Es gibt Buchtitel, die im Laufe der Zeit immer wieder paraphrasiert, variiert, parodiert und karikiert werden und somit von der Sentenz zur Redensart geworden sind (oder umgekehrt) wie Johannes Mario Simmels »Es muß nicht immer Kaviar sein« oder Heinrich Bölls »Die verlorene Ehre der Katharina Blum« (hier gibt es noch mehr Beispiele). Zweifellos gehört »Die Angst des Tormanns beim Elfmeter« dazu. Dabei handelt es sich um eine Erzählung von Peter Handke aus dem Jahr 1970 (und zwei Jahre später von Wim Wenders verfilmt wurde). Die Tatsache, dass Nichtlesern dieses Büchleins die Bedeutung des Titels nicht deutlich werden kann (Titane wie Oliver Kahn finden es »komisch«, dass ein Torwart Angst vor [sic!] vor einem Elfmeter haben soll, ist doch längst Konsens, dass ein Torwart immer nur zum Helden werden kann – sofern er den Ball hält), hält sie nicht vor Inspirationen der Verballhornungen ab.
Beim genauen Hinsehen zeigt sich, dass die meisten Variationen nicht der Intention des Handke-Titels entsprechen. Kongenial und eng an der »Vorlage« sind Schöpfungen wie »Die Angst der Torfrau beim Elfmeter« und »Die Angst des Roboters beim Elfmeter«. Auch in »Die Angst der Schäfer bei der Lammung« wird die Gleichzeitigkeit von Angst und Ereignis deutlich.
Paraphrasiert wird der Titel jedoch fast immer falsch - und zwar mit der mehr oder weniger diffusen oder latenten »Angst vor« etwas. Das ist kein Wunder, denn der Handke-Titel wird derart falsch nicht nur von notorischen Ebay-Verkäufern, der »Bunten«, drei Facebook-Dummis, sondern auch von sogenannten Qualitätsmedien wie dem »Deutschlandfunk«, »Spiegel« und dem ORF zitiert.
Daher sind die Variationen zum Falschen derart zahlreich: Es reicht vom ernsten »Die Angst des Vaters vor dem Tod des Sohnes« bis zu eher komisch-ironischen Beiträgen wie »Die Angst des Managers vor der Pause«, »Die Angst des Joggers vor dem Hund«, »Die Angst der Bundeskanzlerin vor dem Torwandschiessen«, »Die Angst des Reporters vor dem Frauenfußball«>, »Die Angst des ‘Schraubenkönigs’ vor dem Kommunismus«, »Die Angst des Elefanten vor der Honigbiene«, »Die Angst des Mannes vor dem Treffer«, »Die Angst des Dichters vor dem Verleger«, »Die Angst des Papstes vor dem Volk«, »Die Angst des Erfolgreichen vor dem Fall«, »Die Angst des Programmierers vor dem SQL-Join«, »Die Angst des Pfarrers vor dem Glaubensbekenntnis«, »Die Angst der Giraffe vor ihrer Enthauptung« (wer verstünde diese Angst nicht?), »Die Angst des Trainers vor dem Torwart«, »Die Angst des Verkäufers vor dem Preis«, »Die Angst des Zahnarztes vor der Lücke« oder »Die Angst des Quartiersmanagements vor der Gentrification«.
Die meisten Überschriften beschwören diese »Angst vor« nicht auf eine Einzelperson sondern einer bestimmte Gruppe, die sich vor etwas ängstigt: »Die Angst des Westens vor dem Militärschlag«, »Die Angst des Regimes vor den Wahlen«, »Die Angst des Menschen vor dem Fremden«, »Die Angst der Schweizer vor mehr Urlaub«, »Die Angst der Freiburger vor dem Elfmeter«, »Die Angst der Pferde vor dem Reiter, »Die Angst der Siedler vor dem ‘Plattenbau’ «, Die Angst der Amerikaner vor der deutschen Atombombe«, »Die Angst der Kirche vor der Gegenwart«, »Die Angst der Spieler vor Schwulen-Hass«, Die Angst der Männer vor den Frauen«, »Die Angst der Anleger vor Fondsschliessungen«, »Die Angst der Vereine durch die Hooligans«, »Die Angst der Verbände durch die Zeitenwende«, »Die Angst der Unternehmen vor dem Burnout«, »Die Angst der Manager vor Weihnachten«, »Die Angst der Spitzenpolitiker vor dem großen Lümmel Volk«, »Die Angst der EU vor Demokratie«, »Die Angst der Mittelschicht vor dem Abstieg«, »Die Angst der Schuldner vor der Insolvenz«, »Die Angst der Deutschen vor dem Krebs«, »Die Angst der Eltern vor dem Kind«, »Die Angst der Väter vor den Müttern«. Arg besserwisserisch kommt diese Variante daher : »Die (berechtigte) Angst der Grünen vor den Piraten«. Und die Anthropomorphisierung der Angst einer Institution wird mit »Die Angst des Gymnasiums vor dem Mittelmass« bedient.
Wichtig wäre halt – schon für die 8.000-Euro-»Wer wird Millionär«-Frage: Es heisst eben »beim« Elfmeter.
PS: »Die Stunde der wahren Empfindung«, »Die Unvernünftigen sterben aus«, »Die Stunde, da wir nichts voneinander wußten« oder »Der kurze Brief zum langen Abschied« würden sicherlich ebenfalls lohnende Rechercheergebnisse zeigen. Vielleicht später – aber eventuell haben die Kollegen vom »Umblätterer« bis dahin eine knackige Überschrift à la »Vossianische Antonomasie« parat?
Lieber Gregor, köstliche Zusammenstellung! Du bist der Hans Leyendecker der Handke-Philologie! Ohne die Angst der Journalisten »vor« langweiligen Überschriften hätten wir natürlich alle nichts zu googeln gehabt, vgl. Die Welt als Schopenhauer und Überschrift und Die Ausweitung der Überschriftenzone.
Komischeweise vermisse ich »die Angst des Elfmeterschuetzen vor dem Elfmeter« bei dieser sehr ausfuerlichen Sammlung. Ansonsten, ist ja nur interressant was passiert in dem Moment als unser moerderischer Torwart den Ball unerwarteter Weise mit seinem Bauch faengt.
Sind Sie sicher, daß alles Sätze mit »Angst des ..« oder »Angst der..« Paraphrasen des Herrn Handkeschen Satzes sind? Ist das nicht ein wenig zuviel der Ehre?
Ich erinnere mich, schon vor dem Erscheinen des kleinen Werkes des öfteren Angst bei und vor gehabt zu haben
@Connie Müller-Gödecke
Sicherlich gab es auch schon vor 1970 »Angst vor..« oder »Angst bei...«. So, wie man »Angst vor Spinnen« hatte. Oder »Angst beim Zahnarzt«. Der Clou liegt ja in der Bennungen einer spezifischen Angst (mit dem Artikel »Die«) einer Person (oder eben mehrerer) in Verbindung mit einem Ereignis, dass – idealerweise – nicht in direktem Zusammenhang mit der Person/Personengruppe steht. So wäre die Formulierung »Die Angst des Arachnophobikers beim Ansehen [oder: vor] der Spinne« redundant und lächerlich.
Viele der verlinkten Paraphrasen dürften womöglich weniger Rekurse auf das Handke-Buch sein als wiederum Variationen von Paraphrasen. (Die meisten kennen ja eh nur den Titel, wenn überhaupt.)
Theoretisch könnte natürlich auch Handkes Titel selber eine von ihm bearbeitete Phrase sein.