Da ist es also wieder: ein neuer Literaturkanon. Diesmal geht es um »Europas Weltliteratur«. Von Zeit zu Zeit liest der Literaturkritiker die Alten so gern, dass man dies unbedingt allen anderen mitteilen möchte. »Rp.« lautet die Abkürzung auf den ärztlichen Rezepten und »recipe« rufen die Feuilletonisten in die sich längst verzweigende Leserschaft hinein und stellen Ärzten gleich Rezepte gegen Lesefrust und ‑überdruß aber vor allem ‑überfluss aus. Aber wie schon dieses Ärztelatein nur noch Residuen eines einst stolzen Standes dokumentiert, so verpuffen am Ende die Imperative, Empfehlungen oder einfach nur gut gemeinten Ratschläge im »anything goes« der angeblich nach Orientierung ächzenden Leserschaft. Und das ist eigentlich gut so.
1978 von Fritz J. Raddatz begründet und mit verblüffend transparanten Kriterien, werden die Intervalle zwischen den immer wieder aufkommenden Kanons geringer. Und die Inhalte immer redundanter. 1997 löste Ulrich Greiner in der »Zeit« eine neue Kanondebatte aus und fragte, was Schüler lesen sollten. Prominente beantworteten diese Frage und am Ende wurde ein »Offenbarungseid« in der Kanon-Diskussion festgestellt. 2001 begann Marcel Reich-Ranicki seinen Kanon vorzustellen (Webseite). Er wandte sich dabei eher an Erwachsene, sparte aber auch nicht mit Vorschlägen für den Schulunterricht. Dabei fungierte mal der »Spiegel« mal die »FAZ« als PR-Abteilung. 2002 startete die »Zeit« eine weitere Kanon-Debatte. Diesmal ging es um eher um Kinder- und Jugendbücher und 2003 um Lyrik. Auch Joachim Kaiser wollte da nicht zurückstehen. Ursprünglich benannte er 20 Bücher, später dann 1000 . Die Dämme brachen immer schneller. 2004 begann die »Süddeutsche Zeitung« wöchentlich mit der Publikation eines Romans oder Erzählung aus dem 20. Jahrhundert. So ließen sich Standardwerke für preiswertes Geld erwerben. Die Crux: einige Autoren fanden aus rechtlichen Gründen keine Berücksichtigung; Verlage und/oder Autoren (oder Erben) untersagten die Veröffentlichung in einer solchen Reihe. Dennoch war die Reihe, die mehrfach variiert wurde, ein großer Erfolg. Und ob die Protagonisten nun Elke Heidenreich (die natürlich das Wort »Kanon« ausdrücklich ablehnte) oder Hellmuth Karasek hießen – man hatte das Gefühl, jeder feuerte nun ungefragt seine Kanones auf die Leser. Diese kamen vor lauter Begründungsliteratur kaum noch zum Lesen der eigentlichen Bücher.
Nach einer kleinen Ruhezeit also jetzt wieder ein Kanon. Die blumigen Worte von Iris Radisch vermögen kaum zu camouflieren: Kanon-Debatten des Feuilletons drohen durch die Wiederkehr des nahezu Immergleichen zur Berichterstattung über Krokodile in Baggerseen während der Sommerzeit zu verkommen: Man zuckt irgendwann nur noch die Achseln. Während Redakteure und freie Schreiber in kurzen Aufsätzen mit den kanonisierten Werken brillieren dürfen, weht ein Hauch von Didaktik um den rauchenden Leserkopf; manchmal glaubt man, den Duft der Schulbänke zu riechen. Diese Form der Ranking-Listen sind nicht nur Versuche das Feuilleton als ästhetische Instanz zu revitalisieren bzw. zu konservieren. Dabei ist es nicht schlimm, dass sie allesamt subjektiv sind aber mit Objektivität spielen. Ärgerlich ist ein anderer Punkt: Trotz gegenteiliger Angaben wird zwangsläufig eine Vollständigkeit suggeriert, die jegliche Lust auf das Außergewöhnliche, das Selbst-Gefundene abzuwürgen droht. Der Blick für das Abseitige kommt zu kurz. Ein Kanon suggeriert Antworten auf Fragen, die nicht beantwortbar sind. Statt Bücher als Ausgangspositionen für eigene Entdeckungsreisen in der Literatur zu machen und die ausgelegten Spuren neugierig aufzunehmen, werden dem Leser Listen präsentiert, die eine neue Übersichtlichkeit in der unübersichtlichen Literaturwelt vorspiegeln. Statt den Leser sich selbst bilden zu lassen, wird er »verbildet« (freilich gut gemeint und mit ehrenhaften Absichten) . Die Erfahrung des »schlechten Buches« und/oder das Scheitern an und mit einem Werk soll ihm erspart werden. Aber gerade dies wäre wichtig.
Ein Kanon impliziert ein Versprechen: wer ihn gelesen hat ist ein besserer Mensch. In postmodernen Zeiten genügt zunächst einmal der Besitz, um wenigstens das Fegefeuer zu erreichen. Und so hat denn vielleicht der Handel was davon (und nicht nur Amazon, hoffentlich). Der Leser kann Kanon-Diskussionen längst überschlagen. Und ein Buch zur Hand nehmen.
Ich betrachte diese Kanonitis weniger als ein Versprechen als eine Drohung. In ihr finden zwei Formen des Schreckens zusammen: die unendliche Gesamtheit der Weltliteratur mitsamt der Ohnmacht, tatsächlich nicht alles gelesen haben zu können, und eine Ausgrenzung von Werken, die die Vorstellungswelt der Kanoniker übersteigen und damit zugleich ihre Ohnmacht vor dem Phänomen der Faszination belegen. Denn ihr wird durch jeden Kanon der Garaus bereitet.
Wer den Kanon ausruft, besiegelt die eigene Kapitulation.
Ich freu’ mich schon so auf die Ausgabe, in der das Kehlmann kanonisch wird! Spätestens damit ist die Allgemeingültigkeit des Schwachsinns endlich etabliert! :-)
Schon klar, diese Großkritikerattitüden haben etwas Anmaßendes, Klein-Denkendes – dazu die Insinuationen, so was loszutreten. Aber was ist mit den diversen Bedürfnissen nach Orientierung? Jede Disziplin will sich doch ab und an mal in einem größeren Raster ihres Standes versichern. Und immer noch gibt es Leser, die mangels eigener Übersicht gerne den kompetenten (oder den wenigstens zeitlich gut abgehangenen) Rat anderer annehmen, da sie ahnen, dass sie mit Bestsellerlisten und Buchpreis-Getöse nur die von einem Markt Anvisierten aber nicht die Gutberatenden sind.
Und was ist mit den Wünschen nach „Evaluationen“, nach Nachhaltigkeit, nach den auch mal öfter wieder zu aktualisierenden Bewertungskriterien, denen man selber doch auch überall unterliegt, auch ohne den ganzen Hitparadenschwachsinn, an denen Menschen sich bei ihren Überforderungen aber gerne ausrichten? Was ist mit dem eigenen Kanon, den doch jeder für sich hat? (Und den auch professionelle Kritiker gerne mal untereinander abgleichen.) Was ist mit der Suche nach Gemeinsamkeit? Was ist mit dem Recht (der Chance) mal wieder auf Debatte?
Um von mir zu reden: Auch ich hatte das eigentlich nur mal so überfliegen wollen, merkte aber auf einmal, dass ich (z.B. – Michel Butor) schlicht vergessen hatte – und finde ihn, als ich ihn aus dem Regal ziehe, wieder lesenswert. Auch die SWF-Bestenlistensendung damals habe ich ab und zu angesehen: Zur eigenen Orientierung kann auch dienen, was die anderen (und sei es noch so verirrterweise) dafür halten.
Das Abseitige wird das Abseitige bleiben, das schlechte Buch hat doch gar nicht die Halbwertszeit, als Marker zu dienen. Ich denke, man muss doch bei all der neuen alten Unübersichtlichkeit zugeben, dass dieser Bedarf nach Übersicht nicht wegzulächeln ist. Ich jedenfalls misstraue längst meiner eigenen, lange eingebildeten Kennerschaft. Zwar schaue auch ich da nicht gleich nach dem hilfreichen Ranking. Aber ertappe mich immer öfter bei dem (mal so, mal so empfundenen) Eingeständnis: Ich kenne mich nicht mehr aus.
@en-passant
Ja, schon. Da ist dieses Bedürfnis nach Orientierung. Aber durch wen wird es »bedient«? Und was ist so originell bei Reich-Ranickis Kanonaden, Goethe, Schiller, Kleist und Heine zu empfehlen? Oder Karaseks Empfehlungskanon? Wo ist da die eine Entdeckung? Oder, wenn schon, das eine originelle Element? Nirgends.
Einverstanden, dass man über das redet, was Schüler lesen könnten (oder sollten?). Aber wer redet darüber, wie Lehrer Literatur vermitteln können? Wie sie dem Schüler nicht durch Überinterpretationen die Literatur verderben? Als käme es auf die Bücher an. Wieviele kann man davon im Unterricht lesen? Das Schlimme: Literatur wird immer noch von Menschen, die ich sehr schätze, mit »spitzen Fingern« angefasst. Sie sind nicht davon abzubringen, dass es sich um elitäres Geschreibsel handelt. Um es salopp zu formulieren: Sie sind durch den Schulunterricht traumatisiert (ich kenne das in Bezug auf Sport). Wird das durch einen Kanon verändert? Am Ende ist das doch wie ein guter Vorsatz zum Jahresanfang: Nach drei Wochen hat man’s wieder vergessen.
Natürlich gleiche ich auch diese Listen ab und schaue, was ich davon gelesen habe – und was nicht. Ich halte es auch für gut, dass ein Buch wie Ivo Andrićs »Brücke über die Drina« in einem »europäischen Kanon« steht. Aber ich habe mit dem Verschenken dieses Buches nur Schiffbruch erlitten: Einmal nannte man es zu brutal und ein andermal zu »anspruchsvoll«. Was nutzt ein Kanon, wenn die Bausteine für ein Verständnis von Literatur fehlen?
Die SWF-Bestenliste-Sendung (mit Hubert Winkels auf 3sat) hatte ich auch immer gesehen. Zumal sie unterschiedliche Herangehensweisen zeigte (Autorengespräch; Rezension; Lesung; Kritiker-Streitgespräch). Aber auch eine solche Sendung ist mehr als bloßer »Tipgeber«; sie richtete sich an den (sogenannten) »fortgeschrittenen« Leser. Konsumenten für Unterhaltungsliteratur konnten damit nichts anfangen. Ein Kanon ist ein Widerspruch in sich: Der wirklich anspruchsvolle Leser »spielt« mit ihm höchstens (als Vergleichsmedium). Derjenige, der zum Lesen gebracht werden soll, kann wenig bis nichts damit anfangen.
