Die Wolken hingen schwer und in Trauben über den orangeroten Dächern beisammen: Julia ging einen Schritt vom Fenster zurück, schlüpfte in ihre Turnschuhe und öffnete die Tür: Sie trat hinaus auf die Straße, überquerte die gepflasterte Fahrbahn, und spazierte gemächlich dahin.
Schokolade, Schlagobers, Eier: Und Mandeln! Julia bog in die Siegfried-Dahlberggasse, ging an Skorzenys Werkstatt vorüber, einem hässlichen, heruntergekommenen Laden. — Wie jeden Nachmittag saß der alte Serbe auf seiner Bank unter der großen Linde: Mit seiner rechten Hand fasste er sich an den haarlosen Kopf, zog ihn langsam zurück und sah hinauf in die Krone. Wunderlicher Alter!, Julia grinste, ließ ihren Kopf fallen und entdeckte eine Reihe dunkelblauer Flecken auf ihrem Sommerkleid. Noch während sie rätselte, zerbarst ein Tropfen am Rand ihrer Brille und sie fühlte die stechende Kühle der folgenden. Sie sprenkelten den Asphalt, die Randsteine, die Autos, und warfen feuchte Schattierungen in die Farben: Blaue, rote und grüne. Die Straße erhob sich, unruhig und ungewiss. Der Serbe hinter ihr fluchte und eine junge Frau, die unmittelbar vor ihr aus einem Nachkriegsbau gekommen war, zog ihr Kind zu sich und spannte ihren Schirm.
An der linken Straßenseite ragte der Siegfried-Dahlberg-Hof auf: Julia trat aus der Krone der Linde, Schatten lagen in der Gasse und die wenigen Passanten liefen in alle Richtungen auseinander. Sie beschleunigte ihre Schritte und querte auf die linke Seite: Die Tropfen fielen schneller und schneller, dehnten sich zu Schnüren und ein milchiger Vorhang legte sich über die Fassaden, die Straßenbeleuchtung und die Menschen. Julia biss die Zähne zusammen und vergrößerte ihre Schritte: Eine Kollage aus Tropfen rann über die Gläser ihrer Brille, sie steigerte ihr Tempo unbeirrt und die roten Turnschuhe leuchteten und klatschten in die Lacken, die sich überall bildeten. Ein Donnerschlag!, dann hatte sie das erste Tor erreicht. Ein Blitz tauchte den breiten Torbogen in grelles Licht: Julia sprang über die kleine Mauer und schwang sich um die Ecke: Hoppla!
Sie prallte gegen einen stämmigen Körper, bekam einen Arm zu fassen, ließ los, und krachte gegen das Tor: Julia lachte!: Ein junger Mann sah sie erschrocken an und dann in seine leeren Hände, während die Tropfen geräuschlos fielen. Er löste sich, sprang in den Regen und nahm sein Notizbuch wieder an sich.
Sie schreiben im Regen?
Überall!
Sein dunkler Anzug schimmerte, er lächelte und trat zurück unter den Bogen.
Tut mir leid. Ist es nass geworden?
Ach was! Ich heiße Max.
Julia!
Wind war aufgekommen: Er trieb den Regen wie Geschossgarben vor sich her und drängte beide an der rechten Seite zusammen. Julia schrie Max, der an die Wand gelehnt, wieder zu schreiben begonnen hatte, ins Ohr: Er aber schwieg, sein Blick blieb ganz auf das Notizbuch hin gewendet, der Körper erstarrt und nur der Bleistift in zackiger, ununterbrochener Bewegung: Julia packte ihn an der Hüfte, drehte ihn um hundertachtzig Grad und deutete auf die gegenüberliegende Seite: Er verstand, ging hin und läutete.
Es knatterte: Ja, bitte…?
Wir..., wir würden uns gerne unterstellen!
Ein Summen, die Tür gab nach und sie stolperten in das Haus: Max klopfte und straffte sein Gewand, Julia putzte ihre Brille und wand ihr Haar. Sie standen in einer kleinen Halle, sahen sich um und gingen vorsichtig weiter: Roter, weißer und grauer Marmor, viel Stuck und über ihnen eine gläserne Kuppel; rechts und links lagen die Aufgänge zu den Wohnungen und vor ihnen eine Tür.
