Durch einen Zufall entdeckt Ola im Keller einen Quelle-Katalog und ist von der dort abgebildeten Welt fasziniert. Von nun an ist »BRD« Zauberwort und Zauberland. Mit allen Mitteln versucht Ola nun Devotionalien dieses Paradieses zu ergattern, was schwierig genug ist. Die Gallensteine des längst verstorbenen Opas nebst dessen vergessenen Briefmarkenalben gehen an eine Freundin, die dafür leere Haribo-Tüten und eine ebenso leere Coladose liefert. Plötzlich ist dann Onkel Marek weg, er ist losgefahren. Weihnachten 1988 kommt er zu Besuch – mit einem Auto mit Stern, der symbolisch für die Weihnachtsbaumspitze steht. Von nun an kursiert der Virus »BRD« nicht mehr nur heimlich und Aleksandra poltert ein »Ich will Zukunft« in die hin- und hergerissene Familie. Schließlich bekommt man von Marek einen gelben Fiat polski geschenkt und beschließt gegen die Vorbehalte Gretas, für zwei Wochen nach Dojczland zu fahren. Immerhin: Der kleine Wagen, so heißt es im typischen Tobor-Stil, der das Buch wie ein gelbes Band durchzieht, saß wie angegossen. Auf dem Cover von Isabell Klett ist das Fahrzeug nebst Dachgepäck (und, der Geschichte Jahre voraus, mit EU-Kennzeichenschild) im Comicstil der 70er Jahre abgebildet. Marek zeigt ihnen Land, Leute und Gewohnheiten und so bleibt man, beginnt als »Spätaussiedler« in einer Turnhallenunterkunft, wechselt dann in eine kümmerliche, anfangs stinkende Einzimmerwohnung nach Unna-Massen bis schließlich eine Sozialbauwohnung einer Genossenschaft frei wird.
Den Kern des Buches bilden die Jahre zwischen 1989 und 1991 aus Sicht des Kindes. Dass hier hinein die Wende fällt, wird an einigen pointiert gesetzten Stellen deutlich. So dominieren in den Lagern plötzlich nicht mehr die Polen, sondern DDR-Bürger, was zu allerlei Spannungen führt. Man absolviert Sprachkurse und aus Aleksandra wird Alexandra, aus Paweł Paul, Tomek wird Thomas und aus Danuta (etwas überraschend) Hannelore. Die Lehrerinnen heißen Stubenrecht und Sonnenschein; die Dame der Wohnungsbaugenossenschaft Bützchen. Alexandras große Augen in dieser Waren- und Konsumwelt, das Staunen über Wassereis in Farben, die in der Natur selten vorkommen, der schon fast pathologische Geiz der Mutter, der der Angst entspringt, dass sich die ökonomischen Verhältnisse irgendwann an polnische anpassen könnten und die rührend erzählten Probleme des sanftmütigen Vaters, der mit der von ihm verlangten Selbstdarstellung in diesem System nicht klarkommt und deswegen länger als gewünscht arbeitslos bleibt – all dies wird mit Sympathie und Situationskomik erzählt. Dabei wird weitgehend auf Klischees verzichtet und nur gelegentlich kippt es ins Possierliche, wobei jedoch die Figuren niemals denunziert werden. Auch die nervigen Ogórkowas, die ihre Sperrmülltrophäen als Geschenke weitergeben (besonders die Teppiche), bleiben liebenswürdige Gesellen. Und am Ende entpuppt sich nicht die vornehme Franziska, sondern das legasthenische Rauhbein Dominik, der »Polacken« eigentlich nicht mag, als Alexandras bester Kumpel. Mit ihm flieht sie vor dem polnisch dominierten Kommunionprotokoll am Weißen Sonntag (ihr Kleid ist noch aus Polen, genäht aus einer Gardine, die in einem Raucherhaushalt hing) in den Wald. Hier werden ihre materiellen Gelüste, die sich in den Geschenken nicht erfüllt haben, fast gegenstandslos. Aus dem ehemaligen Feind wird ein verwunschenes Einhorn und der Schluss ist dann als Entwicklung vom Kind zum Jugendlichen, die sich schon in der sich fast manisch einstellenden Leselust andeutete, zu begreifen: Der Himmel war inzwischen violett wie ein Lavendelfeld. Wir taumelten über die Baumwurzeln zurück zum Fahrrad. Erst in der Dämmerung entdeckte ich, dass Dominik Blinkschuhe trug, die bei jedem Schritt rot aufleuchteten. Wir verließen den Wald als heimliche Helden. Die Fliederbäume flüsterten im Dunkeln, unsere Geschichte lebte, und Freundschaft hatte den Traum wahr gemacht. Obwohl wie weniger hatten, hatten wir mehr. Dann ist das Buch aus und das ist sehr schade.