Es gibt doch gar nicht EINEN Kanon, sondern viele. Solange ich sie deskriptiv wahrnehme finde ich sie auch interessant und oft sogar erheiternd: Reich‑R und seine Jünger finden das und das sollte man gelesen haben, aus dem und dem Grund usw. Erst wenn Sie normativ auftreten oder von dritten dazu herangezogen werden, also wenn doch ein Anspruch auf EINEN Kanon erhoben wird, wirds auch hakelig – und noch interessanter, weil wir dann mitten in allen möglichen Diskussionen stecken, über unser Kulturverständnis, unser Bildunsgverständnis, über deren Vermittlung usw. usf. Interessant auch, dass seit PISA usw. die Kanondebatte wieder eine ist (Frequenz).
Wer fordert von einem Kanon Originalität? So wie ich ihn verstehe (oder eben: bisher zu verstehen gewohnt bin), geht es da eher um Verbindlichkeiten – die dann auch jedermann wiederum Spielräume bieten. Selbst der Beflissenste wird seine Vorlieben ja mit den ihm vorgeschlagenen abgleichen wollen.
An den Aspekt der damit verbundenen Vermittlung – die dann ja wiederum ein anderer, ein zielgerichteter Akt wäre -, habe ich da noch gar nicht gedacht. Offen gestanden: das interessierte mich auch nicht. Auch hier war es Radisch, die mal vor Längerem konstatierte (und ich stimme damit überein), dass Literatur eben nicht für alle ist – und warum soll man anderen mehr abverlangen als die von sich selbst bereit sind? Wegen dem Gespenst der eigenen Bildung in den Köpfen der Wissenderen?
All diese enttäuschenden Fernsehsendungen etwa (die mit dem Kulturauftrag noch irgendwo in den Staatsvertragskulissen), die mit dubiosen Prominenten irgendwelches „Lesen“ befördern wollen und deren Kanon die halbjährliche Saison und das Genöle über deren medial einzuspeisende Stars und Pflichtmarken ist – mit Verlaub: Für’n Arsch!
(Erst heute war mal wieder eine Meldung bei telepolis, dass sich die kulturellen Fertigkeiten weg von den sprachlichen entwickeln – wohin auch immer. Und jeder, der sich damit versucht, weiß sicher auch, dass er da mit seinen „Kanonen“ gegen Windmühlen kämpft. Und manchmal hat man [habe ich] für diese Don Quichottes ja doch gewisse Sympathien.)
Und das mit dem elitären Geschreibsel – stimmt es denn nicht? Wenn sich ein Mensch, der sich dazu eigens über Jahre zurückzieht um sich skrupulöse, komplizierte Gedanken über seine Lebenserfahrungen oder irgendwelche Hirngespinste und ihre möglicherweise ästhetische Aufbereitung zu machen und zu versuchen, dem dann auch noch eine eigene oder gar innovative Form zu geben – warum sollten solche Elaborate per se andere interessieren, die doch nur einen Knopf zu drücken brauchen und bunte Narrative bekommen, die ihnen die Welt auf der sicheren Seite der Mehrheiten bestätigt?
Ich kenne tatsächlich jemanden, der sich schon immer – und durchaus bewusst über das Lächeln hier und da über seine „deutsche“ Gewissenhaftigkeit – an die Aussagen der maßgeblichen Leute macht – früher auch gerne auch MRR – und daraus Nutzen zog / zieht. Es ist für ihn schlicht ein angewandtes Erkenntnissystem zweiter Ordnung: Da haben sich andere, Wissendere also schon Mühen gemacht… warum in einer arbeitsteiligen Gesellschaft nicht davon profitieren? Die alte Idee des Kritikers eben – der dann eben auch noch die Sortierung der Briketts an seinem Kanonenofen offen legt.
Dass immer mehr User auf sämtlichen Bedienungsoberflächen allzu bald auf sich selber vertrauen glauben zu dürfen (es zu können), wird ja gerne als „Emanzipation des Publikums“ angesehen – ist es also Empowerment der Massen oder nur deren neuere (die alte) Ignoranz? Ich vermute, auch das wird die unselige Quote dann je und je entscheiden.
(Und mir fällt gerade ein: Sie mit Ihrer ja umso notwendigeren Arbeit des Sichtens und Bewertens für eine Minderheit – und damit also einer eigenen Gewissenhaftigkeit -, geht sie, diese Arbeit, implizit nicht auch um einen Kanon? Auch ohne den Anspruch einer weitreichenderen Geltung? Vielleicht müsste man „Kanon“ nur andersrum verstehen: jeder bildet nach und seinen eigenen – und alle zusammen prägen ihn faktisch dann sowieso aus. Da wären die Überlegungen zum Kanon von „Literatur-Päpsten“ und Nachfolgern dann eben Begleitmarken, die die Diskussion darüber am Leben halten helfen. Wirklich stören werden sie damit wohl nicht.)
@en-passant
Was ist denn ein Kanon? Eine »TO-DO-Liste« des literaturaffinen Bildungsbürgers? Wenn ich die mangelnde Originalität kritisiere, dann hat mit der Banalität von Empfehlungen wie Goethes »Faust« oder Thomas Manns »Zauberberg« zu tun. Steht eigentlich im Knigge, dass man sich nach dem Toilettengang die Hände waschen soll? (Ich weiss, dass das heute auch nicht immer praktiziert wird, aber -?) Warum müssen Selbstverständlichkeiten mit Brimborium »kanonisiert« werden?
Ich bin nicht der Meinung, dass Literatur per se elitär ist. Vielleicht ist der Dichter das (gewesen), aber – ich strapaziere es noch einmal -: ist der »Faust« elitär? Mindestens »Faust I« ist für jeden guten Willens (und entsprechender Bildung) verständlich. (Mir kommt gerade der Gedanke, dass man Bildung schon als elitär finden könnte. Tatsächlich ist es ja keine kein Problem mehr sein Unwissen in zum Teil trivialen Dingen zu bekennen.)
Das Bild von der Sortierung der Briketts gefällt mir sehr gut (ich bin mit Kohlenöfen aufgewachsen – und der entsprechenden Patina auf den Gegenständen in den Räumen). Nach dem oben Gesagten stört mich dann einfach der dauernde Hinweis des Sortierers, wo die großen und die kleinen Briketts liegen. Als sei dies nicht halbwegs eindeutig.
Interessant was Sie zu meinen Begleitschreiben sagen. Aber ich glaube, das ist eine Verwässerung des Kanon-Begriffs. Das, was ich lese (und dann beschreibe) ist zum Teil zufällig und eine höchst subjektive und zuweilen spontane Auswahl, die alleine schon aufgrund des amateurhaften dieses Unternehmens keinerlei programmatischen oder generalisierenden Anspruch erheben kann. Wenn man dies als Versuch eines eigenen Kanon interpretieren würde, wäre jede Lektüre praktisch ein Mosaiksteinchen, das am Ende ein Bild ergibt. Das ist aber eher nicht der Fall – und auch gar nicht beabsichtigt. Es ist eigentlich mehr das, was Sie ein bisschen verächtlich als »Emanzipation des Publikums« nennen. Das, was ich mache, ist eine Selbst-Emanzipation von oktroyierten Zugängen zur Literatur (zugegeben mit durchaus interessierten Seitenblicken zu den »Meistern«). Ich gestehe, inzwischen nur noch sehr wenige sogenannte Rezensionen im Feuilleton zu lesen. Ist das schon Hybris?
Und natürlich ist Literatur nicht durchgängig für alle da. Obwohl man den »Faust« verstehen kann und sollte. Aber wenn man es nicht will, ist es auch gut. Aber damit erreicht man dann auch mit einem Kanon keinen neuen Zugang.
Wenn überhaupt ein »Kanon« dann einer der abseitigen Bücher, der nicht eingängigen und so unendlich bekannten. Ein solcher Kanon ändert sich auch. Also alles das, was die Berufskanoniker nicht so gerne haben.
Ich will jetzt absichtlich nicht nachsehen woher „Kanon“ etymologisch stammt – ich verstehe es als etwas kulturell Gemeinsames, auf das sich Geschmack, Überlieferung und gesellschaftliche Bemühungen mal einigermaßen geeinigt haben. Eine Qualitätsorientierung auch. Find ich eigentlich nichts Schlechtes – man merkt erst, was mit einer Sache verloren ging, wenn sie fehlt.
Was Sie mit Ihren Beispielen banal nennen ist z.B. ziemlich genau, was etwa mein Vater noch darunter versteht: Goethe und Mann bleiben für ihn die Größten (obwohl er alles, was ich ihm zu lesen gebe verschlingt und auch kritisieren kann: Er hat, nicht zuletzt mit seinen fixen aber ebenso eine Offenheit fördernden Referenzen, sein Instrumentarium).
Weiter aus meiner Sicht: Als ich vor etwa 10 Jahren noch mal eine herausfordernde Bildungsanstrengung unternommen habe (in einer allerdings dezidierten modernen Disziplin) kam einmal die Sprache auf die Sprache bzw. das moderne Unvermögen damit: Alle hatten sich über angeblich kompliziert zu lesende Arbeitstexte beklagt. Ich war der Älteste unter etwa 12 Leuten, und als ich einmal, schüchtern, als Beispiel, Thomas Mann erwähnte, stöhnten alle auf und verwarfen dann auch prompt, was ich sonst während dieser Veranstaltung noch von mir zu geben hatte. Der Kanon war also nicht nur, dass seine ehemalige Verbindlichkeit schon nicht mehr anerkannt wurde, sondern auch, dass man sie ausdrücklich verweigerte – übrigens aus völlig unreflektierten Gründen. So what. Vielleicht wird ja einmal Harry Potter der Kanon sein? Den liest ja anscheinend jeder. – Was ich damit sagen will, ist: Ihre Selbstverständlichkeiten sehe ich schon gar nicht mehr. Es könnte dennoch weiterführend sein, auf welche zu bestehen, oder zumindest auf sie zu verweisen. (Ändert wird es wohl nichts.)
Nein, Literatur ist auch für mich nicht elitär. Ich habe mal jemandem, der ausdrücklich keine Bücher las, eines von Peter Bichsel gegeben – er fragt mich heute noch nach Lesetipps.
Aber Eindeutigkeiten sehe ich tatsächlich auch nicht mehr – ich sehe persönliche Interessen und Neugierden, schlichte Zufälle oder eben medienangeregtes Lesen. (Wie jetzt die Shades of grey, die überall verrissen werden, über die trotzdem aber alle schreiben müssen und den also ganz viele lesen werden usw., so, wie die Maschine eben geht.)