Der Regen klopfte, strömte, hämmerte und klatschte im Wechselspiel mit dem böigen Wind gegen die Kuppel und erfüllte die Halle mit seiner Musik. Sie lauschten, zogen langsam Kreise und betrachteten die stuckenen Ornamente und die marmornen Reliefs. Nach einiger Zeit fiel ein Geräusch, ein sanftes Klacken, leiser, dumpfer und weitläufiger, als das Hämmern und Klopfen, ein, unscheinbar, in seiner Lautstärke aber ansteigend und zugleich aus der Höhe herab fallend. Julia ging zur Tür und drückte die Klinke: Sie gab nach, und Max kam, neugierig geworden, zu ihr.
Das ist der Innenhof. Eine dünne Stimme, die nur deswegen einige Kraft besaß, weil sie niemand erwartet hatte: Auf der linken Stiege stand ein Mädchen, es wartete einen Augenblick, kam die letzten Stufen herab und Julia ließ die Tür ins Schloss fallen. Das ist für sie: Sie können sich setzen, der Boden ist warm. Das Mädchen reichte ihnen ein zwei Decken und ein Handtuch, drehte sich um und war wieder verschwunden. Julia sah ihm nach, während Max, wie selbstverständlich, eine Decke um ihre Schultern legte und die andere auf den Boden breitete: Sie setzten sich, erstaunt und verwirrt, unter die gläserne Kuppel.
Während Julia ihr Haar trocknete, kam das Mädchen wieder, brachte englische Kekse und schwarzen Tee. Sie bedankten sich, schenkten ein und es lächelte, als Julia trank. Das Mädchen stand seitlich, am Rand der Decke, und verlagerte sein Gewicht langsam von einem Fuß auf den anderen, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Magst du dich setzten? Das Mädchen schüttelte seinen Kopf, energisch flog das Haar nach links und rechts, als ob Julia etwas Unangemessenes von ihm verlangt hätte. Du bist jung, wer schickt dich? Meine Tante, das ist ihr Haus. Und nach einer kurzen Pause fügte es, mit schwankender Stimme, hinzu: Vielleicht kommt sie später selbst, aber sie ist schon alt.
Julia nippte ihren Tee, Max hatte sich längst wieder in seine Notizen vertieft und den Tee kaum angerührt. Das Mädchen, noch immer von einem Fuß auf den anderen wippend, sah Julia an, zögerte, und erst als ihr Blick erwiderte wurde, fragte es: Zeichnet er? Julia sah Max an, lächelte und blickte zu dem Mädchen auf: Nein, er schreibt. Das Mädchen nickte und war zufrieden, obwohl es Max noch einige Zeit lang abwägend ansah: Ich gehe jetzt, sagte es dann, drehte sich um und verschwand, wie jemand der einen Bericht zu erstatten hatte.
Das Plätschern erfüllte wieder den Raum, es war leiser geworden und Wetterleuchten drang herein, huschte umher und brachte den Marmor zum Funkeln. Max schien nichts zu bemerken und Julia füllte ihre Tasse wieder mit Tee.
Das Mädchen kam zum dritten Mal und die Sonnenstrahlen fielen aus den Spalten des Himmels herab auf die Decken, das Handtuch und den Tee, dessen schwarze Oberfläche wie Öl schillerte. Das Eingangstor stand einen Spalt breit offen, alles glänzte noch vom Regen, tropfte, prall, grün und bunt. Voll Leben, dachte das Mädchen, während sie die Decken zusammenschlug, die Teller mit den Resten der Kekse aufhob und die Kanne verschloss: Es sah immerzu durch den Spalt, als ob es noch einen Blick auf die beiden hätte erhaschen können.
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Schöne Erzählung, die durch den Perspektivwechsel auf das Mädchen sozusagen abrupt endet und offen bleibt. Trotz der Kürze bekommen die beiden Hauptfiguren Konturen. Der ab einem bestimmten Punkt fast versessen wirkende Schreiber. Julias Hingezogenheit in diesen Innenhof; der Versuch eines Dialogs mit dem Mädchen, wobei beide auf Max konzentriert scheinen (aus unterschiedlichen Gründen).
Julias Frage an das Mädchen, wer sie schickt wirkt allerdings eher wie im Märchen. Dass sie auch noch antwortet, verstärkt den Eindruck. Ist das beabsichtigt?
