Ur­su­la Kre­chel: Land­ge­richt

Ursula Krechel: Landgericht

Ur­su­la Kre­chel: Land­ge­richt

Ri­chard Kor­nit­zer ist 1903 ge­bo­ren, stu­diert Ju­ra, lebt in Ber­lin und will un­be­dingt Rich­ter wer­den. Er pro­mo­viert, wird Mit­glied der Pa­tent- und Ur­he­ber­rechts­kam­mer beim Land­ge­richt I in Ber­lin und hei­ra­tet 1930 Clai­re Pahl. Clai­re ist Ge­schäfts­füh­re­rin ei­ner Fir­ma, die Wer­bung für Ki­nos pro­du­ziert. Al­les läuft be­stens. Sie be­kom­men zwei Kin­der, Ge­org (1932) und Sel­ma (1935). Aber bei Sel­mas Ge­burt ist das Le­ben der Kor­nit­zer be­reits exi­sten­ti­ell be­droht, denn Ri­chard ist das, was man im Na­zi-Jar­gon ei­nen Voll­ju­den nennt. Da spielt es auch kei­ne Rol­le, dass er sich nicht ein­mal als ein rich­ti­ger Ju­de fühl­te (er be­zeichnet sich als Ju­de von Hit­lers Gna­den). Das Paar er­lebt die im­mer per­fi­der wer­den­den »Ge­set­ze« und »Ver­ord­nun­gen«, die ge­gen Ju­den seit 1933 in Kraft ge­setzt wer­den. Ri­chard wird schnell in den Ru­he­stand ver­setzt und ar­bei­tet in ei­ner Glüh­lam­pen­fa­brik. Clai­re wird auf schmut­zi­ge Art und Wei­se ih­re Fir­ma ab­ge­nom­men, weil sie, die Protes­tantin, zu ih­rem Mann steht und sich nicht schei­den läßt. Man spürt förm­lich, wie die Luft zu At­men schwin­det und die Dro­hun­gen phy­si­scher wer­den. Auch die Frei­zeit hat ih­re Un­be­schwert­heit längst ver­lo­ren. Ge­stern noch im Wann­see ge­ba­det, ist dies am näch­sten Tag plötz­lich ver­bo­ten. Rüh­rend, wie Clai­re ein an­de­res Frei­bad sucht.

Die­se Sze­nen, die in ih­rer Be­drückung und Fa­ta­li­tät an Vic­tor Klem­pe­rers Ta­ge­bü­cher 1933–1945 er­in­nern, wer­den un­ge­fähr zur Hälf­te des Bu­ches »Land­ge­richt« von Ur­su­la Kre­chel er­zählt. Bis da­hin weiß der Le­ser schon: die Fa­mi­lie hat über­lebt, Clai­re war in Deutsch­land ge­blie­ben (Re­pres­sa­li­en und Ent­eig­nung in­klu­si­ve), Ri­chard kommt aus sei­nem Exil in Ku­ba zu­rück und die Kin­der sind seit 1939 in Groß­bri­tan­ni­en und le­ben dort in­zwi­schen bei ei­ner Pfle­ge­fa­mi­lie auf dem Land. 1946 trifft sich das Paar in Bett­nang (ei­nem klei­nen Wei­ler am Bo­den­see); Clai­re, in­zwi­schen nie­ren- und fuss­krank, ar­bei­tet dort in ei­ner Mol­ke­rei. Die Schil­de­rung des Schwei­gens und der fast schüch­ter­nen An­nä­he­rung nach den vie­len Jah­ren der er­zwun­ge­nen Tren­nung ist ei­ner der li­te­ra­ri­schen Hö­he­punk­te die­ses Bu­ches.

Ri­chard Kor­nit­zer mel­det sich bei den Be­hör­den, pocht auf An­er­ken­nung als »Op­fer des Fa­schis­mus« und ei­nen ad­äqua­ten Be­ruf. Clai­re ist eher prag­ma­tisch, ar­ran­giert sich mit dem Sta­tus quo, mil­dert die Un­ge­duld des Man­nes. Das Ver­hält­nis zu den Kin­dern, die kaum noch deutsch spre­chen, Deutsch­land has­sen (die Bom­ben­an­grif­fe!) und Vor­be­hal­te ge­gen­über ih­ren El­tern he­gen, ge­stal­tet sich schwie­rig. Die Fa­mi­lie in Eng­land will sie ad­op­tie­ren, was die Kor­nit­zers aber ab­leh­nen. Ge­org nennt sich in Brie­fen trot­zig Ge­or­ge; Sel­ma schweigt zu­nächst, ist bockig. Mit den deut­schen El­tern, die sich um sie schein­bar nicht ge­küm­mert ha­ben, kön­nen sie nichts an­fan­gen (die Grün­de für das ver­meint­li­che Igno­rie­ren wer­den von ih­nen nicht er­fasst). Aber ein Hoff­nungs­schim­mer zeigt sich: Ri­chard Kor­nit­zer wird als Rich­ter in den Ju­stiz­dienst beim Land­ge­richt in Mainz ein­ge­stellt (Land­ge­richts­rat).

