Wer ist dieser Erzähler? Im Laufe des Buches entdeckt der (seinerseits zum Detektiv werdende) Leser zwar immer mehr Mosaiksteinchen, die sich jedoch nur zu einem opaken Bild formen. Zu Beginn wird ein Vorstellungsgespräch bestanden und eine Arbeit in einem Kulturbüro (oder einer Bücherei?) aufgenommen, wo man für das Inbücherheinschauen bezahlt wird. Im Wohnhaus bekleidet er zunächst noch eine Art Hilfshausmeisterstelle (Hilfsabwart), die ihn jedoch schnell überfordert und von der er durch die Hausverwaltung bald enthoben wird. Seine sozialen Kontakte sind zur Zeit der Dranmor-Initiation eher sporadisch. Über die Kollegen erfährt man nichts; die Büropflanze nennt er »Maria«. Die wichtigste Bezugsperson ist Roman, mit dem er korrespondiert und sich gelegentlich trifft. Dabei verlaufen diese Begegnungen fast immer oberflächlich, enden häufig abrupt (meist von Romans Seite). Schnell beginnt der Leser zu ahnen, dass es sich bei Roman um ein Alter ego des Erzählers handeln könnte, zumal auch er plötzlich ein Interesse an Dranmor zu entwickeln scheint, seinem »Freund« jedoch in Intention und Herangehensweise über Dranmors Werk und Leben zu schreiben dezidiert widerspricht und dabei gleichzeitig viel mehr über den Dichter zu wissen vorgibt.
Das anfangs Kauzige wechselt ins Schrullige, bevor dann der zeitweilige Wahn einsetzt. Neben der Berner Topographie besonders um den Zytglogge-Turm herum entstehen verzwickte Wohnkonstellationen des Ich-Erzählers im Mietshaus. Die Wohnung ist irgendwann für Fremde unbetretbar. In immer schnellerer Frequenz wird der Aufenthaltsort zwischen Spitzboden, eigentlicher Wohnung und dem Keller gewechselt; Möbel werden hin- und hergetragen. Überall scheinen pilzähnliche Gebilde aus den Wänden zu quillen. Eine innere Unruhe bemächtigt sich des Erzählers. Wahrnehmungssplitter vermischen sich mit (Alp-)Traumszenarien, die nur noch schwer voneinander zu trennen sind. Immer häufiger beginnen Gegenstände zu ihm zu sprechen. Er nimmt Auszeiten im Büro, meldet sich krank. Halluzinationen und Delirien beginnen, verfestigen sich: Bald sind da Glocken, wo Pflanzen sind. Ich sehe gaffende Beobachter im Baumreihen, sehe einen Vorhang, wo ein langer, grauer Bart ist, vermute einen Narren, wo der Teufel sitzt. […] Was kann das Gefühl, die Wahrnehmung der Dinge stimme nicht, noch verklären? Zum Beispiel: Das Zerfliessen der Bilder vor den Augen. Das Aufnehmen – als Mykoseprozess. Das Erinnern wird zum Pilzverfahren.
Wo Hofmannsthals Chandos die Wörter wie moderige Pilze im Mund zerfielen, zerfliessen hier die Bilder vor den Augen und der Pilz (oder Schwamm) in der Wand wird metaphorischer Untergrund für die Rekonstruktion von Dranmors Lyrik und der biographischen Prosa um ihn herum. Fasziniert wird das Leben Schmids in Brasilien ausgeforscht und mit Hans Stadens Reiseaufzeichnungen aus dem Brasilien des 16. Jahrhunderts (und besonders dessen Kannibalismus-Schilderungen) verknüpft. Auch Schmids mysteriöser Tod wird untersucht. Er sucht den Friedhof auf und findet zu seiner Empörung statt Schmids Grab das eines unwürdigen Biographen, den er deshalb auf der Stelle exhumieren will. All dies Beleg, wie Sekundärtexte über den Primärtexte dominieren? Vielleicht eher, wie eine über Archive und Gedrucktes hinweg in Körperlichkeit überfließende Auseinandersetzung mit Literatur scheitert.
Es gibt in diesem Kammerspiel diverse literarische Anspielungen – und nicht nur aus Dranmors Zeit. So erinnert der am Ende fast total in seinen Mikrokosmos eingesponnene Erzähler an Figuren von Xaver Bayer und die Beobachtungsgabe des Erzählers auf Außenwelten an Thomas Bernhards Protagonisten. Dessen Aphorismus über das Lächerliche im Angesicht des Todes wird anlässlich einer eiternden Wunde und deren schwelende Behandlung paraphrasiert (Jede Wunde wird lächerlich, wenn man an den Tod denkt). Sich selbst sieht er irgendwie bei Jean Paul und Karl Kraus.