Eigentlich meint das dann: Der Kanonbegriff selbst ist tatsächlich verwässert. Schon in der Haltung gegenüber dem, was er meint. (Als ich einmal beim Zappen in einer Quizsendung an einer mich neugierig machenden Frage hängen blieb, war die nächste gleich wieder etwas aus dem TV-Trivial-Bereich – ich verstand: Ich bin es, der einem Kanon – hier: einem schlichten common sense an Alltagswissen – nicht gerecht werde.)
ABER: Ich bin auch Publikum! Und mir haben sie in der Schule noch zu versagen versucht, was an Schund ich doch besser erst gar nicht an mich ranlasse (u.a. auch noch Comics, die heute als 7te – oder 9te? – Kunst propagiert werden; »graphic novel«). Das mit der „Emanzipation des Publikums“ war also nicht verächtlich gemeint. Es geht viel mehr, euphemistisch gesprochen, um das für mich oft unbefriedigend ausgehende Verhältnis von Mehr- und Minderheiten, und wie „mit den Füßen abgestimmt wird“, bald auch über die jetzt noch mögliche (im zur Disposition stehenden Geschäftsmodell) vorkommende Literatur.
Ein Kanon des Abseitigen ist natürlich ein Widerspruch in sich – obwohl es ihn wohl auch gibt. (Mir fallen da sofort die üblichen Verdächtigen ein. Gähn!)
Ein Kanon im herkömmlichen, »überlieferten« Sinne aber, als ideelles, gemeinschafts-identitäres Gebilde, könnte womöglich doch helfen, ein Minimum an Verbindlichkeiten zu halten. – Warum nicht, wenn die Salafisten auch ihren Koran verteilen? Ich fürchte nur (und das ist ohne eigenen Bitter oder so gesagt), zu Ihrem Faust und Thomas Mann reicht es schon jetzt nicht mehr.
@en-passant
Formal ist ein Kanon genau das, was Sie beschreiben. Aber die Frequenz der Restauration (!) des Kanonischen zeigt, dass der Firnis abgeblättert ist. Insofern hätten Sie recht und meine These des Selbstverständlichen wäre zu hoch gegriffen, weil nicht mehr oder kaum noch existent. Aber darum geht es doch: Wie sollen ihre elf Mitstreiter auf Thomas Mann »vergattert« und von ihm überzeugt werden? Die Verständigung funktioniert nicht mehr. Und dies aus zwei Gründen: zum ersten aufgrund der Verflachung des Kulturellen. Zwar gibt es noch trefflich großartige Intellektuelle, die miteinander und untereinander (auch öffentlich) kommunizieren. Aber die sind längst in die dann tatsächlich elitäre Nische abgedrängt worden. Der andere Grund ist der Interessantere: Es ist nicht mehr notwendig über »kanonisches Wissen« zu verfügen, um etwas zu »gelten«. Fast ist sogar das Gegenteil der Fall: Es ist eher störend, gilt als »abgehoben« und erlaubt so dem Mainstream die Denunziation all dessen, was er nicht auf Anhieb einordnen und verstehen kann (wieder passt da das Beispiel der 12 und der angeblich so schwierigen Arbeitstexte).
Aber was soll da noch ein Kanon bewirken? Wen soll er erreichen? Die Neureichen, die auf Distinktionsgewinn durch die üppige Wohnzimmerwand reflektieren? Oder der Harry-Potter-sozialisierte Abiturient, der jetzt endlich gesagt bekommt, was er eigentlich hätte gut finden müssen und stattdessen bei Vampir-Romanen angekommen ist?
Damit ich nicht falsch verstanden werde: Etwas wie eine gemeinsame Lektüreerfahrung für den Literaturinteressierten existiert durchaus. Aber nicht als Postulat oder gar in Dünndruckausgabe. Es existiert als eher virtuelle Übereinkunft. Daher war ich auch schockiert, als eine Literaturclub-»Kritikerin« (Doktorin!) freimütig gestand, noch nie etwas von Kleist gelesen zu haben. Das unterschwellig vorausgesetzte Wissen um »Basis-Literatur« ermöglicht natürlich erst einen Referenzrahmen für Urteile (wie Sie es bei Ihrem Vater beobachten). Aber was ist, wenn diejenigen, die heute von und über Literatur (berufsmässig) reden, diesen allgemeinen, vorausgesetzten Referenzrahmen nicht mehr zur Verfügung haben?
Manchmal überkommt mich das Gefühl, dieser Versuch des Wiederholens einer längst vergangenen Ernsthaftigkeit geschieht als eine Art Tätigkeitsnachweis des Feuilletons: Man möchte nochmal darauf hingewiesen haben. Die Frequenz der Neuauflagen lässt womöglich ahnen, wie es tatsächlich steht.
Handke hatte in den 80er Jahren noch von dem »Volk der Leser« geschwärmt bzw. es herbeigesehnt. Er sah es vor allem in Deutschland; es gibt mehrere Textstellen hierüber. Irgendwo sprach er mal von 30.000 Leuten, die diesem imaginären, versprengten »Volk« abgehörten. Mitte der 90er beendete er dieses Ideal in der »Niemandsbucht«. Vielleicht hat jemand andere, aktuellere, nicht so idealisierte Zahlen. Ich glaube, dass es nicht mehr als rd. 15.000 Menschen in Deutschland sind, die sich halbwegs seriös mit Literatur beschäftigen. Davon sind dann noch etliche Uni-Mitarbeiter und natürlich ganz viel Presse. Wer braucht da noch einen Kanon?
Niemand braucht einen Kanon, wirklich niemand. Die Lektürebiographie jedes Menschen ist absolut subjektiv und persönlich. Ich verweise hier nur nebenbei auf die 30 prägenden Bücher des Alban Herbst:
http://albannikolaiherbst.twoday.net/topics/PR%C3%84GUNGEN/
Das sind ganz unkanonische Bücher zum Teil, aber den Herbst haben die geprägt und er beschreibt den Prozess der Prägung durch genau diese Bücher so gut, dass man ein Bild davon bekommt, was Bücher für die eigene Lebensführung bedeuten können. Genau so habe ich das auch erlebt, bloß mit ganz anderen Büchern. Deswegen würde ich auch einer Frau, sei sie nun Doktorin oder nicht, nicht absprechen, dass sie sich seriös mit Literatur auseinandersetzt, bloß weil sie Kleist nicht kennt. Ich selber liebe Kleist und den Prinz von Homburg halte ich für das beste Theaterstück überhaupt, achte ihn höher als den Faust, aber ich würde nie sagen, dass einer, der meinen geliebten Kleist nicht kennt, nicht über Literatur sprechen darf, weil er (bzw. sie) ja augenscheinlich nicht mit dem Kanon der allgemeinen Bildung vertraut ist. Meine ehrliche Meinung: Schmelzt die Kanones ein zu Pflugscharen!
Der Zweck des Kanons in der »Zeit« ist es, Seiten zu füllen und zugleich dem eigenen Anspruch, ein Kultur-Blatt und eine Meinungsführerin zu sein, gerecht zu werden. Der Kanon von MRR dient zum Beispiel dazu, um sich wichtig zu machen.
Zweck eines Kanons kann es auch sein, dass erfahrenere Leser jenen, die mit dem Zugang zu dem, was man traditionell als Kultur begreift Schwierigkeiten haben sinnvolle Einstiegshilfen und Grundlagen zu geben, die sich bei einigen anderen bewährt haben. So ist es für bestimmte Lektüren des 20. Jahrhunderts hilfreich, bestimmte andere des 19. Jh. gelesen zu haben, um so besser zu verstehen, was und warum es die späteren Autoren so machen. Natürlich ist die Kenntnis des Kanons keine unabdingbare Voraussetzung für irgendwas, sondern eine Hilfestellung, wenn sie erwünscht wird.
Die Bildungsdiskussion, die ihr, wenn ich das richtig lese, hier zum Thema macht (obsolet oder nicht obsolet; individuell oder sozial; gelenkt oder selbstständig), ist gerade am Fall des Kanons ungeschickt zu führen, da dessen Voraussetzungen stark in jeweils einer Seite dieser Dichotomien wurzeln. Der funktionale Kanon als Arbeitsgrundlage und Senkung der Zugangsschwelle wird davon aber gar nicht berührt, wenn ich mich nicht irre.
@Andreas Wolf
Ihre Aussage, dass niemand einen Kanon braucht mit den 30 prägenden Büchern eines Schriftstellers zu beantworten ist – kühn.
Wichtiger: Eine promovierte Germanistin kann womöglich ganz ohne Kleist (vielleicht sogar ohne Goethe oder Heinrich Heine) auskommen. Sie sollte sich dann jedoch nicht in die Rolle der Kritikerin begeben und unter Umständen Bücher begutachten, deren Referenzrahmen sie womöglich gar nicht kennt. Das ist in etwa so, als wüsste ein Internist nichts über die Funktionsweise der Milz.
@Bonaventura
Vielleicht ist es irgendwann ein Selbstläufer das Kanon-Diskusssionen in Bildungs-Diskussionen übergehen. Dabei wäre man der Wichtigtuerei der Kulturblätter auf den Leim gegangen. Dennoch glaube ich, dass es am Ende auch eine Frage von Vermittlung von Bildung ist, ob Thomas Mann als zu »kompliziert« gesehen wird. Ich zweifle eben nur daran, dass man mit Kanons diesem Problem gerecht wird.
Wahrscheinlich soll der Kanon diesem Problem auch gar nicht gerecht werden. Er ist nur ein Hilfsmittel, um die tatsächlich vorhandene, grundsätzliche Schwierigkeit der Eintrittsschwelle in die Hochkultur (man demontiere mir bitte jetzt nicht diese Phrase; mir ist klar, dass das so Unfug ist, aber hier ist nicht der Ort oder der Raum, das so auszuformulieren, wie es sich gehören würde) abzumildern, nicht zu lösen. Der Kanon allein hilft auch gar nicht, sondern er muss eingestellt sein in eine breitere Bemühung der Kulturvermittlung. Am Ende ist das alles nur eine makroskopische Widerspiegelung des hermeneutischen Zirkels: Die Hochkultur ist nur jenen wirklich zugänglich und verständlich, die sie vollständig erfassen können, aber erfassen und verstehen kann man immer nur einzelne Werke, Epochen, Aspekte der Hochkultur, deren Verständnis aber immer unzureichend bleibt, weil der Rezipient nicht in der Lage ist, sie gleichzeitig mit allen anderen adequat in Beziehung zu setzen. Viele von uns, die sich in der anspruchsvolleren Kultur seit längerem bewegen und nicht didaktisch tätig sind, unterschätzen die daraus erwachsende Schwierigkeit. Bei der Arbeit an dieser Zugangsschwelle ist der Kanon ein Mittel unter anderen. Wie er im Einzelen aussieht, ist am Ende gleichgültig, wenn er nicht bestimmte Mindestanforderungen der Vermittlung unterschreitet.
