Aber diese vom Autor inszenierten Überraschungen sind nur Eisbergspitzen. Die insgesamt sechs Geschichten kommen als offener Brief, Nachlassnotizen oder Rede daher. Stets wird die Anredeform gewählt und auch durchgehalten. Mal ist es ein Hilferuf des kranken, erfolg- und mittellosen, aber scheinbar omnipräsenten Schriftstellers Johann Peter Lyser (1804–1870), dann die nachgelassenen Notizen von Robert Fitz-Roy, des Kapitäns der »Beagle«, jenes Schiffes, mit dem Charles Darwin Südamerika umschiffte und seine Evolutionstheorie Formen annahm. Dann wird in einer Art Festrede die Arbeit eines Forschers über die »Wortsymmetrien des Inuit-Unupiaq« referiert und die Sprache der Inuit anhand einer kleinen Erzählung illustriert. In der Titelgeschichte wendet sich ein (fiktiver?) Drehbuchschreiber namens Erckmann an NS-Filmgrößen und entwirft detailliert einen Propagandafilm über Alois Musil und dessen Gegnerschaft zu Lawrence von Arabien um 1917. Es ist bedauerlich, dass ausgerechnet die Titelgeschichte zu einem eher langweiligen Szenario gerät. Erckmann schreibt dann in der letzten Geschichte unmittelbar nach dem Krieg (aus »Dr. Goebbels« wird dann in der Rückschau »Goebbels« und der Doktortitel pejorativ verwendet) an Wolfgang Liebeneiner, um einen irgendwie eindringlichen Film über eine »Deportation auf dem Fahrrad« zu entwerfen. Dazwischen erfahren wir aus der Gefängniszelle von einem gewissen Norbert Verdonck, wie dieser zusammen mit Albert Göring den NS-Staat mit gefälschten Mittelalter-Stilleben (teilweise konspirativ-humorige Kunstfälscher-Atmosphäre!) um wertvolle Devisen gebracht haben will. Leider existieren jedoch für seine Taten keinerlei Beweise mehr – die gefälschten Bilder sind verschwunden oder wurden vernichtet, womit diese Verteidigungsschrift selber wiederum falsche Behauptungen aufstellen könnte.
Diese sechs Eisberggeschichten zu untersuchen und das Wahre vom Gefälschten zu trennen, dürfte ein mühsames, am Ende vielleicht unmögliches Unterfangen sein. Anfangs noch im heiter-melancholischen Ton erzählt (von Ferne erinnernd an den großen Jean Paul), wechselt das Tremolo in den letzten drei Geschichten, die sich dezidiert mit dem Nationalsozialismus beschäftigen fast notgedrungen. In allen Erzählungen gibt es Anmerkungen »des Herausgebers«, die eine wie auch immer wissenschaftliche und einordnende Funktion suggerieren, aber auch fiktionale Fangstricke darstellen. In der letzten Geschichte, in der in wahrhaft epischer Breite ein Filmszenario mit dem Kern einer Deportation einer Jüdin auf einem Fahrrad nacherzählt werden soll, wird die Thematik zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden bzw. diese zu vermischen exemplarisch ausgeführt. Denn tatsächlich betont der Drehbuchschreiber, dass dieser Vorgang zwar stattgefunden habe, aber eben in andere Kontexte verändert dargestellt und entsprechend dramatisiert werden müsse. Durch die ausgiebig untergebrachten »Regieanweisungen« wird von der Intensität der Geschichte des Polizeibeamten, eine alte Jüdin wenige Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner im sicheren Wissen um das Ende des sogenannten »Dritten Reiches« noch einem KZ-Zug zuzuführen, immer wieder abgelenkt. Die stärkste und eindrücklichste Passage ist dann auf den letzten drei Seiten das Herausstellen der perversen (an Goldhagens These erinnernden) Eigeninitiative dieses Dorfpolizisten, der eben nicht auf Befehle reagiert habe, sondern den Anweisungen seiner Vorgesetzten zuvorkam und es sich damit um eine »systematische Ermordung« gehandelt habe. Am Ende weiß man, warum es diesen Film nie gegeben hat.