Tiefer und tiefer wird der Leser mit dem Prozess des Verschotterns konfrontiert. Träume vermischen sich mit Realität. Die Anthropomorphisierung schreitet voran. Berge starren zurück. Der Erzähler fühlt sich angefeuert und gleichzeitig attackiert von Alkoholflaschen, Etiketten und Wänden. Gleichzeitig trinkt er unmäßig, kann das aber nicht vertragen und muss sich ständig übergeben. Die Kollegen, die »Maria« während seiner Abwesenheit haben vertrocknen lassen, sollten wegen unterlassene[r] Hilfeleistung an der Pflanze belangt werden. Seine Kündigung nimmt er stoisch entgegen. In einer skurrilen Szene trifft er sich noch einmal mit Roman, der ihm seine Verlobte vorstellt, die er als eine Bekannte wahrnimmt.
Nach dem Friedhofbesuch findet er sich in Randlingen wieder, erfährt, er gehöre zu den »leichten Fällen«. Und abermals irrlichtern die literarischen Anspielungen vor dem Auge des Lesers: Robert Walser, Friedrich Glauser, ein Hauch Dürrenmatt – natürlich. Die Schweizer und die fast zärtliche Zuneigung ihren (vermeintlichen) Irren gegenüber. Geistesgegenwärtig (sic!) spuckt er immer die kleinen Pillen aus. Und im Garten steht noch unverteilte Abendluft. (Was für ein Bild.) Fast wünscht man sich, ein Carl Seelig käme um die Ecke und nähme ihn mit auf einen Spaziergang.
Aber seltsam: Bei dieser kunst- und stilvoll erzählten Geschichte entsteht wider Erwarten kaum ein Sog. Liegt es daran, dass man an der Erzählkonstruktion zu zweifeln beginnt? Schließlich kann ein Protagonist in einer solchen Verfassung gar nicht in der Lage sein, derart akkurat zu erzählen. Oder liest man vielleicht zu sehr mit der literarischen Formalismus-Brille? Andererseits: Peter Handke erzählte seinen Tormann Bloch als katatonen Schizophrenen in der dritten Person. Hätte dieser auch als »Ich« in gleichem Maße erzählen können? Macht es doch gerade das personale Erzählen möglich, eine Distanz zum Protagonisten aufzubauen, die über diesen Umweg dann wieder Nähe und/oder Empathie zu erzeugen vermag. Ich denke an die Kindheits- und Jugenderinnerungen von Karl Heinz Bohrer (»Granatsplitter«), der von sich als »der Junge« erzählt, also bewusst distanziert. Abendschein schreibt zwar keine Autobiographie. Aber er sucht über die Form eine Nähe zur sich mehr in Auflösung befindlichen, in eine Zwischenwelt abdriftenden Persönlichkeit. Trotz dieser Direktheit ergreift es nicht in dem Maße, wie man dies erwartet (erwartet? oder wünscht, vielleicht sogar erhofft?). Es entsteht eher eine sich stetig verstärkende Unnahbarkeit zwischen Leser und Erzählung, zwischen der Figur und ihrer Dranmor-Obsession und dem Hineintauchen des Rezipienten in diese Welt. Aber diese womöglich bewusst gewählte Wirkung schärft nicht den Blick, sondern belässt alles eher im Diffusen. Aber vielleicht ist das ja gerade die Intention und wo steht geschrieben, dass sich Literatur an Formalien zu halten hat. So kann das Unbehagen an der Erzählung oder, präziser, das Unbehagen an der Form immer auch ein grandioses Missverständnis des Lesers sein.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch
Die Büropflanze Maria erinnert an Alfred Döblins »Ermordung einer Butterblume«. Ein grandios-kranke Kurzgeschichte. Und gerade weil sie so grandios-krank ist, wirkt es grotesk, wenn Alfred Döblin selber sagt, dass das Kranke keinen Stoff für Literatur biete.... Mir hat Dranmor jedenfalls gefallen, weil es anders ist. »Anders sein« kann »kitschig-anders« bedeuten, aber Dranmor ist anders auf eine interessante Art ...
Nachdenkliche Grüße
Mathias