Aber noch einmal: Mit diesen Zielen haben die Kanones der Massenmedien im Normalfall nur mittelbar zu tun; unmittelbar dienen sie gänzlich anderen Zielen, wie Massenmedien eben überhaupt.
@Gregor Keuschnig
Es bleibt das Problem, dass ohne „Vorgaben“ (die ja heute eh nur mehr Diskussionsvorschläge sein können) von – erst mal egal von woher legitimierter – Seite es keine irgendwie gemeinschaftlich ausgerichteten Orientierungen mehr gibt. Deshalb landet man bei dem Thema eben so rasch bei der Bildung: Die ja ihrerseits das klassische Kanonische ist, das also auch nicht mehr gilt.
Ich kann es auch nur für mich sagen: Ich weiß etwa noch, wie ich mich über deutsche Dichter im Curriculum lustig gemacht habe… bis ich sie dann für mich selber entdeckte.
(Ich lasse Namen hier weg – womöglich bin ich eh längst allzu affirmationsverdächtig. Mir ist bewusst, man gerät gleich in die kulturpessimistische Ecke, aber ich beklage hier gar nichts. Ich selber gehe – z.B. – auch schon lange nicht mehr ins Theater. Und womöglich ist ja Ignoranz heute eine viel entscheidendere Freiheit als Wissen? Ich weiß es nicht.)
Ich will auch für mich eigentlich Geltungsansprüche von anderen mehr nahe gebracht bekommen, jetzt bin ich schon groß. Aber ich kann nicht sehen, wieso der Versuch dazu – für mich also der, eine weniger verbindliche als fast gerade noch mögliche – Gemeinschaftlichkeit zu formulieren so verwerflich sein soll. (Die medialen- und Verwertungsaspekte und sonstigen Ambitionen und Eitelkeiten von sonst wem interessieren mich hier erst mal nicht. Aber wer als die „alten Tante“ ZEIT könnte sich das noch trauen?)
Schwundstufen also allenthalben, und bei all der in Kauf zu nehmenden Beliebigkeit und unentrinnbaren Großsprechertum – warum soll das nicht einer dürfen? Was ist der Skandal? Ich sehe wohl im Gegensatz zu Ihnen (obwohl ich etliche Ihrer Argumente teilen würde) eher die Provokation in dem Versuch zum Kanon als das Restaurative. Könnte sich doch einer mal denken… ja, Mist: Außer dem gerade Angesagten weiß ich über Literatur eigentlich nichts. Der Kanon könnte einen ebenso wie zu Rückbindungen ja auch unabsehbaren Entdeckungen bringen…
@en-passant
Wenn der Eindruck entstanden sein sollte, dass ich den soundsovielten Versuch der Einrichtung eines Kanons als Skandal betrachte, so bitte ich das zu entschuldigen. Es ist natürlich kein Skandal; fast eher das Gegenteil. Und natürlich ist diese Wiederkehr des Kanonischen auch mit Kulturpessimismus zu verbinden. Warum auch nicht? Die Phänomene, Thomas Mann oder sonstwen (um nicht immer die üblichen Verdächtigen zu nennen) als »zu kompliziert« in drei Sekunden in den Orkus zu werfen, sind ja vorhanden. Und woher kommen sie? In der Verhätschelung eines Publikums, dass man in Jahrzehnten unterfordert hat, weil man es nicht »verlieren« wollte. Da kann ein Kanon jenseits der Funktion als Leseliste einer gewissen Kulturschickeria, die damit Eintrittskärtchen für ihre Kreise zu vergeben gedenkt, sinnvoll sein.
Aber wird durch Frau Radisch jener Soft-Kultur-Konsument, der seine literarische Sozialisation in einer Gesamtschule in den 80er Jahren begann, plötzlich »Die Brücke über die Drina« oder den »Doktor Faustus« lesen? Und zwar bis zum Ende? Dabei müsste er ja noch nicht einmal »gut finden«, sondern nur durchhalten und irgendwie versuchen, für sich zu ergründen. Wer hat dazu heute noch die Geduld?
Ich habe bis Mitte der 90er Jahre an Volkshochschulen Literaturkurse besucht. Stand das Thema (ein Autor) fest und wurde die Lektüre von ein, zwei Büchern avisiert, konnte man irgendwann davon ausgehen, dass der Kurs nicht die Mindestteilnehemerzahl (8 oder 10) erreichte und nach der ersten Stunde abgesagt wurde. Ich rede nicht von Handke- oder Walser-Kursen. Es ging u. a. um Dieter Wellershoff und Cees Nooteboom, die damals recht populär waren. Mehr Erfolg war den Kursen beschieden, in denen im Vierwochenrhythmus ein Buch nach vorheriger Absprache gelesen und dann diskutiert wurde. Einmal ging es um Elfriede Jelineks »Klavierspielerin« (meiner unmaßgeblichen Meinung nach das beste Buch von ihr). Als dann die Lektüreerlebnisse besprochen wurden, war die Entrüstung groß. Man wollte »sowas« nicht lesen, rühmte sich fast des Lektüreabbruchs; Hinweise auf die Sprache der Autorin verfingen nicht. Gegen Ende lichteten sich solche Kurse immer mehr, obwohl ein fester Stamm (vorwiegend Frauen) blieb und es mit sichtlich immer mehr verflachender Lektüre weiterging. Ich stelle mir gerade diese Gutwilligen im Angesicht der beiden oben genannten Bücher vor...
Natürlich gibt es den bildungsbürgerlichen Ansatz, der Leute dazu verleitet, Rückbindungen über das bloß Aktuelle hinaus zu entdecken. Das diffamiere ich überhaupt nicht; im Gegenteil: ich achte den Bildungsbürger. Vielleicht stellt man dann fest, das etliches von dem, was man in der zeitgenössischer Literatur gefunden hat, ein wahrlich »alter Hut« ist. Die Frage ist aber, wer das wirklich »wissen« will und ob die Heidenreichs dieser Welt mit ihrem naiv-dümmlichen Affirmationsgeplapper nicht mehr kaputt gemacht haben als jene Lehrer, die auf das Auswendiglernen des »Zauberlehrlings« noch bestanden haben. Denn was Hänschen nicht lernt...
@Gregor Keuschnig
Damit ich nicht falsch verstanden werde: ich habe nichts gegen Bücherlisten, im Gegenteil. Ich mag bloß das Wort vom Literatur-Kanon nicht, weil damit immer suggeriert wird, genau diese kanonisierten Werke müsse jeder gelesen haben, der Eintritt in die geheiligten Hallen der Literatur verlangt. Daher mein Verweis auf die 30 Bücher von Herbst, weil dort erstens deutlich wird, dass für diesen Dichter Bücher von höchster Wichtigkeit waren, die von keinem Reich-Ranicki und keiner Radisch je in den Rang eines kanonischen Werks erhoben wurden. Und weil zweitens Herbst vollkommen klarmacht, dass seine Auswahl subjektiv und kontingent ist und nicht wie ein Kanon den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt.
Was die Literaturkritikerin angeht, gebe ich Ihnen im Prinzip schon Recht: wer öffentlich über Bücher urteilt, sollte vermutlich Goethe, Kleist, Mann, Kafka und noch ein paar andere sicherheitshalber gelesen haben. Und dennoch ist es so eine Sache mit dem Referenzrahmen, denn man könnte sagen: wer Thomas Mann verstehen will, muss Goethe kennen, wer aber Goethe verstehen will, muss die Schriften von Spinoza, Leibniz und Hume kennen, außerdem Homer, Vergil und Dante. Um Spinoza und Konsorten zu verstehen, muss man aber erst Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin verstanden haben, und für Homer sowieso erst mal Altphilologie studieren. So käme man nie beim Dr. Faustus an.
Andreas Wolf schrieb:
Ja, das könnte man sagen, wenn es denn nur eine adäquate Art der Rezeption gäbe. Und außerdem ist die Aufgabe gar nicht so übermächtig, wie sie sie erscheinen lassen möchten. Einfach dreißig Jahre lang fleißig lesen und sich soviel wie möglich merken, dann geht das schon.
@Andreas Wolf
Bonaventura hat Gutes und Richtiges zu Ihrem Kommentar gesagt. Ich glaube eigentlich nicht, dass man Ihren klug vorgebrachten Verästelungen (bspw. Thomas Mann -> Goethe -> Spinoza -> Platon -> Aristoteles -> Homer) zur Gänze folgen muss. Um Goethe zu verstehen, muss ich nicht zwingend Spinoza oder Leibniz »mitgelesen« haben. Und ich kann durchaus auf Kommentare anderer klugen menschen Bezug nehmen. Schließlich gibt es derart viele Facetten in seinem Werk, dass es genug andere Referenzen zu entdecken und auszuwerten gibt. Hierfür sollte es ja die Germanistik geben, die solche Phänomene herausarbeitet. Aber was ist das für eine Germanistik, die elementare Bezugsrahmen scheinbar nicht mehr zur Verfügung hat und dies auch nicht beklagt? Wenn Kanon, dann hier.
Solch einen Kanon gibt es ja, oder es gab ihn zumindest. Als ich Mitte der Neunziger mein Germanistikstudium begann, gab man jedem von uns eine Liste mit 100 Büchern in die Hand, mit der Bemerkung, die sollten wir bis zum Abschluss möglichst alle gelesen haben. Leider habe ich die Liste nicht mehr, es wäre ja interessant, mal nachzusehen, wieviele Lücken da immer noch klaffen. Dennoch bleibt die Frage: wer stellt solche Listen zusammen? Wer entscheidet über die 100 Bücher, die die unabdingbare Voraussetzung bilden sollen, um vernünftige und kompetente Germanistik betreiben zu können? Schon damals habe ich mich über den Umstand empört, dass sich auf dieser Liste nur deutschsprachige Bücher fanden. Als hätten Werke wie »Tristram Shandy« oder »Ulysses« nicht mindestens einen ebenso hohen Einfluss auf die deutsche Literatur gehabt, wie meinetwegen Adalbert Stifter. Insofern ist die Germanistik mit ihren nationalen Scheuklappen ohnehin ein seltsames Fach. Ich war froh, als ich nach vier Semestern zum Hauptfach Philosophie wechselte. Da gab es keinerlei verpflichtenden Kanon, aber ich merkte selber sehr schnell, dass man ohne Kant nicht allzuweit kommt.