In der »Mit­läu­fer­fa­brik«

Kre­chel er­zählt die Kor­nit­zer-Ge­schich­te nicht li­ne­ar, aber der Le­ser kann der all­wissenden Er­zäh­le­rin im­mer fol­gen. Der Er­zähl­ton ist der je­wei­li­gen Si­tua­ti­on an­ge­passt. Ri­chard Kor­nit­zers frü­he Zwei­fel und der spä­te, auf den letz­ten ein­hun­dert Sei­ten es­ka­lie­ren­de Kampf für mo­ra­li­sche Sa­tis­fak­ti­on und Re­sti­tu­ti­on, der ver­bis­sen bis pa­ra­no­id ge­führ­te Antrags‑, Ein­spruch- und Wi­der­spruchs­krieg wird in an­de­rem Ton ge­führt als das Schick­sal der Kin­der in Groß­bri­tan­ni­en zwi­schen Kir­chen- und Wai­sen­häu­sern und das fast ein biss­chen lar­moy­ant ge­ra­te­ne Ka­pi­tel über Ri­chard Kor­nit­zers Ku­ba-Exil. Da­bei gibt es auch ge­le­gent­lich un­schö­ne An­lei­hen an ei­ne sa­lop­pe All­tags­spra­che und es ist scha­de, dass sich kein Lek­tor ge­fun­den hat, der die über sech­zig »nicht wirk­lich« auf ein er­träg­li­ches Maß re­du­ziert hat.

Aber den­noch zieht ei­nem das Buch in den Bann, ent­wickelt ei­nen Sog und man wird ge­gen En­de Zeu­ge ei­nes Pro­zes­ses ei­ner neu­ro­ti­schen Ver­bit­te­rung, die das Le­ben bis zum En­de be­stim­men wird – und da­mit de­nen auf ei­ne in­fa­me Art und Wei­se wie­der Macht ver­leiht, die Kor­nit­zer in das Exil ge­trie­ben ha­ben. Wo­bei »Exil« ein viel zu harm­lo­ser Aus­druck er­scheint für das, was dort zu Bruch ge­gan­gen ist und nie mehr zu­sam­men­ge­setzt wer­den kann. Da­bei dach­te man zu Be­ginn, dass sich Kor­nit­zer min­de­stens ar­ran­gie­ren kann in der neu­en Bun­des­re­pu­blik, die, das stellt sich früh her­aus, aus all­zu vie­len al­ten Prot­ago­ni­sten »auf­ge­baut« wer­den soll. Ich bin in ei­ner Mit­läu­fer­fa­brik ge­lan­det, denkt er früh und im­mer wie­der tau­chen ima­gi­nier­te Bil­der der Kol­le­gen vor sei­nem gei­sti­gem Au­ge auf, wie sie sich wohl wäh­rend der Zeit ver­hal­ten, ge­ge­ben, wie sie ge­ges­sen, ge- und ver­ur­teilt ha­ben, wäh­rend er auf Ku­ba war, sei­ne Frau von der Ge­sta­po drang­sa­liert und die Kin­der in Groß­bri­tan­ni­en hin- und her­ge­scho­ben wur­den. Er be­merkt, wie halb­her­zig die »Ent­nazifizierungen« lau­fen und wie lä­stig den Al­li­ier­ten die­se Vor­gän­ge sind. Sie wol­len ih­re Ver­ant­wor­tung so schnell wie mög­lich los­wer­den und schlie­ßen schnell Kom­pro­mis­se. Aber es ge­lingt Kor­nit­zer zu­nächst, die­se Vor­gän­ge zu ver­drän­gen und die Bil­der sei­ner neu­en Kol­le­gen in Na­zi-Ge­sten zu ban­nen. Er ver­senkt sich in sei­ne Ar­beit, tut das, was er im­mer schon ma­chen woll­te: Rich­ter sein und Recht spre­chen; Ge­rech­tig­keit wal­ten las­sen.

