Die Informationen sind fast alle vorhanden, aber wie vor dem 1. Weltkrieg oder in den zwanziger Jahren geht man mit einer Begeisterung zu jedem Event »Tanz auf dem Vulkan«, daran ändern auch die Aktionen der Bürger gegen Stuttgart 21 oder occupy meiner Meinung nach nichts.
@Norbert
Wir müssen uns irgendwann entscheiden, ob wir dem Bürger die Mündigkeit per se absprechen oder ob wir ihn als Souverän (bzw. Citoyen) sehen. Das ist die entscheidende Frage. Wenn man generell der Meinung ist, die Leute sind mit politischen Entscheidungen überfordert, kann man sich dem paternalistischen Gehabe der EU-Oligarchie anschließen und den Bürger höchstens noch als Akklamationsvieh sehen. Er darf dann in der Arena darüber entscheiden, ob ein Spielshowkandidat eine Runde weiterkommt oder nicht. Die wirklichen wichtigen Entscheidungen trifft dann die »Elite«.
Eine repräsentative Demokratie ist natürlich notwendig, da nicht alles immer Millionen von Leuten zur Wahl vorgelegt werden kann. Entscheidend ist aber, ob die Entscheidungen, die gefällt werden, tatsächlich repräsentativ sind. Wann nimmt man bewusst in Kauf, einer vielleicht kurzfristigen emotionalen Strömung in der Bevölkerung nicht nachzugeben? Und wann ist der Zeitpunkt erreicht, dass man eine Diskrepanz nicht mehr überbrücken kann. Man muss entscheiden, wie man sich verhält, wenn sich Parameter, die zu einer Wahlaussage und einem entsprechenden Versprechen geführt haben, geändert haben und einer Korrektur bedürfen – und wann dies nicht opportun ist.
Es ist auch müßig an die Ereignisse der 20er Jahre zu verweisen. Wie ich bereits ausführte: Das Verständnis für demokratische Verfahren war damals sowohl bei den Eliten als auch beim »einfachen Volk« nur sehr marginal ausgeprägt. Wir haben längst eine andere Zeit; ansonsten dürften wir auch keine Messer frei verkaufen, weil man damit immer und jederzeit andere töten könnte.
Ihre Diagnose zum Spiel zwischen Ökonomie und Politik teile ich auch nicht. Die griechische Malaise ist zunächst KEINE Krise der Ökonomie oder durch Banken direkt hervorgerufen, sondern ein Versagen der politischen Klasse in Griechenland. Hier irrt auch Habermas. Die griechische Politik hat es ermöglicht, dass Millionäre und Milliardäre ihre Vermögen außer Landes bringen konnte. Sie hat Kredite für den öffentlichen Verwaltungsapparat aufgenommen (statt für Investitionen). Sie hat die Schattenwirtschaft und Korruption nicht bekämpft (sondern teilweise von ihr gelebt; an einer solchen Feststellung ist kein Iota Arroganz). Der griechische Wähler hatte immer nur die Wahl zwischen Pest und Cholera; der einzige Lichtblick (Simitis). Die EU, genauer: die Länder des EWWU, haben in fahrlässiger Art und Weise diese Entwicklung laufen lassen. Sie haben keinerlei Instrumente geschaffen, die ein wie auch immer geartetes Eingreifen ermöglicht hätten. Es gab zwar eine Androhung eines Bußgeldes – aber in Anbetracht der Tatsache, dass sich ein Staat in die Pleite wirtschaftet, ist das absurd.
Die EWWU war eine politische Veranstaltung, die jegliche ökonomischen Korrekturmaßnahmen ausgebremst hatte. Banken haben sich dem angepasst und spekulierten mit der Sicherheit der Staatsanleihen. Hierin kommen dann langsam die Investmentzocker ins Spiel: Ihnen war seit zwei Jahren sehr wohl klar, dass die Griechen dies nicht mehr werden bezahlen können. Dennoch haben sie weiterhin darauf gesetzt, dass die starken Länder einstehen werden. Hierin liegt aber wieder ein Versäumnis der Politik, die 2009/2010 das falsche Signal gesendet und die Angelegenheit heruntergespielt haben.
Man darf auch nicht vergessen, dass viele »notleidende Staaten« des EWWU erst sehr kurze Erfahrungen mit Demokratien haben: Griechenland hatte bis in die 70er Jahre eine Militärdiktatur; ähnliches gilt für Portugal und Spanien. Italien ist praktisch seit 30 Jahren von der Mafia unterwandert. Diese Länder leiden nicht an zuviel Demokratie, sondern an der jahrzehntelangen Absenz.