Ich finde eher die Frage interessant, woher solch aufgeregte Rhetorik kommt: »unabdingbar«, »vernünftig und kompetent«, »empört«? Da stellt einer eine Leseliste zusammen, weil er viel gelesen hat und als erfahrener Leser ein ungefähre Einschätzung geben kann, welche Bücher man kennen sollte, um sich in der Literaturgeschichte auszukennen. Wer (außer Ihnen) behauptet denn, diese Lektüre sei unabdingbar? Dass es sinnvoll ist, viele deutschsprachige Bücher gelesen zu haben, wenn man Germanistik studiert, würden wohl nur einige ideologische Hardliner bestreiten wollen. Und dass man dabei besser diese und besser nicht jene Bücher liest, weil für all das nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung steht, ebenso. Als Student der Germanistik schafft man 100 Bücher in 2 Semestern (sollte man wenigstens), also ist die Liste nichts anderes als ein Vorschlag für eine gemeinsame Grundlage. Denn jedes einzelne Buch kann man nur dann beurteilen, wenn man die ästhetische Differenz zum Rest der Literatur erkennen kann; und das kann man nur, wenn man über eine breite Lektüregrundlage verfügt. Und wenn man wissen will, was man an englischer und amerikanische Literatur lesen könnte, um sich eine Grundlage zu verschaffen, holt man sich die Leseliste der Anglisten und ist nochmal 2 Semester beschäftigt. Da ist dann gerade mal das Grundstudium um. Und wenn einem dann immer noch nicht selbst etwas einfällt holt man sich im Hauptstudium die Leselisten der Romanisten und der Slawisten. Und man wird immer schlauer dabei. Und das eine gefällt einem und das andere gefällt einem nicht, und wenn man viel Glück hat, bekommt man sogar heraus, warum das so ist und lernt, die Gründe auf Begriffe zu ziehen. Was daran ist jetzt so empörend? Wieso fühlen Sie sich durch die Erfahrungen und Empfehlungen anderer, erfahrener Leser so in Ihrer Freiheit beschränkt? Was aus der Küche kommt, ist immer nur ein Vorschlag des Kochs, nicht die Lösung aller kulinarischen Rätsel.
Bonaventuras Vorgehen erscheint mir im übrigen vollkommen logisch und angebracht. Alles andere ist Disneyland. Vermutlich kommt es aber immer gut, Autoritäten per se anzuzweifeln. Man ist als Student ja auch in einem Schwellenalter: Die Pubertät ist eigentlich »überwunden«, das »Erwachsenenleben« aber noch irgendwie weit weg. Mein Eindruck von Studenten Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre besonders in den geisteswissenschaftlichen Fächern war, dass sie eigentlich schon alles wußten (mindestens wußten sie, wie man etwas nicht macht) und ihre Professoren (oder Dozenten) nur bemitleidenswerte Kreaturen sind, die von dieser Tatsache noch keine Kenntnis haben. Wohl gemerkt: ich habe nie eine Universität betreten, hatte aber damals einen gewissen Bekanntenkreis. Das mag jetzt überholt und allzu pauschal sein (und ist in keinem Fall auf Kommentierende und Leser dieses Blogs gemünzt). Mich hat dieser Betrieb irgendwie abgeschreckt – und zwar von beiden Seiten. Das mag einem Außenblick geschuldet sein, der seinerseits ein wenig arrogant daherkommt bzw. daherkam. Später erzählten mir ehemalige Germanistikstudenten, wie hohl sie das Studium empfunden hatten. Eine fühlte sich regelrecht abgehalten vom Lesen von Literatur; man beschäftigte sich mit einem, maximal zwei winzigen Details, bolzte Sekundärliteratur dazu und schrieb dem Professor nach dem Mund. Da fühlte ich mich dann bestätigt (was natürlich einfach war, denn eine Stimme kann man unmöglich verallgemeinern) und ich genieße bis heute meine Freiheit und mein Idiotentum.
Idiotentum
Immer noch also geht es bei gesellschaftlicher Kommunikation auch um zumutende Einsprüche – oder eben, sie zu ignorieren (das zu dürfen, sogar aus den idiotischsten Gründen).
Ich fühle mich allerdings, trotz meiner Abschlüsse und weitläufigen Wissensgebiete ebenso als Idiot: Etwa gegenüber dem (etwa immer beim gelegentlichen Suchen nach etwas mich Interessierendem im zumindest nach Quantität als überwältigend empfundenen) Fernsehprogramm: Dadurch, dass ich in so vielen Bereichen nicht teilnehme, entwickelt sich bei mir anscheinend so etwas wie ein Phantomschmerz an Gemeinschaftlichkeit. Zwar habe ich mir angewöhnt, das Ignorieren von 98% des Medienangebots als Freiheit und Zeitgewinn und Komplexitätsreduzierung umzudeuten. Doch bin ich – eigentlich – ein Ausgeschlossener. Das Idiotentum der anderen macht mich leiden. Und macht mich zum Idioten allen gegenüber, »die guten Willens sind«.
Aber auch die Freiheit, tendenziell keinerlei überlieferte Gemeinschaftlichkeit mehr anerkennen zu müssen, ist dann irgendwann gar keine (sondern wiederum Selbstausschluss per eigener Ignoranz). Über den Autoritätsverlust der Institutionen (Universität) fange ich gar nicht erst an: Nie hatten die, was mich gerade interessierte – aber auch das hat dann mich zum Selber-Suchen und –Lesen gebracht.
Auch von daher ist dann der (medial eh kaum bedeutsame) Versuch, mit dem Spatz eines Literaturkanons auf die bräsige, literaturunwillige Öffentlichkeit zu schießen (deren Zerfallenheit womöglich ja auch jedermann an sich selber spürt) mir zwar nicht mal sympathisch, doch sehe ich nicht, warum unter all den anderen sich nicht zurückhaltenden Zumutungen ausgerechnet sie vermieden werden soll.
Um bei der ZEIT zu bleiben. Martenstein, den ich immer noch unterhaltsam finde, hat letztens mal drauf hingewiesen, dass die es früher irgendwie noch hingekriegt hatten, dass man beim Verlassen der Schule lesen, schreiben und rechnen konnte. Und ohne allen Modernitätspessimismus – mich, in dem eroberten Luxusleben meiner Ignoranz geht das sowieso nichts an – bleibt dann die Frage: Wie haben die das gemacht?
@en-passant
Wie »die« das gemacht haben, weiß ich nicht. Ich glaube allerdings, dass sich das Ansehen von so etwas wie Wissen oder Neugier auf »Erwachsenenwissen« in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich verändert hat. Es ist schwierig so etwas zu behaupten, ohne in billigen Kulturpessimismus zu verfallen. Aber die Tatsache, dass die Prioritäten von Wissen und auch die Wissensvermittlung einfach andere geworden sind, kann man nicht leugnen. Ich hatte gestern auf arte die ersten drei Folgen der Kennedy-Saga gesehen und heute die FAZ-Besprechung gelesen. Einer der drei Kommentatoren beklagt, dass für das Verständnis der Serie Kenntnisse erforderlich seien. Den » ‘Uneingeweihten’ «, so der Kommentierer, würde »es schwer werden, der etwas sprunghaften Handlung zu folgen.« Diese Kritik ist durchaus exemplarisch. Dabei wird die »sprunghafte Handlung« durch große rote Buchstaben, die die jeweilige Jahreszahl anzeigten, eingeleitet. Man muss eigentlich nur wissen, wo die USA liegen, dass es zwischen 1939 und 1945 einen Weltkrieg gab und das Castro Kommunist ist. Vieles erklärt aus der Serie heraus. Anderes, was ich nicht weiss, kann ich ohne großen Verständnisverlust später nachschlagen und mir – pathetisch ausgedrückt – selber »erobern«. Aber dieser Akt der Beschäftigung wird längst als Unzumutbarkeit wahrgenommen. So sehr ist man die Häppchen-Vermittlung gewöhnt.
Der weitgehende Egalitarismus in der Gesellschaft hat zu einem Umdenken geführt: Man orientiert sich längst in einer Art vorauseilendem Gehorsam an den den kleinsten gemeinsamen Bildungsnenner einer Gesellschaft. Wer dies beklagt, wird einfach als »elitär« abgekanzelt und gerät sofort unter Rechtfertigungsdruck.
Dass es Massenphänomene gibt, ist nicht neu. Aber Massenkultur gilt jetzt als »demokratisch«; sie ist legitimiert aufgrund der Quantität ihrer Teilnehmer. Wer nach Qualität fragt, gilt schon als Spielverderber. Sie mit Ihrem »Idiotentum« werden mit Ausschluß aus der Gemeinschaft bedroht. Daher und weil diese Banalitätsspiralen (bspw. im Fernsehen) unabwendbar sind, verachten viele Intellektuelle die Massen (und übersehen dabei, dass sie ohne sie gar nicht existieren können).
»Früher« entstanden Ideale (nicht nur Vorbilder), denen man nacheifern mochte. Heute wird verlangt, sich mehr oder weniger dem pop-kulturellen Mainstream anzupassen oder in karg ausgestatteten Elfenbeintürmen vor sich hin zu onanieren.
Jetzt sind wir doch wieder bei der Bildungsdiskussion...
Ja, treffliche Beobachtung, schlagende Analyse – bin ich rundum d’accord. Aber was mache ich mit meinem nicht weggehenden Dazugehörigkeitsverlangen? Manchmal scheint es, als ob das sogar wächst – oder hinterrücks hybride Kompensationen sucht, womöglich nicht unähnlich denen der anderen (Konformität, Sport, Unterhaltung...).
Ich musste gestern noch an Ihre Versuche bei der VHS denken – wie verlangend muss man nach einer (Literatur-)Gemeinschaftlichkeit sein, um sich seine Lektüren in solchen, höflich gesagt, heterogenen Kleingruppen befragen zu lassen.
(Vor x Jahren habe ich dort manchmal sehr gute Vorträge gehört; meine Erfahrung ist, dass die Qualität der Eingeladenen – und Dozenten überhaupt – immens gestiegen – die der Zuhörer / Teilnehmer allerdings extrem »uneinheitlich« [ein hier à la Loriot gemeinter Euphemismus] geworden ist.)
Meine Überlegung eben war, wieso es nicht eine lautstark auftretende, bewusst fordernder argumentierende Gegenbewegung der »Eliten« gibt, die die elende Anspruchslosigkeit der immer nur überall abgeholten Mehrheiten diesen einmal vorhält! In allem anderen sonst soll Deutschland doch auch Weltmeister sein! Aber, ach ja, äh, ich vergaß: Die faktische Kraft des sich andauernd selbst verstärkenden Mainstreams. Und der Ignoranz.
Aber ich muss es bekennen: Die meiste Zeit ist es mir längst egal. Bis es sich dann mal wieder anfühlt wie ein doch irgendwie wesentlicher Mangel.