Wie geht man nun als Leser mit solchen Geschichten um? Es ist ja längst Usus, dass in der zeitgenössischen Literatur historische Tatbestände nicht nur fiktionalisiert, sondern auch historische Personen direkt in fiktionale Ereignisse eingebettet werden. Es geht nicht mehr darum zu erspüren wer vielleicht der fiktionalen Figur entsprechen könnte. Verfremdungseffekte sind obsolet und werden durch eine Art Vexierspielästhetik ersetzt. Die fiktionale Figur entspricht zumeist niemandem mehr bzw. wird aus existierenden Persönlichkeiten zusammengebastelt. Sie tritt nicht aber nicht nur in die Geschichte ein, sondern interagiert direkt mit den historischen Protagonisten. Ihr widerfährt nicht nur Geschichte – sie schreibt sie mit. Tatsächlich wird dabei vom Leser eine über die bloße Lektüre hinausgehende Bereitschaft zur Beschäftigung mit der verhandelten Materie vorausgesetzt.
Im Fernsehen hat sich längst ein Verwandter dieser Erzählform, das »Doku-Drama«, herausgebildet. Das ist erträglich, solange der Zuschauer in die Lage versetzt wird, Dokumentation und Fiktion zu trennen. Ein Meister dieser Form ist zum Beispiel Heinrich Breloer, der erfundene, aber mögliche Ereignisse von den überlieferten absetzt. Wenn jedoch eine Diversifizierung nicht mehr möglich (und auch nicht mehr gewollt) ist stellt sich die Frage, welche Verantwortung ein Script-Schreiber oder Schriftsteller mit solchen Verquickungen eingeht.
Im »Büchermarkt«-Duktus des Deutschlandfunks wurde kürzlich in Bezug auf Marcel Beyer diese Unschärfe zwischen Dokumentation und Fiktion in der Literatur als »Geschichte gebrochen durch ein Prisma der Imagination und der Erzählposition« bezeichnet. Es ist schwierig, diese Form der historisierten Erzählung mit Vorbehalt zu betrachten ohne etwa in Verdacht zu geraten, die Gegenposition, einem kruden Neo-Realismus, das Wort reden zu wollen. Aber zuweilen ist die Frage erlaubt, warum mit historischen »Promis« eigentlich ein solches Namedropping betrieben wird? Geht es um darum, Neugier oder Aufmerksamkeit beim Leser zu erzeugen? Soll damit eine Verdichtung an die jeweilige Zeit erzeugt werden? Im konkreten Fall heißt das beispielsweise: Warum erzählt Kühn nicht die Geschichte von Alois Musil und Lawrence von Arabien direkt, sondern implementiert hier die Drehbuchschreiber-/Propagandafilm-Perspektive? Und warum ist Wolfgang Liebeneiner der Adressat der Figur Erckmann?
Dieter Kühn, der vollkommen zu Recht von Denis Scheck als einer der »großen deutschen Erzähler« gelobt wird, ist zu klug, um auf einfach einem »Trend« in der zeitgenössischen Literatur zu folgen. Seine »gefälschten Geschichten« (ohne Fragezeichen) sind genau gesetzte und konstruierte Prosa. Sie verlangen geradezu eine Nachbearbeitung (früher das Lexikon, heute der Rechner). Es gibt einen doppelten Boden; vielleicht sogar mehrere. Und es hat einen Sinn, warum Kühn so schreibt, wie er schreibt. Ich gestehe jedoch, die hintergründige Textur, die Intention des Geschriebenen, trotz diverser Recherchen allzu selten verstanden zu haben. Das spricht nicht gegen das Buch. Vielleicht sogar im Gegenteil.
Herr Keuschnig, sie schreiben:
»Aber zuweilen ist die Frage erlaubt, warum mit historischen »Promis« eigentlich ein solches Namedropping betrieben wird? Geht es um darum, Neugier oder Aufmerksamkeit beim Leser zu erzeugen? Soll damit eine Verdichtung an die jeweilige Zeit erzeugt werden? «
Ich bin der festen Überzeugung, solchen Autoren mangelt es an eigenen Ideen und Figuren. Der Autor versucht seine Story durch historische Persönlichkeiten aufzuwerten.