–
Zu moralischen Abstimmungen: Hier gebe ich Peter vollkommen recht. Auch ich möchte nicht in einem Land leben, in dem es die Todesstrafe gibt. Aber es muss möglich sein, auch eine solche Frage in einem demokratischen Verfahren zu legitimieren. Es käme dann zu einer breiten, gesellschaftlichen Diskussion, in der Argumente ausgetauscht würden und schließlich hierüber entschieden würde. Um es platt zu formulieren: Warum hat man vor Ergebnissen von solcher Art von Entscheidungen diese unterschwellige »Angst«? Und um zu provozieren: Warum glaubt man eigentlich, es selber besser zu wissen, als die Masse?
(Die Causa »Todesstrafe« ist ungünstig gewählt, zumal es Bedingung der EU ist, diese abgeschafft zu haben. Man kann hierfür aber jede andere moralische Entscheidung setzen. Man muss nur ein Verfahren entwickeln, dass nicht beliebig oft über die gleiche Frage immer wieder neu abgestimmt werden soll.)
@Gregor Keuschnig
Ich spreche dem Bürger keineswegs die Mündigkeit ab, abzustimmen, zumal ja nachgewiesernermaßen (Prof. Gigerenzer) oft Bauchentscheidungen gleich gut oder manchmal besser sind als rationale oder lange reflektierte Entscheidungen. Aber ich kann auch nicht die Augen davor verschließen, dass trotz der »Gewissheit«, dass der jetzige Standard der Sozialleistungen die künftige Generation überfordern wird, die meisten Wähler diese Einschnitte nicht hinzunehmen bereit sind. Niemand will Abstriche hinnehmen, siehe die Abstrafung der SPD nach Hartz IV. Wir müssen nicht über Fehler der Umsetzung streiten, grundsätzlich war es aber eine richtige Entscheidung der damaligen SPD-Führung.
Ebenso wäre es im Gesundheitssystem nötig, offen darüber zu sprechen, dass bei der demographischen Entwicklung und dem medizinischen Fortschritt nicht alles bezahlbar sein wird, was möglich ist.
Nun zu Griechenland und dem Gegensatz zwischen der Ökonomie und Politik. Auch Griechenland hatte natürlich das Problem. Das Argument war doch wie in Deutschland, gibt es höhere Steuern für die Millionäre und Milliardäre, bringen sie ihr Geld ins Ausland. Das aber auch die Politik in Griechenland zusätzlich versagt hat, das Problem überhaupt anzugehen, ist richtig.
Das Argument, dass viele Länder keine Demokratieerfahrungen hatten, ist richtig, zieht aber nicht. Wann hatte denn Deutschland demokratische Erfahrungen? Im Kaiserreich nicht, in der Weimarer Republik doch angesichts Weltwirtschaftskrise und den scharfen Gegensätzen bei den politischen Parteien auch nicht. Und im 3. Reich hat es ebenfalls keine Erfahrung gegeben und trotzdem kann man bei aller Kritik am Adenauerstaat doch ganz zufrieden mit der Nachkriegsentwicklung sein.
Würde man heute abstimmen lassen, ob Pädaphile jemals wieder aus dem Gefängnis kommen, wäre das Ergebnis eindeutig: bis zum Lebensende im Knast. Um mal von der Todesstrafe wegzukommen.
Das ist nicht Arroganz oder Verachtung der Massen, sondern Einsicht in die Tatsache, dass viele Menschen in dieser Frage einfach Gefühlen der Rache oder des Hasses nachgeben. Auch hier gibt es doch ausreichende Untersuchungen, wie Menschen manipulierbar sind oder dass es ganz bestimmte Entscheidungsabläufe gibt(Milgram-Experiment, Browning: Einfache Männer...etc.).
Dass die Wähler oft nur die Wahl zwischen Pest und Cholera haben, diese Meinung von Ihnen teile ich vollkommen, trotzdem bin ich wie Schirrmacher und Habermas der Meinung, dass es eine fatale Entscheidung war, das Referendum zu kippen. Über was sollen Bürger denn überhaupt entscheiden, wenn nicht darüber. Aber es wäre natürlich, wie Sie zu bedenken geben, sinnvoller, andere Alternativen zur Abstimmung zu stellen als diese Entscheidung, die Pläne der EU zu akzeptieren oder aus der Eurozone rauszugehen.