Vielen Dank für das Stichwort »Elfenbeinturm«: Aus meinem Poesiealbum (XIII)
Ich habe jetzt das unangenehme Gefühl, als Fremder mit laut polternder Rhetorik einen Literaturkreis gestört zu haben, der lieber unter sich geblieben wäre. Deshalb, bevor ich leise die Tür hinter mir zuziehend wieder verschwinde, bloß die kurze Anmerkung, dass dies absolut nicht meine Absicht war. Ich wollte im Gegenteil eigentlich bloß Zustimmung zum eigentlichen Post von Herrn Keuschnig signalisieren, der dort schrieb: »Ärgerlich ist ein anderer Punkt: Trotz gegenteiliger Angaben wird zwangsläufig eine Vollständigkeit suggeriert, die jegliche Lust auf das Außergewöhnliche, das Selbst-Gefundene abzuwürgen droht. Der Blick für das Abseitige kommt zu kurz.« Genau so sehe ich das auch und dieser Zustimmung wollte ich bloß Ausdruck verleihen, mit der kleinen Erweiterung, dass es vielleicht auch nicht ganz so schlimm wäre, wenn dem einen oder anderen bei seiner Lesereise durch das Abseitige dann Kleist zum Beispiel durch die Lappen ginge. Wobei ich mit Herrn Keuschnig ja konform gehe, dass eine Kritikerin und promovierte Germanistin damit auch nicht unbedingt kokettieren sollte.
Bonaventura gebe ich ebenfalls recht: Sicher kann man in einem Jahr 100 Bücher lesen und nebenher noch die paar Aufsätze und theoretischen Werke, die man nebenbei noch mitliest, um zu Scheinerwerbszwecken die Referate und Hausarbeiten kurz aus dem Handgelenk zu schütteln. Alles andere wäre ja Disneyland. Ich persönlich zog es immer vor, mir fürs Lesen ein klein wenig mehr Zeit zu nehmen und den Mann ohne Eigenschaften nicht in drei Tagen runterzureißen, um danach ohne Innehalten den Grünen Heinrich aufzuklappen. Da les ich dann lieber ein paar Bücher weniger und hab noch die Luft, auch mal drüber nachzudenken.
Aber jetzt merke ich selber, wie schon wieder eine Aufgeregtheits-Rhetorik Besitz von mir ergreift. Tut mir leid, ich wollte echt nicht stören.
Na, das mit dem langsam lesen und darüber nachdenken scheint aber noch nicht sehr gut zu klappen. Aber Übung macht bekanntlich den Meister. Alles Gute und weiterhin angenehme Lektüren.
@Andreas Wolf
Ich fand Ihren Beitrag sachlich und wichtig. »Störungen« dieser Art sind immer willkommen. Und Fleiß- oder VIP-Kärtchen gibt es hier nicht.
@en-passant
Auch die Dozenten an der VHS waren teilweise sehr gut – sie hatten nur wenig Gelegenheit, sich entsprechend zu beweisen. Und natürlich gab und gibt es ein Gefühl der Gemeinschaftlichkeit – bedenken Sie, wie die allseits umhergreifenden »sozialen Netzwerke« funktionieren: Sie bedienen exakt dieses Gefühl auf der virtuellen Ebene. Und auch Blogs sind »kommunitaristische« Institutionen.
Ihr letzter Kommentar schafft es, mich vielleicht noch ein bisschen präziser auszudrücken: Warum soll jemand einen Kanon derjenigen Eliten annehmen, die jahre- vielleicht jahrzehntelang wesentlich an der Banalisierung mitgewirkt haben? Warum hat man denn dem Leser nicht mehr »zugemutet« und sich stattdessen bei Rezensionen in Inhaltsangaben und Plotdiskussionen erschöpft? Wo soll denn auf einmal das Interesse an einer umfassenden Auseinandersetzung herkommen, wenn immer nur das Autobiographische Referenzgrösse ist? Warum hat man in all den Jahren nicht einfach seinen Job gemacht – mit dem Risiko, das Publikum zuweilen auch einmal zu »überfordern«? Die vorauseilende Überforderungsangst müsste jetzt viel größer sein. Wer immer Fastfood konsumiert hat, weiss nicht mehr, wie eine Paprika schmecken muss – er weiss nur, wie sie immer geschmeckt hat. Daher kommt mir die Kanonitis wie eine große Heuchelei vor. Ich sehe aber auch Ihre Argumentation – und stelle dahinter ein weitaus optimistischeres Menschenbild fest als meines. Muß ich mir Sorgen um mich machen?
@Gregor Keuschnig
Vielen Dank für diese Klarstellung. Dann werde ich mich gerne auch in Zukunft hin und wieder aus der Ecke für stille Mitleser heraustrauen und ein paar Sätze zu Ihren immer lesens- und bedenkenswerten Texten beitragen.
@Gregor Keuschnig
Nein nein, keine Sorgen machen – ich weiß es ja selber längst besser, meine Verlangen sind etwas altmodisch und wohl irgendwie auch ein bisschen regressiv: Schluss mit dem Schielen nach den Eliten, Schluss mit dem Sympathisieren und dem lauen Verständnis für die Massen – man muss überall als Einzelner durch!
Und im Ernst: Ihr Argument mit den gefallenen Eliten stimmt natürlich – wie oft ist der sich über die Verhältnisse Erhebende mit an ihnen schuld. Nur bräuchte es dann irgendwann wohl auch mal wieder Nichtdazugehörende – das sind andere als die Warner, die Zyniker und die Alles-Zerredenden -, um irgendeine Alternative oder Perspektive zu formulieren. Oder sollten das doch besser Leute von ganz innen sein? Bis dahin verstärken die „Abhol-Effekte“ sich gegenseitig und zementieren das gesenkte Nie-Woh. Ist sicher auch eher müßig, da irgendwas zu beklagen.
(Und dass noch jemand den Grünen Heinrich liest – manchmal braucht es nur solch verstreute Nachricht, um sich zu trösten.)
Ein Kanon? Wozu eigentlich? Ich versuche es einmal anders und antworte bevor ich den Ausgangstext und die Kommentare gelesen habe.
Vielleicht kann man, Ungenügen, Schwierigkeiten und Unvollständigkeiten im Auge behaltend, solche Versuche als notwendige Hinweise auffassen, als Vorurteile, um einer unüberschaubaren Vielfalt einigermaßen Herr zu werden. Dass jeder Kanon eben das ist, weiß man, latent zumindest und widerwillig, seit der Schule.
Das Gegenwärtige hat sich zu erweisen und das Alte muss es stets aufs Neue tun: Diese Aufgabe liegt bei Lesern und Kritikern und sie kann nur erfüllt werden, wenn man hört und weiß, wen und was es zu lesen gibt. Dieses wen und was und eine – wenn auch problematische – Wertung, als zu befragende Richtung scheint mir (fast) unentbehrlich (auch, weil im engeren Sinn jede Kritik als Beitrag zu einer Kanonisierung gewertet werden muss, selbst wenn man das nicht beabsichtigt).
@en-passant
Aber alle Nichtdazugehörigen werden doch verbissen. Das System – »der Betrieb« – ist nicht auf Nichtdazugehörige eingestimmt. Klar, es gibt Ausnahmen. Aber die sind selten. Im Grunde ist das doch eine mehr oder weniger verschworene, vor allem aber abgeschottete Clique von Kunstrichtern, die sich – über alle Gräben hinweg – vor allem dahingehend einig sind, niemand außerhalb ihrer Kreise zu berücksichtigen. Es sei denn, es sind Figuren von ihren Gnaden. (Da fällt mir immer sofort Daniel Kehlmann ein, der irgendwann zum Kanoniker ernannt wurde. Oder auch jene unsägliche Thea Dorn.) Daher auch der Drang zum Skandalon: Hierdurch erreicht man Aufmerksamkeit und erhält vielleicht Einlass in die heiligen Hallen des Feuilletons.
(Bei dem-/derjenigen Grünen Heinrich-Leser denke ich dann immer: Hoffentlich wird das nicht wegen irgendeiner Klausurvorschrift gelesen. Ich bin da ganz der Handkesche Spielverderber.)
Aufschlussreiche Diskussion, danke!
Ein Aspekt erscheint mir noch etwas unscharf: Man muss zwischen dem Leser (ev. auch Schreibendem) und dem Einordnenden (dem Kritiker) unterscheiden: Ersterer kann sehr wohl sagen, was Literatur ausmacht und ob ein Buch (Werk) gelungen ist; je mehr und eindringlicher er sich mit ihr beschäftigt, desto besser. Letzterer nimmt zusätzlich in Anspruch, dass er das Gelesene auch einordnen, und damit Einschätzungen (Wertungen) in allgemeiner Hinsicht vornehmen kann. Das ist ein wichtiger und wesentlicher Unterschied; und es ist nicht die Erfahrung die den Kritiker legitimiert, sondern immer noch seine Argumente (Autoritätskritik ist andernfalls höchst willkommen).
@metepsilonema
Genau diese Differenz zwischen Leser und Kritiker, Konsument und Urteilender, bricht immer mehr auf (mit Chancen aber auch mit entsprechenden Nachteilen!). Der Leser hat ja irgendwann auch ein »Leser-Leben« und kann sehr wohl Einordnungen vornehmen. Ob sie immer richtig sind? Aber wer sagt, dass die Parallelen der Kritiker immer treffen? Hinzu kommt das zunehmende Versagen der urteilenden »Einordner«, was sich (1.) an (und in) ihren Verflechtungen mit dem Betrieb und Markt und (2.) mit ihrer Rezeptionsfähigkeit an sich zeigt.
Ich habe im übrigen kaum einen Zweifel daran, dass Kritiker ein zutiefst deprimierender Beruf sein muss: Ständig ist man gezwungen, Sachen zu lesen, die einem aus diversen Gründen nicht gefallen. Und alles muss eilig geschehen; die Neuerscheinung im September ist ein halbes Jahr später schon »veraltert« – weil es dann schon wieder neue Neuerscheinungen gibt. Das bis dahin angeeignete »Wissen« ist zum großen Teil obsolet geworden. Das ist vielleicht einer der Gründe, warum sich die Masse der Kritik auf einen vergleichsweise kleinen Kreis von Neuerscheinungen konzentriert. (Die Entdeckungen für den Leser gibt es zumeist abseits dieses Stromes.)
@Gregor
Die Einordnung des Lesers darf (auch) persönlich relevanten Kriterien folgen, für einen Kritiker sollten andere, »allgemeinere« gelten (natürlich nicht ausschließlich). Der Leser genießt die Vorteile des Liebhabers, der lesen kann, was ihn anspringt, es aber keinesfalls muss. Die (von den Lesern zugestandene!) Kompetenz eines Kritikers ist, wie Du schreibst, durch einige Nachteile erkauft: Er muss u.U. lesen was ihm nicht gefällt, weil es öffentlichkeitsrelevant ist oder von ihm erwartete wird; wie alle Tätigkeiten, die (halb)professionell betrieben werden, erkauft man sich Relevanz durch Zugeständnisse an den Betrieb, man nimmt – sozusagen – an einem Spiel teil, das man so vielleicht gar nicht will. Es sei denn, man ist aus anderen Gründen nicht auf ihn angewiesen, was wiederum eine Teilnahme (an der Öffentlichkeit) erschwert.