Danke. Ja, das Märchenhafte war beabsichtigt und in einer früheren Version noch deutlicher vorhanden. — Es sollte, mit anderem zusammen, dem Text ein wenig Unwirklichkeit verleihen. Dich scheint es eher zu stören.
Vll ist die Geschichte weniger märchenhaft als verspielt. Ich hätte auch dem Mädchen einen Namen gegeben. Ansonsten hast du Max gut in den Mittelpunkt von Julia und dem Mädchen gestellt, obwohl er gar nicht in Aktion tritt.
»Der Regen klopfte, strömte, hämmerte und klatschte im Wechselspiel mit dem böigen Wind gegen die Kuppel und erfüllte die Halle mit seiner Musik.«
Manchmal verwendest du aus meiner Sicht zu viel unnötige Aufzählungen. ....der Regen klatschte im Wechselspiel mit dem böigen Wind gegen die Kuppel und erfüllte die Halle mit seiner Musik.....
Gefällt dir das nicht? Du solltest dem Leser etwas Spielraum geben und ihm nicht alles unter die Nase halten.
@metepsilonema
Ob mich etwas stört, ist vollkommen sekundär. Der Effekt der Unwirklichkeit, der durch diesen Ton des Mädchens erzeugt werden soll, wird ja erreicht. Insofern ist es gelungen. Es hebt die Erzählung aus einer realistischen Perspektive heraus. Das ist kein Makel. Nur ungewohnt, weil man sich unweigerlich solche Szenen zu Beginn aus eigenem Erleben zusammenphantasiert.
Die von ohneeinander monierten Aufzählungen finde ich gerade gut, weil sie einen gewissen Rhythmus vorgeben.
Ich mag, wenn es einem Autor gelingt, eine Szene so darzustellen als wäre sie das normalste Ding auf dieser Welt. Zum Beispiel in metes Text. Das Läuten von Max an einer fremden Haustür. Nur damit man sich unterstellen kann. Diese Szene ist wunderbar beschrieben. So leicht und natürlich, obwohl so ziemlich unwahrscheinlich, oder Herr Keuschnig? Und das ein fremdes Mädchen Max und Julia Tee und Kekse reicht ist auch unvorstellbar. mete machts möglich. Der Regen ist vorbei und die Figuren lösen sich auf. Eine tolle Idee.
Ich weiß gar nicht, ob für so eine Leichtigkeit, wie der Autor sie vermittelt, unbedingt ein Rhythmus notwendig ist. Vll verlieren ja grade durch diesen Rhythmus Textstellen an Leichtigkeit. Keine Ahnung, wieviel Ehrlichkeit der Autor ertragen kann, aber diese Aufzählungen Herr Keuschnig kommen bei mir immer so altbacken daher. Es gibt viele Klassiker wie zum Beispiel Thomas Mann, die mit »sinnlosen« Aufzählungen ihren Texten eine gewisse Würze verleihen wollten. Unser Autor (mete) hat gar nicht nötig dem Leser zu beweisen, wieviel Umschreibungen er für eine Szene auf Lager hat. Ich finde weniger ist auch in der Literatur sehr oft mehr. Wenn ein Autor es schafft mit kurzen Sätzen, ohne unnötige Füllwörter eine Stimmung zu erzeugen, dann ist ihm ein Meisterwerk gelungen.
@Gregor
Keine Angst, ich schreibe den Text nicht um, nur weil jemand etwas gefällt oder nicht. Aber es interessiert mich schon wie und ob bestimmte »Kunstgriffe« ankommen.
@ohneeinander
Vielen Dank auch für die kritischen Anmerkungen. Ich kann allerdings mit einem »Ich hätte auch dem Mädchen einen Namen gegeben.« nicht viel anfangen, weil Du mir keinen Grund nennst (es ist kein Zufall, dass es keinen trägt).
Warum mir »der Regen klatschte im Wechselspiel mit dem böigen Wind gegen die Kuppel und erfüllte die Halle mit seiner Musik« weniger gut gefällt hat drei Gründe: Ich finde die ausführlichere Version rhythmisch schöner, zum anderen ist das Klatschen allein noch keine Musik (darüber kann man vielleicht streiten) und drittens entspricht es nicht meiner Vorstellung von böigem Wind, der keineswegs gleichmäßig daher kommt (flaut eine Bö ab, dann klopfen die Tropfen auf die Kuppel und der Regen fließt ab [strömt], kommt die nächste hämmert und klatscht er wieder dagegen).