Natürlich muss über die Erzählperspektive gesprochen werden. Ist es nicht unmöglich aus der Sicht eines 9jährigen Kindes mit dem Wissen von heute zu erzählen? Es wäre sicherlich mehr als peinlich, wenn Tobor dies versucht hätte. Und obwohl konsequent im Präteritum erzählt und deutlich wird, dass die Erzählerin sich in das Kind von damals nur hineinversetzt, geht gelegentlich der Gaul mit ihr durch, wenn sich die ach so schöne Warenwelt auftut und die vorlaute Göre plötzlich ein bisschen sehr naiv oder auch – Stichwort Religion – einfach zu klug für ihr Alter erscheint. Aber dies sind Ausnahmen, die das Vergnügen nicht trüben (wie auch der Euro am Supermarktwagen ein lässlicher Fehler ist). Wer Bekannte oder Freunde aus Polen kennt, weiß, wie genau Atmosphäre(n) und Charaktere »getroffen« sind. Auf die gebührende Behandlung der Figuren wurde bereits hingewiesen. Dabei gibt es weder falsche Sentimentalität noch eine Klage über die Behandlung von Polen im Deutschland der 90er Jahre. Eher bekommen die gemeinhin als Gutmenschen apostrophierten ein paar kleine Hiebe ab. Und auch jene Migranten, die ihre eigene Herkunft in vorauseilender Assimilation verleugnen und ihren Landsleuten gegenüber hochnäsig werden, weil sie sozial aufsteigen wollen, erhalten einen kleinen rhetorischen Tritt.
In einem kurzen Nachwort weist die Autorin sicherheitshalber darauf hin, dass ihre Ich-Erzählerin nicht sie selber ist (obwohl es Parallelen gibt, die man durchaus leicht hätte verändern können, wenn man ein solches Missverstehen schon befürchtet) und formuliert ein wenig überraschend einen Allgemeinheitsanspruch für »Familien mit Migrationshintergrund«. Des ersten Hinweises hätte es nicht bedurft – und der zweite soll das Buch in einen irgendwie soziokulturellen Kontext erscheinen lassen. Diese Ambition erscheint jedoch etwas aufgesetzt, als bedürfe es einer Rechtfertigung für das Geschriebene außerhalb seiner selbst. Tatsächlich handelt es sich bei »Sitzen vier Polen im Auto« nicht um dauerlustige Migrantenfolklore. Dafür gibt es sehr wohl Doppelbödiges, das Tobor allerdings geschickt versteckt. Und so ist das Buch sowohl leichte Sommerlektüre wie auch Familien- und sogar am Ende Entwicklungsroman. Gespannt bin ich, ob es eine Fortsetzung gibt und ob die womöglich literarisch in die Nähe von Melinda Nadj Abonjis »Tauben fliegen auf« kommen könnte.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Das Buch klingt sympathisch, aber zugleich ist »possierlich« das treffende Attribut, das mir sofort in den Sinn kommt, wenn ich das Buchcover sehe und mich an »Maria ihm schmeckt’s nicht« erinnere und diverse ähnliche Ableger, die im Format dieser Reihe erschienen. Was wäre das für ein Genre, das auch gern Auslandskorrespondenten in Form erzählender Sachbücher bestücken: Völkerverständigungsliteratur?
Ruft auf jeden Fall nach Verfilmung. Erwartetes Genre: Slapstick-Komödie à la »Bienvenue chez le Ch’tis.«
Wobei die Faszination des Kindes ob der Plastik-Konsumwelt aus dem Quelle-Katalog schon kongenial erzählt ist. Dagegen ist eigentlich nichts zu sagen. Und da man Literatur im entsprechenden Genre »abholen« muss, ist mein Leseeindruck auch positiv. Hinzu kommt, dass ich mit einer Familie sehr gut befreundet bin, die schon etwas vorher aus Polen nach Deutschland gekommen sind (die beiden Kinder sind allerdings in Deutschland geboren) und in einigen Details verblüffende Parallelen festgestellt habe. Mir gefällt dieser Pragmatismus, den man bei (sogenannten) Polen häufig findet und den Tobor sehr gut beschreibt. Und ich wage mal die These, dass die sogenannten Ruhrpolen spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts wesentlich zur ökonomischen Prosperität und Hochindustrialisierung des Deutschen Reiches beigetragen haben. Das erlebte nach dem Zweiten Weltkrieg eine Renaissance.
Zu Cover und Titel ist wohl zu sagen, dass der Verlag bewusst dieses Slapstick-Etikett hervorrufen will. Und für die Einordnung in die jeweilige Verlagsreihe kann womöglich die Autorin nichts. Im übrigen ein interessantes Beispiel, wie man über soziale Netzwerke mit entsprechender »Follower-Power« am Buchmarkt reüssieren kann. (Ich kritisiere das nicht, möchte es nur feststellen.)