Der Dissens zwischen uns liegt glaube weniger in der Einschätzung der aktuellen Probleme in der Politik oder Ökonomie, sondern eher in der Einschätzung der menschlichen Natur und auch in der Einschätzung von Entscheidungen durch Massen wie Bevölkerung etc.
Ich weiß, dass meine Haltung als elitär oder arrogant kritisiert werden kann, aber sprechen die gschichtlichen Erfahrungen nicht doch dafür?
@Norbert
Arroganz ist ein Totschlagargument. Ich habe gestern noch mit einem in Deutschland eingebürgerten Rumänen nach seiner Rückkehr von einem Verwandtenbesuch über die Lage im Land gesprochen. Ein sehr integerer Mann, der meine Meinung teilt. Völlig fassungslos war er darüber, wie die Menschen widerstandslos zuschauen, wie die nicht selten kriminelle Nomenklatura das Land ausplündert. Alternativ reicht ein etwas genauerer Blick ins Europaparlament. Da liegt zwischen Sein und Sollen noch ein tiefes Loch. Die Meinung, dass Deutschland Demokratie aus dem Stand geschafft hat, ist abenteuerlich. Wohl keine andere Demokratie hat einen so steinigen Weg hinter sich.
Die Behauptung, dass Menschen nach Gefühlen der Rache und des Hasses entscheiden, hilft auch nicht viel weiter. Wenn die überwiegende Mehrheit der Meinung ist, Pädophile für immer weg zu sperren, dann ist das so in einer Demokratie. Die Amis sind z.B. der Meinung, dass man Menschen ohne jegliche Versorgung auf der Straße hausen lassen kann. Bei uns undenkbar. Die Alternative ist nicht den Menschen die Entscheidung abzunehmen, (so landet man bei dem platonischen Philosophenstaat), sondern sie zu befähigen es zu können oder sogar nur zu erkennen, dass eine Entscheidung bei jemand Anderem besser aufgehoben ist. Da sind wir noch nicht, sollte aber das Ziel sein.
@Peter
Einverstanden, die Arroganz hätte ich mir schenken können. Aber ist es nicht seltsam, dass wir beide, nur hinsichtlich unterschiedlicher Adressaten, sehr skeptisch sind.
Dass in Deutschland die Demokratie aus dem Stand geschafft hae, habe ich nie behauptet. Meine Beispiel sollten nur zeigen, dass es die deutschen Menschen geschafft haben, obwohl sehr viele andere Menschen damals nie daran geglaubt haben (ich meine hier Amerikaner, Engländer, Fanzosen, Holländer etc.).
Sicher war es eine andere Situation als in Mazedonien oder anderen Staaten, aber warum sollte es dort nicht klappen.
Nehmen Sie andererseits die Ungarn, was dort passiert ist eine Katastrophe, sofern die Meldungen stimmen, die man hört. Oder nehmen Sie Spanien. Die Regierung wird abgestraft werden für ihre Sparpläne, obwohl die Opposition nichts Besseres vorzuweisen hat, ebenso wird es in Griechenland bei Neuwahlen werden. Was war und ist mit Italien? Einen Ganoven wie Berlusconi jahrelang zu dulden und sogar zu wählen. Sprechen diese Beispiele für die Vernunft des Volkes oder der Parlamentarier? 50 Mißtrauemnsvoten hat er überstanden.
Ich will keine andere Staatsform als die Demokratie, aber ich bin sehr resignativ und für die Zukunft pessimistisch.
Auch Ihren Schlussatz kann ich nicht teilen. Bei wem wäre die Entscheidung besser aufgehoben. Hat Frau Merkel, die wie eine Wetterfahne agiert, bessere Atgumente und handelt sie »vernunftgemäß«? Auch bei ihr geht es doch nur um die Wiederwahl und um Macht.
@Norbert
Mein Glaube ist eine Art Realismus: Menschen können, wenn sie wollen oder die Möglichkeit haben, sich in Fragen und Probleme einarbeiten und Kompetenz erwerben. Sie können das nicht in allen Belangen, aber wer will, schafft es durch eine Art Verengung (es geht ja nicht um Höchstleistungen). Und mach einem hilft der Zufall oder eine günstige Gelegenheit – man denke einmal an die Entstehung von Bürgerinitiativen oder politischer Beteiligung (auf Gemeindeebene z.B.).