Warum sich die Masse der Kritik an wenigem abarbeitet hat seine Ursachen sicher auch in der selbstverstärkenden Wirkung der Medien und der Diskussion im Allgemeinen, aber auch darin, dass man bei aller Fülle ein Thema hat über das man »gemeinsam« diskutiert; abgesehen davon wird das, was angekündigt wurde (z.B. von Verlagen), gerne angenommen.
@metepsilonema
Das Problem besteht ja darin, dass die Kritik uns erklärt, sie folge objektiven Kriterien. Aber es sind ja dort keine ästhetischen Eunuchen am Werk. Die angebliche Objektivität ist nicht nur in der Praxis nicht erreichbar, sie ist womöglich gar nicht wünschenswert. Aber wenn sie behauptet wird, verkleistert sie den Blick. Natürlich kann man an Literatur bestimmte Maßstäbe anlegen – und sollte dies auch. Darüber hinaus spielt aber immer auch das persönliche Empfinden eine Rolle. Problematisch wird es, wenn diese Kriterien sich sozusagen »verstecken«. In Wirklichkeit sind alle in dem von Dir angesprochenen »Spiel« nicht nur tätig, sondern unter Umständen sogar gefangen. Diese Verflechtungen werden jedoch immer erst mit der Zeit ersichtlich.
Gregor Keuschnig schrieb:
Wo erklärt »die Kritik« das denn? Mir scheint im Gegenteil, dass selbst ein Gutteil der Germanistik heute so etwas nicht mehr erklärt. (Was nicht heißen soll, dass es nicht Kritiker gibt, die diesen Anspruch im- oder gar explizit erheben würden.)
@Bonaventura
Ich lese das Feuilleton (»die Kritik«) so. Eine suchende Bewegung vermisse ich da. Das Selbstverständnis der Kritik ist das Reich-Ranicki-Diktum, bloß nicht in das Ungefähre abzuweichen. Es mag Ausnahmen geben, aber man rekurriert sehr auf Autorität. Damit meine ich nicht unbedingt »die« Germanistik. Vielleicht ist man hier beweglicher geworden; manche Fachbücher sind lesbarer als die vor Selbstbewusstsein und Gesinnungskritik strotzenden Rezensionen. Im Feuilleton werden aus Buchbesprechungen zu oft Prozessakten. Die Pointe zählt. Oder das Erregungspotential. (Das Gegenteil gibt es freilich auch – es sind jene, die im wesentlichen bei Inhalts- und Plotangaben bleiben.)
Ich konnte erst jetzt die Diskussion gelesen. Ich freue mich immer, wenn überhaupt noch über Literatur berichtet wird. Daher nehme ich auch die vorgeschlagenen Bücher als ein Angebot und prüfe, welche ich bereits kenne und welche ich vielleicht lesen sollte. Leider sind die kurzen Besprechungen für mich nicht geeignet, mich neugierig auf ein Buch zu machen.
Ein anderer Punkt, den ich anmerken möchte. Aus meiner Sicht wissen viele Kritiker bzw. auch Schriftsteller nicht zu wenig, sondern sehr viel und meinen, dieses Wissen unbedingt dem Leser präsentieren zu sollen.
Ein weiterer Aspekt ist die schnelle Verfügbarkeit von Inhaltsangaben im Internet. Wer macht sich dann die Mühe der Lektüre. Mit dem bei Wikipedia Gelesenen kann man auf jeder Party reüssieren, wenn dies gefordert ist.
Hinzu kommt, dass in der Regel immer die gleichen großen Namen im Feuilleton besprochen werden. Alle stürzen sich auf den neuen Mosebach, Genanzino, Handke etc. Oft konnte ich die Tendenz der letzten Kritik vorhersagen, je nachdem wie die anderen ausgefallen waren.
Einen Kanon benötigt meiner Meinung nach niemand, der erfahrene Leser hat ihn implizit, aber bei der Masse an Neuerscheinungen kann ich nur sehr schwer entscheiden, welches Buch für mich interessant sein könnte.
Ich habe dann meine bevorzugten Rezensenten, wozu auch Gregor Keuschnig zählt, von denen ich mich neugierig machen lasse. Manchmal lese ich dann das empfohlene Buch, manchmal verschiebe ich die Lektüre und vergesse das Buch. Wenn dann durch solche »Kanon«-Diskussionen dieses Buch wieder in meine Erinnerung kommt, mache ich vielleicht den nächsten Versuch. Dies ist doch der Sinn der Rezensionen/Literaturdikussionen etc., mich neugierig zu machen. Es wäre doch schlimm, hätte jeder Leser die gleichen Lieblinge.bzw. Lieblingsbücher.
@Gregor Keuschnig
Vielleicht lese ich zuwenig Feuilleton, um das wirklich beurteilen zu können, vielleicht interessiert mich aber auch dieser Aspekt der Rezensionen einfach nicht, so dass ich die Texte einfach automatisch selektiv auf die Informationen hin lese, die mich interessieren. Aber mein Eindruck ist nicht, dass die MRR/Karasack/FrauLeffler-Riege die Mehrheit stellt. Aber wie gesagt: Meine Stichprobe ist da deutlich zu dünn.
@Gregor
Ein Kritiker muss eine Position zwischen Subjektivität und Objektivität einnehmen, einerseits weil kein Kritiker völlig objektiv sein kann, andererseits aber, weil das die Rezipienten ( bzw. Leser) gar nicht wollen oder erwarten (und ich behaupte: der Kritiker auch nicht). Die Aufgabe eines Kritiker ist ein nachvollziehbares Urteil, über den reinen Geschmack hinaus, das dennoch in dem, für den Kritiker typischen, persönlichen Rahmen verankert bleibt: Er bewegt sich stets in einer Spannung und sein Urteil legt davon Zeugnis ab.
@Norbert
Interessanter Aspekt, dass die Rezensenten unter Umständen zu viel wissen. Die von Ihnen angedeutete Neigung, den Rezipienten mit diesem Wissen zu überfordern, mache ich dafür allzu selten aus. Sehr viele Rezensionen erschöpfen sich doch in der Suche nach autobiographischen Details in der fiktionalen Prosa und der Kontextualisierung in den von Autor und Verlag vorgebrachten Deutungsrahmen. Der andere Teil fällt apodiktische Urteile. Ein eigenes Denken, ein gewisser Mut zum Risiko, mache ich allzu selten aus. (Vielleicht bei Iris Radisch, die ich zuweilen schrecklich finde, die aber häufig ein »Risiko« eingeht; zuletzt etwa Herta Müller.)
@metepsilonema
Das ist alles richtig, was Du schreibst. Aber es verlangt vom Leser auch parallel Kenntnis und Einschätzung des jeweiligen Rezensenten, um dessen Urteil im Verhältnis zu anderen lesen zu können. Die Aufgabe bleibt immer beim Leser, wie man es auch dreht.
@Gregor
Klar, wobei diese Forderung nicht verallgemeinert werden kann: Manche lesen einfach gerne ohne sich um Kritiker zu kümmern, sie würden auch gar nicht auf die Idee kommen sich, in welcher Form auch immer, öffentlich zu äußern (und gegenüber dem privaten »Literaturdiskurs« [auch: Gespräch, Tratsch] möchte ich keine Forderungen erheben). Um es auf den Punkt zu bringen: Ein Leser kann sich auf einer Ebene aufhalten, auf der ihm gegenüber kaum Forderungen erhoben werden können, bei einem Kritiker ist das anders, er ist ohne Öffentlichkeit nicht zu denken.
# 42 Gregor Keuschnig
Ja, wenn man die Rezensionen liest, kann man das bezweifeln, da haben Sie recht. Ich habe den Gedanken aus einem Intwview von Karl-Heinz Bohrer in der »Welt«:
»Ich sage dagegen: der Zeitungs-Essay bietet heute keine Garantie mehr, dass er wirklich originelle Gedanken vorbringt. Warum nicht? Weil der akademisch erzogene Journalismus von heute so voller abrufbarer Ideen, so voller absehbarer Kenntnisse ist, beinahe zwanghaft. Es bleibt ihm gar nichts anderes übrig.«
Auch wenn man sich die Biographien vieler Kritiker ansieht, stimmt die Feststelkung von Bohrer.
Iris Radisch hat in dem von Ihnen angeführten Fall zwar gegen den Strom argumentiert, aber ansonsten ist sie oft mitten im Mainstream.
@Norbert
Es stimmt, dass Radisch natürlich auch oft genug im Mainstream ist bzw. Mainstream in der Lage ist, zu steuern. Dennoch bin ich ihr für manche »Klarstellung« und eindeutige Position dankbar, wie beispielsweise hier. (Das gilt auch dann, wenn ich ihre Meinung überhaupt nicht teilen kann wie beispielsweise bei Handke.)
Bohrers Interventionen sind immer ein bisschen kühn. Ich gestehe: Sehr vieles von dem, was er so geschrieben hat, habe ich schlichtweg nicht verstanden. Das ist dann ein Beispiel für einen Essayisten, der seine Leser wenn nicht überfordert, so doch höchste Ansprüche abfordert. Da muss ich dann passen. Was nichts gegen Bohrer sagen muss.
Dieser Gedanke von Bohrer hatte mich beim lesen auch frappiert – aber ich finde, er stimmt: Allzu oft finde ich mich selber – der eigentlich immer versucht, seine eigenen Gewissheiten zu prüfen – allzu selbst-verstellt von den abrufbaren Haltungen zu oder den Perspektiven auf eine Sache.
Was früher mal als Tugend galt – eine Sache fundamental-ontologisch, existenzialistisch, marxistisch zu kritisieren (es kamen dann noch etliche dazu, feministisch, post-strukturalistisch, queer, heute „post-migrantisch“ etc.: es ist eine Plage geworden) -, ist auch einer gewisse Schwächung, weil es mit der Verfügbarkeit eines Diskurses diesen auch immer schwächt.
Ich glaube, dass ist Vor- wie Nachteil bei solchen Köpfen wie Zizek: Man kriegt endlich mal wieder [vermeintlich] eindeutige Positionen (bzw. solche, die genug komplex sind, sich angeregt dazwischen zu bewegen) – aber merkt irgendwann auch deren Begrenztheit; aus dem Dreieck von Lacan, Marx und Hitchcock (z.B.) lassen sich eben nicht unbegrenzt Funken schlagen. Da sind dann die gute alte Links-Politik und die „Perversionen“ des Christentums Frischzufuhren.
Eben solche Mind-Sets, auch differenziertere, gibt es aber zu allem (früher, notorisch unterkomplex etwa in dem politischen Links-Rechts-Schema). Und da wird es dann auch überflüssig, gewissen Leute überhaupt anzuhören bzw. Argumente auszutauschen… die man dann auch nicht mehr entwickeln kann. Ehemals etwa MRR – oder dauerhaft die „Generalsekretäre“ der Parteien. Von dort her kommen dann eigentlich keine Redebeiträge sondern nur mehr Aufsager, Platzhalter im Aufmerksamkeitsstrom, die alles schwerfällig machen und zu dieser auch von Bohrer kritisierten Bräsigkeit führen.
