Dann tauchte vor uns der Friedrichshain auf, und wir schwiegen.
Die Blautanne, auf die Vater es abgesehen hatte, stand inmitten eines strohgedeckten Rosenrondells. Sie war gut anderthalb Meter hoch und ein Muster an ebenmäßigem Wuchs.
Da der Boden dicht unter der Oberfläche gefroren war, dauerte es auch gar nicht lange, und Vater hatte die Wurzeln freigelegt. Behutsam kippten wir den Baum darauf um, schoben ihn mit den Wurzeln in den Sack, Vater hing seine Joppe über das Ende, das raussah, wir schippten das Loch zu. Stroh wurde drübergestreut. Vater lud den Baum auf die Schulter, und wir gingen nach Hause.
[...]
Es wurde ein sehr schöner Weihnachtsabend. Erst sangen und spielten wir die Platten durch; dann spielten wir sie noch einmal ohne Gesang; dann sang Frieda noch mal alle Platten allein; dann sang sie mit Vater noch mal, und dann aßen wir und tranken den Wein aus, und darauf machten wir noch ein bißchen Musik; und dann brachten wir Frieda nach Hause und legten uns auch hin.
Dann, in der folgenden Nacht, nahmen wir den Baum aus der Wanne, steckten ihn, noch mit den Stanniolpapiersternen geschmückt, in den Sack und brachten ihn zurück in den Friedrichshain.
Hier pflanzten wir ihn wieder in sein Rosenrondell. Darauf traten wir die Erde fest und gingen nach Hause. Die Stanniolpapiersterne hingen noch eine ganze Weile in seinen Zweigen, einige sogar bis in den Frühling.
Vor ein paar Monaten habe ich mir den Baum wieder mal angesehen. Er ist jetzt gute zwei Stock hoch und hat den Umfang eines mittleren Fabrikschornsteins. Es mutet merkwürdig an, sich vorzustellen, daß wir ihn mal zu Gast in unserer Wohnküche hatten.
Wolfdietrich Schnurre: »Als Vaters Bart noch rot war. Ein Roman in Geschichten«, »Die Leihgabe«, zitiert nach Ullstein, 1975, S. 51–57
ERGÄNZUNG: Hier ein Hinweis zu Wolfdietrich Schnurre im Berlin-Verlag.
« Ich versteckte beides(1) erst mal in der Waschküche. Frieda musste ich einweihen, denn die hatte die Platten; aber Frieda hielt dicht.
Mittags hatte uns Friedas Chef, der Destillenwirt, eingeladen. Es gab eine tadellose Nudelsuppe, anschließend Kartoffelbrei mit Gänseklein. Wir aßen, bis wir uns kaum noch erkannten; darauf gingen wir, um Kohlen zu sparen, noch ein bisschen ins Museum zum Dinosauriergerippe; und am Nachmittag kam Frieda und holte uns ab.«
Anmerkung: ... beides(1) sind Grammophon und Trichter.
Beim Pfandleiher ausgeliehen.
aus: siehe obige Fußnote unter »Weihnachten mit Wolfdietrich Schnurre
Lieber Herr Keuschnig,
ich hoffe, ich durfte Ihrem Schnurre-Weihnachtstext etwas hinzufügen. Habe mir sofort das Büchlein hervorgezogen und die Erzählung nach ewigen Jahren wieder einmal gelesen.
Und wenn ich im Wald bin, dann werde ich nach Stanniolpapiersternen schauen, vielleicht ...?
Weihnachtstage mit Freude, die ins Haus kommt und für das kommende neue Jahr weiterhin Ihre bewundernswerte Energie, diesem schönen Blog Leben zu geben!
Herzliche Grüße
lou-salome
Liebe lou-salome, danke für die netten Worte. Ihnen auch alles Gute. (Nächstes Jahr wird’s hier deutlich ruhiger werden.)
Oh Mann, tut das gut. Jahrelang lief ich mit der Befürchtung durch die Welt, der letzte Dinosaurier zu sein, der sich noch an die liebevollen Geschichten Schnurres erinnert und – zur Verwunderung seiner Mitmenschen – von Zeit zu Zeit daraus zitiert. Ich wünsche einen fantastischen Start ins Jahr 2012 und gehe mir und meinen Lieben jetzt eine Erbsensuppe kochen.
Liebe Grüße
William