Alle negativen menschlichen Eigenschaften – Gleichgültigkeit, Ignoranz, Egoismus, etc. – teilen Genies mit einfachen Bürgern – wollte nicht Goethe eine Kindsmörderin hingerichtet sehen?
Die Informationen sind vorhanden, ja, aber die Prüfbarkeit ihrer Integrität ist schwieriger denn je.
Wie auch immer: Gregor hat schon darauf hingewiesen, zunächst ist die Frage zu beantworten, was sein soll: Eine Demokratie, die Wert auf Beteiligung ihrer Bürger legt und damit auf sie selbst, oder deren paternalistische Ummantelung? Sollen die Kinder erwachsen werden, mit allen Risiken, oder nicht?
@Norbert
Nachsatz noch: Muss es in der Politik nicht immer um Macht gehen? Ist Gestaltung ohne Machtausübung möglich?
–
Und: Nicht jeder muss alles Können, Arbeitsteilung oder Zusammenarbeit ist gerade in der politischen Beteiligung der Bürger erforderlich (jeder bringt seine Kompetenz mit).
@ metepsilonema
Ja, ja, es klingt ja alles so vernünftig und wünschenswert was Sie sagen, allein mir fehlt der Glaube aus 2 Gründen. Ich glaube erstens nicht mehr daran, dass es in Punkto Vernunft und Gerechtigkeit immer positiv weitergeht. Vielmehr sind die Menschen egoistisch und auch weitgehend? durch ihre biologisch-neurologische Grundausstattung determiniert , mindestens aber stark beeinflusst. Zweitens zeigt ein Blick in die Geschichte, dass es immer auch irrational zugeht und nicht stetig im Sinne Ihrer Mündigkeit von Bürgern und Vernunft durch eine Mehrheit.
Ich glaube tatsächlich nicht an die Demokratie als die den Menschen zukommende Regierungsform, habe aber keine Alternative, da die bisher bekannten politischen Systeme auch nicht funktionierten (Kommunismus, Sozialismus, Anarchie, Monarchie etc.). Deshalb auch meine Resignation. In meiner Jugend, das heißt in den 60er und siebziger jahren hatte ich den Glauben noch, aber heute nicht mehr.
Und glauben Sie wirklich daran, dass alle Menschen die notwendigen Informationen verstehen, die bereits heute jedem zur Verfügung stehen? Gerade heute besteht ja eher eine Informationsüberflutung als eine zu geringe Informationsmöglichkeit. Wer wählt die Informationen für die Masse aus?
Duch Zufall habe ich gestern ein paar Minuten in die Sendung »Deutschland sucht den Superstar« gesehen. Da kommt mir doch gleich das römische Spektakel Spiele und Unterhaltung für das Volk in den Sinn. Solch ein Schwachsinn bekommt aber viele Zuschauer, ich könnte andere Sendungen wie die Soaps anführen. Oder die samstägliche Masse auf den Fuballplätzen, interessieren sich die wirklich für das Weltgeschehen?
Ja, es klingt elitär, aber gibt es nicht tatsächlich diese gravierenden Unterschiede zwischen den Menschen, ohne dass ich auf Rasse oder irgendwelche andere äußere Unterschiede hinauswill.
Natürlich kennen auch Genies Neid, Haß, Machtgier etc., aber ein Goethe hätte nicht an der Rampe in Auschwitz gestanden oder wehrlose Frauen und Kinder erschossen. Dies gilt ebenso für Einstein, Darwin und andere.
Ich schreibe mich hier glaube ich um Kopf und Kragen, deshalb höre ich hier lieber auf.
Fazit für mich. Jeder kann für sich und seine unmittelbare Umgebung versuchen, das Beste zu tun, alles andere ist Illusion.
@Norbert
Mit ihrem Pessimismus ausgestattet, müsste die Menschheit in Anbetracht der ausweglosen Katastrophen, denen sie entgegensteuert, längst ausgestorben sein.
@ metepsilonema:
Das was du im ersten Absatz postuliert hast, verwirfst du im zweiten Absatz wieder. Ich glaube, es gibt überhaupt keine »objektiv beste« Lösung der derzeitigen Probleme und das Wursteln auf Zuruf ist die einzige Methode. Man sieht das ja sehr schön an dem Tohuwabohu nach der Ankündigung des griechischen Referendums.