Es kommt immer wieder vor, dass meine Beschreibungen ausladend werden und mäandern, das kann man mögen, muss man aber nicht und manchmal ist es vielleicht zu viel des Guten. Zusammenhängen tut es vor allem damit, dass mir Verschlankungen wie oben zu reduktionistisch sind und der Vielfältigkeit und Uneindeutigkeit nicht gerecht zu werden scheinen: In einem solchen Fall muss man sie umkreisen (es hat aber auch mit Rhythmik zu tun). Zum »Sollen« siehe oben.
Als Beispiel vielleicht noch die Aufzählung eingangs: »Schokolade, Schlagobers, Eier: Und Mandeln!« Streiche ein, zwei Worte und sie ist von ihrer Charakteristik her etwas ganz anderes.
Als ich den Text das erste mal las, fand ich die Bezeichnung Mädchen unpassend. Im Innenhof erzeugst du schon eine gewisse Vertrautheit. Zwischen Max und Julia. Ich bin davon ausgegangen (oder habe mir wahrscheinlich mehr gewünscht), dass das Mädchen auch dazu gehört. Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, das du bewußt dem Mädchen keinen Namen geben hast. Das macht die Angelegenheit ziemlich geheimnisvoll. Genauso wie die dunkelblauen Flecke auf Julias Kleid? Ich überlege schon seit gestern was das sein könnte. Tinte? Julia und das Mädchen stammen aus Max’s Notizbuch???
Bei Beschreibungen die ausufern oder Aufzählungen fühle ich mich als Leserin irgendwie festgenagelt. Als ob der Autor mich an eine Szene mit »Gewalt« festhalten will. Das vermittelt immer so einen Ausdruck von, der Leser ist zu dumm um selbst zuerkennen was ich als Autor meine. In dem Fall die »Musik« die der Regen und der Wind erzeugen
Die dunkelblauen Flecken könnten natürlich Tinte sein, warum nicht, auch wenn ich an etwas anderes und (für mich?) viel nahe liegenderes gedacht habe.
Du hast mich mit Deiner Bemerkung über das Notizbuch gerade auf eine interessante Idee gebracht, danke!
Es kann schon sein, dass die Beschreibung so ankommt, beabsichtigt war das nicht, aber das ist eines der Dinge die man (aus der Sicht des Schreibenden) nicht beeinflussen kann und das ist auch gut so.
Also den Bluterguß habe ich ausgeschlossen. Warum sollte der auf einem Kleid sein?
@ohneeinander: Für mich sind das ganz klar die ersten Regentropfen, die z.B. auf einem hellblauen Stoff dunkelblaue Flecke erzeugen (aber damit mache ich dir hoffentlich den Zauber nicht kaputt).
(Mögliche Druckfehler: »leuchteten und klatschten in die Lac_h_en«, »Max klopfte und stra_f_fte sein Gewand«, – »Julia putzte ihre Brille und wand ihr Haar« – statt »wand« vllt. »zurückstreifen«, »fuhr sich durchs«? – Den Ausdruck »Schlagobers« kannte ich noch nicht, gefällt mir sehr.)
Zum Text ist ja schon einiges gesagt, daher möchte ich mich damit begnügen, dass er mir auch sehr gefällt.
@Phorky
Danke, ich habe die Schreibfehler korrigiert. Wand habe ich von auswinden »abgeleitet« (= auswringen). Zur Lacke hier. Statt Schlagobers wollte ich anfangs bloß Schlag schreiben, aber das hätte wohl keiner verstanden.
Freut mich, dass der Text gefällt.
(dann war’s ja auch nur einer – bei »Lacke« war ich auch nicht sicher, hatte aber zu oberflächlich gegoogelt -.. und dann weiß ich jetzt, was du mit dem ‘winden’ meintest, ich hatte mir eine ganz andere Bewegung vorgestellt..
PS. Das »Mädchen« hatte mich auch zuerst irritiert, weil ich es zunächst mit »Julia« identifizieren wollte, gerade *weil* der Text in eine andere Richtung wies.)
Ob einer oder mehrere, Du bist ein aufmerksamer Leser und das ist entscheidend.