Was aber wäre möglich – wäre es möglich? – könnte man diese Sets verlassen? Man kann es nicht (oft eben auch nicht die Akademiker – aber schon gar nicht die prominenten Wortführer, die Experten, die mit der Meinungsführerschaft.
Weiter gefasst bedeuten eben diese Sets dann das Gemeinplatzwesen, an dem alle leiden: Letztlich folgt sämtliche mediale Behandlung der Dinge diesen Begrenzungen (schön auseinander genommen höchstens noch von Sloterdijk, Armin Nassehi etc. oder eben Außenseitern; daher kommen dann oft die Verführungen durch solche Typen wie Broder oder durch solche angeblichen „Neo-Cons“ wie Bolz usw.)
Bohrer finde ich persönlich immer erfrischend. Aber ich würde gerne hier mal auf George Steiner verweisen, der oft etwas anführt, dass die Bravheit der geläufigen Mind-Sets tatsächlich mal wieder zu sprengen vermag: Nämlich das Plädoyer für den Primär-Text.
Es gibt da nämlich etwas mit den ganzen schönen Diskussionen und den Ermächtigungen der Massen und dem Dauer-Diskurs… was die eigentliche Sache – hier also Literatur – permanent schwächt. (Nach m.M. hat Botho Strauß da einfach Recht.)
Ich hatte diese Kanon-Sache auch ein wenig als Hinweis darauf verstanden: Glaub’ nicht dieser flotten Nonchalance, sich von dem freimachen zu können, mit dem wir überhaupt hierher gelangt sind. Lass Dir nix von Bestseller-Claqueren erzählen, vergiss wikipedia und die Kurzfassungsgeber und die sich selbst verstärkenden Effekte all der Freundes- und Find-ich-auch-Seiten, die Dich vermeintlich entlasten: Lies’, wenn Du die genannten Bücher schon nicht kennst, endlich mal eines davon. Lies’ statt den verdammten Text!
@en-passant
Naja, die »absehbaren Erkenntnisse«, die Bohrer da moniert entspringen womöglich den Usancen des Betriebes an sich. Und, ketzerisch gefragt: War es je anders? Wie gehen Essayisten denn mit Leuten um, die ihre Ansichten verändern, vielleicht auch nur verfeinern? Sie gelten als Abtrünnige ihrer selbst und das möchte man für sich nicht riskieren. Neulich sagte Ulrich Greiner in einem Gespräch, er habe Handke in seinen Verrissen vielleicht zu stark angegangen; er schätzt ja den Autor (wie sich herausstellte, sogar sehr). Das nenne ich aber einen unabhängigen Geist – sich von seiner eigenen Neigung nicht korrumpieren zu lassen. Und doch hat es auch zuweilen etwas Opportunistisches an sich bzw. liefert die Vorlage dazu.
Unbedingt finde ich dieses Plädoyer für den Primär-Text wichtig. Im neuen Roman von Stephan Thome besucht ein Noch-Professor einen Aussteiger-Professor in Frankreich. Was jetzt wirklich anders sei, sagte der »Aussteiger«: er lese jetzt keine Sekundärliteratur mehr. Kann man schöner zeigen, wie verzweifelt es in einem Betrieb zugehen muss, der nur noch selbstreferenziell reagiert? Wer hat denn Strauß’ »Anschwellenden Bocksgesang« heute noch einmal gelesen? (Nur ein Beispiel.) Also wäre der Kanon-Versuch von Radisch ein Appell an die Branche?
Ich erwische mich oft genug, wie sich bei mir die Urteile und Prämissen verschoben haben. Es bleibt verblüffend wenig Konstanz, und das Wenige vielleicht auch, weil es wohlige intellektuelle Heimstatt bietet.
Und Zizek? Naja, seine Gedanken sind manchmal derart verquer, dass sie tatsächlich für einen Moment erfrischen. Aber leider allzu oft nur wie einer dieser Erfrischungstücher aus meiner Kindheit, mit denen man sich im Sommer auf Reisen unterwegs »frisch gemacht« hat.
Ja, diese Erfrischungstücher – sie sind ja auch eigentlich für den Einmalgebrauch, oder?
Aber diese Heimstatt? Darf man sich die überhaupt gestatten, wo sich andauernd alles verändert und dann doch irgendwie nicht? Bohrer sagte einmal u.a., dass den Deutschen aus bekannten Gründen eine Verbindung zu dem weiteren europäischen Unterstrom fehle – und sie das aber eben einen Phantomschmerz spürten und also zwischen ihrer Biederkeit und einer Art Wunsch nach intellektuellen Umstürzen leben müssten. Das, begleitet von dem Hunger der Medien nach immer neueren, immer kurzfristigeren Aufregern, schleife dann letztlich die Wahrnehmungsfähigkeit ab: Die aber doch – und das ist jetzt meine metaphorische Deutung – eine Art Primär-Text sein sollten. Man weiß irgendwann gar nichts mehr von einer „Heimstatt“. Worauf aber soll man sich bei sich selber verlassen?
Nicht, dass ich vorbehaltlos dafür plädierte, doch ertappe mich dabei, dass ich bei diese verstreuten Plädoyers für irgendwelche Rückbesinnungen oft aufhorche. Dabei habe ich längst meinen eigenen Kanon, und er ist sogar einigermaßen stabil und offen zugleich.
Denn auf der anderen Seite mag ich es doch auch immer wieder, wenn irgendeine neue ästhetische Position erlaubt, alles mal wieder infrage zu stellen. Vielleicht leben wir ja alle in dieser leichten Spaltung: Man ist trainiert auf den nie ganz zu stillenden Hunger nach etwas, und müsste doch eigentlich schon übersatt sein.
Dieses Moment also am Kanon – oder ich bleibe vielleicht doch lieber bei meinem Wort dafür, einer Rückbindung – läuft dann auf nicht von vornherein abzulehnende Vergewisserungen hinaus, die es doch periodisch braucht, auf Orientierungsmarken in dem, darin es zumindest Übersicht kaum noch geben kann. (Aber dann ist es eben auch wieder schön, die Freiheit zur eigenen Gewissenlosigkeit zu genießen. Die Moderne ist eben „treulos“, wie die „Beziehungen“ auch.)
Hm, dem Primärtextplädoyer folge ich gerne, man muss bereit sein sich anzustrengen, dann kann man viel lernen und behält obendrein die Möglichkeit vom bekannten Weg abzuzweigen.
Bohrers Bemerkung las ich auch, reflexartig denke ich mir bei ähnlichem immer: Kann man das so eigentlich wissen (ich neige da eher dem Nein zu, außerdem ist es ein schönes Kontrastmittel, unbenommen davon, wie sehr es zutrifft)? Wenn man sie aber einmal so nimmt, dann könnte eine Antwort lauten, dass man vielleicht nicht mehr persönlich genug hinsehen will oder kann (vielleicht hat das auch mit dem Einlassen zu tun und der dafür notwendigen Zeit).
Selbst wenn man in seinen Ecken bleibt oder bestimmte Antworten immer rasch und zuerst kommen, an Orten wie diesem hier, besteht ja – im aller geringsten Fall – die Möglichkeit sich die der anderen anzuhören. Ansonsten hat es sicherlich mit einer Art von Offenheit oder einem Offensein zu tun (»Schwebung«) — dafür verliert man an Geschlossenheit und Eindeutigkeit.
Ohne eine Heimstatt, eine Art Ausgangspunkt, selbst wenn er um seine Unsicherheit weiß, geht es doch nicht, oder? Das Wort »Rückbindung« gefällt mir sehr gut.
@en-passant – Zur »Heimstatt«
»Heimstatt« ist vielleicht nur ein anderes Wort für einen inneren Kanon. (Ihr Ausdruck Rückbindung ist viel schöner.) Pathetisch-metaphorisch ausgedrückt: das Haus, welches man bewohnt. Ab einem gewissen Alter zieht man nur noch sehr ungern um; die Möblierungen verändern sich jedoch durchaus noch. Mal werden kleine und mal größere Möbelstücke auf den Sperrmüll gestellt. Und mal gibt es einen Tapetenwechsel, wobei man sich wundert, was man früher mal schön fand.
Dieses permanente Infragestellen – ist das nicht auch ein bisschen abgeschaut von den Naturwissenschaften, die ihre Gewissheiten auch nur »leihen« bis zum Beweis des Gegenteils? Oder von diesem Gehabe der IT-Branche, die mich quasi täglich zwingt, »neue Updates« meines Betriebssystems zu installieren? Abgesehen davon, dass die von Ihnen schon angesprochenen Diskussionsmuster der 70er Jahre hier immer noch durchschimmern. Ich sage ganz offen, dass mich das häufig einzig wahrgenommene Argument, etwas sei »nicht mehr modern« oder entspräche »nicht mehr der Zeit« nie so richtig überzeugt. Im gegenteil: ich werde dann besonders skeptisch. Schließlich bin ich doch keine Modepuppe, die sich an Trends zu orientieren hat. Wer sagt mir denn, dass Thomas Mann »überholt« ist (Ihr Beispiel!)? Vor allem: nach welchen Kriterien? Kann nicht gerade im widersetzlichen Beharren auf das scheinbar Überkommene auch eine Stärke liegen? (Ich denke da an Hermann Lenz’ autobiographisch gefärbte Rapp-Romane. Lenz war das, was man gemeinhin einen »Reaktionär« nannte – auf ästhetischer Ebene. Sie kennen ja seine »Entdeckung« durch Handke. Und plötzlich war der »Reaktionär« im »Trend« – inklusive Büchner-Preis.)
Natürlich entwickeln sich Gesellschaften, aber doch meist evolutionär statt revolutionär. Mich regen ja diese Lobhudeleien auf amerikanische Debutantenromane auf und ich frage mich, wer daran gedreht hat, dass ich ausgerechnet DAS zu lesen bekommen – und nicht irgendeinen anderen Roman (den ich womöglich nie übersetzt zu lesen bekommen werde). Flugs werden hier Hymnen verfasst, die ich nicht glauben kann und die sich zumeist auch als völlig überdreht herausgestellt haben (ich denke da bspw. an jemanden wie Franzen, dessen »Korrekturen« ich höchst mittelmässig fand). Die Literaturgeschichte wird aber nur allzu selten jedes Jahr neu erfunden. Insofern müsste man das aktuelle Rezensententum von der Literaturwissenschaft scharf und deutlich trennen. Ersteres dient als Ventil (auch ökonomisch). Und die Literaturwissenschaften haben den längeren Atem und schauen dann in zehn Jahren noch mal hin. Oft genug ist dann der Blick klarer.