Vielleicht sollten sich alle Beteiligten mal etwas zurücknehmen und an Folgendes denken: Es ist in all diesen Konflikten noch kein einziger Schuss gefallen, das ist doch ein gewaltiger Fortschritt im Vergleich zu den Lösungsversuchen von Problemen noch vor weniger als 100 Jahren. Es geht nur um Geld und ich bin durchaus bereit, von meinem Wohlstand etwas abzugeben, damit das so friedlich bleibt.
@ Gregor Keuschnig
Das ist eine unzulässige Schlussfolgerung. Vielmehr kann man aus meinem Pessimismus nur folgern, dass es wahrscheinlich nie eine gerechte und solidarische Völkergemeinschaft geben wird. Ansonsten geht das Leben der Menschen so lange weiter, bis sie irgendwann die Grundlagen für das Weiterleben vernichtet haben oder sich selbst ausgerottet haben werden.
Sicher ist auf jeden Fall, die Natur unseres Planeten wird irgendwann ohne Menschen weiter existieren. Denn der Mensch war ist ist nicht das Ziel der Evolution. Wahrscheinlich werden einmal die Mikroben überleben.
@ Köppnick
Es ist richtig, dass frühere Problemlösungen brutaler waren. Aber dass es nur um Geld gehe, gilt nur für die nördliche bzw. westliche Welt und einige weitere Staaten. Für viele andere Menschen in Afrika und in Asien geht es ums nackte Überleben.
Es ist eine Schande für unsere Kultur und Politik, dass bei diesem Reichtum auf der Erde Millionen im Jahr an Hunger und an Krankheiten, die behandelbar sind, sterben.
Und die Situation wird sich noch verschlechtern, wenn es auch noch um das Wasser geht.
@ Köppnick
Naja, verwerfen: Ich stelle lediglich fest, dass der Mensch nicht ausschließlich homo politicus ist und seine Möglichkeiten und seine Leistungsfähigkeit als Bürger damit in Zusammenhang steht. Das spricht aber nicht (prinzipiell) gegen eine Beteiligung oder ein Interesse.
@Norbert
Bitte nicht missverstehen, ich wollte keinen wie auch immer gearteten Vernunft- und Rationalitätsglauben artikulieren, ich meine nur, dass man vielleicht etwas vorsichtiger hinsichtlich allgemeiner Schlussfolgerungen sein sollte. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich Begabungen und Talente nahtlos an Banalitäten reihen, sehr oft jedenfalls und ich beobachte das letztlich auch an mir selbst (nicht weil ich mich für irgendein Talent halte, sondern einfach nicht frei von Widersprüchen bin). Dass sich jemand eine soap ansieht sagt nichts, fast nichts jedenfalls, über andere Aspekte dieser Person (ich mag dieses Zeug auch nicht, aber man sollte den Stab nicht zu schnell brechen, bzw. nicht immer von seinen Grundannahmen ausgehen). Ich meine nicht mehr, als dass der Durchschnittsmensch die Fähigkeit besitzt, sich mit bestimmten (nicht allen zugleich) politischen Themen auseinanderzusetzen, wenn er will oder es ihn interessiert.
Dass unser Handeln biologisch mitbedingt ist, klar, aber ausschließlich (spricht nicht das Kulturwesen Mensch dagegen)?
@Norbert
Manchmal frage ich mich, ob ein derart fast lustvoll ausgebreiteter Kulturpessimismus nicht obszöner ist als das, was kritisiert werden soll.
Nicht, dass ich in manchen Situationen nicht ähnlich denken würde. Man nennt das dann Verzweiflung. Aber die grundlegenden Fragen werden damit nicht beantwortet.
(Ein großes Faß, das ich nicht unbedingt aufmachen will. Daher nur ein kleiner Heinweis.)
@Gregor Keuschnig
Da bin ich doch zusammengezuckt. Mein Kulturpessimismus sei obszöner als das, was kritisiert werden soll! Schnell im Duden nachgesehen und mich vergewissert, tatsächlich: obszön = unanständig, schlüpfrig, den Sexual- und Fäkalbereich betreffend! Das ist starker Tobak.
Sollte ich Babi Jahr, Auschwitz, Ruanda, Srebrenica, den Terror unter Stalin und Mao falsch sehen und beurteilen? Ich könnte noch viele andere Kapitel der Geschichte erwähnen. Zur Zeit lese ich Ian Kershaw: Das Ende, auch dort werden Fakten genannt und Erklärungen angeboten, die mich wieder in diesem Pessimismus bestärken.