Das muss ich lesen.
Ich glaube es besteht ein Unterschied darin, einen Roman über eine reale (lebende oder tote) Person zu schreiben (und notwendige »Hinzudichtungen« vorzunehmen) oder eine frei erfundene Person mit »realen Personen« in Interaktion treten zu lassen. Das Musterbeispiel aus der jüngsten Zeit ist Littells Dr. Maximillian Aue aus den »Wohlgesinnten«. Diese Figur tritt im Laufe des Romans mit nahezu allen Nazi-Größen in Kontakt und nimmt sogar Einfluß auf deren Entscheidungen. Das erinnert von Ferne an Woody Allens Humoreske »Zelig«, kommt hier aber mit entsprechender »Seriosität« daher. Am Ende beißt Aue dann noch Hitler in die Nase. Da frage ich mich: Warum? (Man könnte natürlich auch antworten: Warum nicht?, aber das erklärt es nicht.)
Kühn droppt in der letzten Geschichte den deutschen Schauspieler und Regisseur Wolfgang Liebeneiner als Empfänger des Briefes des Drehbuchschreibers. Schon im Wikipedia-Artikel kann man Liebeneiners Verstrickungen im NS-Filmapparat nachlesen. Der Leser wird also entsprechend konditioniert (falls er sich »weitergebildet« hat). Für Liebeneiner ließen sich auch noch diverse andere Protagonisten finden. Warum also dieser Name? Warum diese Festlegung? Zumal das »Promi«-Argument hier fast gar nicht greift – Liebeneiner ist nicht allgemein bekannt (1987 verstorben).
Ich glaube nicht, das hier Phantasielosigkeit vorliegt (das mag höchstens für Trivialautoren gelten).
Noch eine Ergänzung: Vereinfacht könnte man sagen, dass es um Simulation von Authentizität versus Vertrauen in die Kraft der Fiktionalität geht. Wer, wie Littell, seinen Protagonisten derart in den Vordergrund schiebt und ständig um Authentizität buhlt bzw. diese bewusst bricht, vertraut am Ende seiner Erzählung selber nicht.
Es geht mir nicht darum, dass in Romanen historische Details den (oft genug nur vorläufigen) Wahrheiten zu entsprechen haben. Schon Shakespeare (oder der, der dafür gehalten wird) nutzte das Drama, um geschichtliche Ereignisse darzustellen. Das Theater war seinerzeit ein Medium mit sehr großer (auch didaktischer) Wirkung und hatte fast Monopolcharakter. Schiller knüpfte daran an. Wobei der »Wilhelm Tell« komplett erfunden ist und doch den Gründungsmythos einer ganzen Nation darstellt.
Was ich hier lese, lieber Keuschnig, macht mich sehr neugierig. Ich liebe Bücher mit der Notwendigkeit zur Nachbearbeitung. In meinen frühen Jugendjahren habe ich durch die »Nachbearbeitung« der Bücher von H. Miller sehr viele Hinweise auf andere Lektüre bzw. Autoren gefunden. Das war durchaus eine Bereicherung.
Vielen Dank für den Hinweis auf dieses Buch und Ihre ergänzenden Anmerkungen dazu!
Merci!
@chargesheimer
Sehr gut!
(Ihre Lektüreeindrücke würden mich sehr interessieren; gerade auch als Kontrapunkt.)
Was ich nicht besonders mag – oder sagen wir: als Leser wenig bereichernd finde – sind Anspielungen, Namen, Hinweise, etc., um ihrer selbst willen. Warum sollte ich dem folgen wollen? Einer Art Rätselrallye wegen?
Es müsste sich eine Art Logik oder Stimmigkeit finden lassen. Womöglich eine Befragung der Geschichte: Was wissen wir tatsächlich? Was haben unbekannt gebliebende Personen bewirkt? Wie sehr können wir unseren historischen Erzählungen vertrauen?
Eine weitere Möglichkeit wäre der Versuch, die Entstehung von Kultur darzustellen und sichtbar zu machen (der erwähnte Dokumentarfilm).