Den Hinweis auf Martin Walsers Rede verstehe ich aber nicht.
Auf die grundlegenden Fragen habe ich tatsächlich keine Antwort. Ich kenne aber auch niemanden, der sie hätte.
Verzweiflung? Ich glaube, das ist für mich zu groß. Es fehlt eine ganze Dimension. Das war eher bei Primo Levi oder Jean Amery angebracht und führte auch zu Konsequenzen.
Trotz meines Pessimismus pflanze ich ein Bäumchen und freue mich in meiner Familie mit den Kindern und Enkeln. Und manchmal mische ich mich auch ein wenig in Debatten ein. Also ganz so hoffnungslos ist mein Fall auch wieder nicht.
@ Gregor Keuschnig
Korrektur: Es muss natürlich Babi Jar heißen. Entschuldigung.
@Norbert
Lässt sich dieser Pessimismus tatsächlich historisch rechtfertigen? In dem Sinn, dass sich nichts ändert? Vergisst man dabei nicht, dass sich Probleme und Entwicklungen für jede Generation, für jeden Neugeborenen immer wieder stellen und neu beantwortet werden müssen, selbst wenn es eine Art kollektives Gedächtnis gibt? Das Wissen um die Gräueltaten vergangener Zeiten, selbst ihr bruchstückhaftes Verstehen gibt uns kein Rezept in die Hand, macht nicht per se besser, noch erspart es uns Versuch, Irrtum oder Scheitern: Muss ein Weg, unser Weg, nicht immer wieder neu geschaffen werden?
@metepsilonema
Den Wunsch, es möge besser werden, vernehme ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Konkreter, der Glaube daran, dass politische Systeme oder Gesellschaftstheorien dies vermögen.
Nicht so pessimistisch bin ich allerdings, dass die Spezies der Menschen und die Natur, gegebenenfalls ohne uns, weiter existieren werden, dass allerdings glaube ich.
Ansonsten kann ich nicht erkennen, dass sich grundsätzlich etwas zum Besseren verändert hätte.
Die Idee in den siebziger Jahren, man müsse quasi mit jeder Hütte in der Dritten Welt solidarisch sein, die existiert doch nicht mehr. Man muss sich nur das Theater um die Gelder für Griechenland anschauen oder den Widerstand in den USA gegen Sozialreformen. Welche Gesellschaft hat sich nach dem Ende des Kommunismus in der UdSSR entwickelt und was entwickelt sich in Indien und in China?
Hat man denn gar nichts gelernt? Müssen alle Fehler wiederholt werden, nützen den Kultur und Wissenschaft gar nichts?
Ich bestreite nicht, dass sich die ökonomische oder sozial-medizinische Situation für fast alle Menschen auf der Erde seit dem 2. Weltkrieg verbessert hat. Aber die Diskrepanz zwischen dem, was sich geändert hat und was möglich wäre, ist zu groß.
Aber vielleicht liege ich ja falsch, in diesem Sinne bin ich eher Fatalist und kann mich positiv überraschen lassen. Ich wünsche es natürlich von ganzem Herzen für meine Kinder und Enkel.
@Norbert
Das ist ja, was ich meinte: Ist nicht die Erwartungshaltung, dass es besser werden müsste, falsch? Oder sagen wir: Gerade einmal eine Hoffnung? Die Kultur ändert sich, die Technik, die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die Kunst, usw., aber jeder Mensch muss seine Entwicklung zum Menschen, zur Menschlichkeit hin, immer neu durchlaufen, kein System kann, und soll vielleicht auch, ihm diese Bürde nehmen. Das Nichtlernen, was genau ist damit gemeint? Soll ich aus Erfahrungen, die ich nicht selbst gemacht habe, lernen? Gut, auf ganz allgemeiner Basis, vielleicht: Besser Friede als Krieg (wer würde das nicht wollen?). Aber sonst? Selbst bei Fragen nach dem richtigen Wirtschaftssystem lässt sich kein Konsens erzielen.
Und dass Kunst, Kultur oder Wissenschaft jemals jemand besser gemacht haben? Wird man freigiebiger, nach dem man Beethoven gehört hat? Ist diese ethische Dimension nicht eine Mär? Der Kulturpessimismus ein Irrtum?