Ein er­stes Er­schrecken ist der »Fall« Phil­ipp Au­er­bach 1951/52 und die Be­hand­lung die­ses Vor­falls in Me­di­en, Po­li­tik und Öf­fent­lich­keit. Ganz schlecht kommt der »Spie­gel« da­bei weg. Die Em­pö­rung aus ei­nem zu­tiefst ten­den­ziö­sen Ar­ti­kel vom Fe­bru­ar 1951 ist bei Fi­gur und Au­torin er­kenn­bar. Noch kann Kor­nit­zer die an­de­re Sei­te se­hen, zu­mal schnell die Be­för­de­rung zum Land­ge­richts­di­rek­tor folgt. Aber im­mer sel­te­ner ver­mag er da­hin­ter ei­ne An­er­ken­nung für ei­ne Lei­stung se­hen. Er sieht sich als ei­ne Art Ali­bi, miss­traut zu­neh­mend dem Lob und den öf­fent­li­chen Re­den. Auch die Zu­wei­sung ei­nes Hau­ses in Mainz-Mom­­bach – als in­zwi­schen an­er­kann­tes Op­fer des Fa­schis­mus steht ihm das zu – ver­mag er nicht rück­halt­los zu gou­tie­ren. Aber jetzt, da er nicht mehr in ei­ner Kam­mer zur Unter­miete wohnt, kann Clai­re nach Mainz kom­men. Sie rich­ten sich ein in dem Haus; der Ge­stank der Fa­bri­ken in der Nä­he (ge­meint sind wohl die­se und die­se), des Die­sel­öls der Rh­einkäh­ne – all die­se In­si­gni­en des Fort­schritts (des »Wirt­schafts­wun­ders« – die­ser Be­griff fällt nicht ein­mal) wer­den hin­ge­nom­men; nie­mand au­ßer ihn scheint dies zu stö­ren. Gro­ße Pro­ble­me gibt es im­mer noch mit den Kin­dern, die in den Som­mer­fe­ri­en kom­men und fremd blei­ben, sich auch spä­ter den El­tern ent­zie­hen (Ge­or­ge wird In­ge­nieur, Sel­ma will Bäue­rin wer­den, schmeißt dann das Stu­di­um und hei­ra­tet 1957, wie sie ih­rem Va­ter halb stolz halb trot­zig er­klärt, ei­nen Ju­den, was Kor­nit­zer als »Qua­li­fi­ka­ti­on« nicht ge­nügt, aber er schweigt). Clai­re macht die Haus­ar­beit, liest, ver­senkt sich in die Li­te­ra­tur, in Sve­vo, So­mer­set-Maug­ham, Kleist und an­de­re. Aber ih­re Ge­sund­heit ist an­ge­grif­fen.

In weit aus­ho­len­den Be­we­gun­gen wird das Schick­sal der Kin­der er­zählt, ih­re Odys­see in Groß­bri­tan­ni­en (am En­de nennt Kre­chel Li­te­ra­tur, aus der sie wo­mög­lich das Schick­sal de­stil­liert hat), ih­re Sehn­sucht nach den schwei­gen­den El­tern. Im et­was lan­gen Exil-Ka­pi­tel wird der Le­ser mit der ku­ba­ni­schen Exi­lan­ten­sze­ne kon­fro­niert. Die­se ist natur­gemäß nicht so schil­lernd und glanz­voll wie bei­spiels­wei­se in Ka­li­for­ni­en. Es gibt kei­ne Manns, kei­nen Feucht­wan­ger, kei­nen Brecht (nicht ein­mal ein Al­fred Dö­b­lin mit sei­ner ver­zwei­fel­ten Un­auf­ge­ho­ben­heit). Kor­nit­zer be­kommt ei­ne Se­kre­tärs­ar­beit bei ei­nem An­walt und schlägt sich mit der Hit­ze und der al­les be­herr­schen­den Kor­rup­ti­on her­um. Schif­fe mit Flücht­lin­gen wer­den wie­der zu­rück­ge­schickt, weil nicht mit aus­rei­chen­den Sum­men ge­schmiert wird und er ist ganz froh, dass nicht Clai­re auf ei­nem die­ser Schif­fe ist (das be­ru­higt das spo­ra­disch auf­kom­men­de schlech­te Ge­wis­sen, die Frau als ari­sche Gei­sel zu­rück­ge­las­sen zu ha­ben, aber im ku­ba­ni­schen Kon­su­lat in Ham­burg gab es nur ein Vi­sum, wo­mög­lich, weil die Be­stechungs­sum­me trotz der Erb­schaft der Mut­ter zu nied­rig war). Es kommt wie es kom­men muss, Kor­nit­zer lernt ei­ne Frau ken­nen, ei­ne Leh­re­rin. Fast ein biss­chen ge­schraubt wird die­se Lie­bes­ge­schich­te er­zählt. Und na­tür­lich wird die Frau auch schwan­ger und Kor­nit­zer »ver­liert« noch vor der Ge­burt auch den Kon­takt zu die­sem Kind, das die Mut­ter auf sei­nen Wunsch hin Aman­da nennt. Ei­ne le­di­ge Mut­ter ist in Ku­ba un­mög­lich; das Kind wächst nicht bei der Mut­ter auf. Zum Ab­schied be­kommt er ein Bild ge­zeigt, die klei­ne Aman­da an der Hand von je­mand, der auf dem Fo­to ab­ge­schnit­ten ist. Aber da bre­chen die Exi­lan­ten schon auf; nur we­ni­ge blei­ben und wol­len den So­zia­lis­mus in Ku­ba ver­wirk­li­chen. Sie ver­zwei­feln dann ein biss­chen spä­ter.

Die Ver­le­sung der Grund­ge­setz-Ar­ti­kel

Im­mer wenn man denkt, Kor­nit­zer ha­be sich ei­ni­ger­ma­ßen ein­ge­rich­tet, bricht es aufs Neue aus ihm her­aus. Für ei­ne Ver­hand­lung am 20. Sep­tem­ber 1956 hat­te er ei­nen Ver­tre­ter der Pres­se so­wie den Land­ge­richts­di­rek­tor ein­ge­la­den. Be­vor er ei­ne Ver­handlung er­öff­net, liest er oh­ne jeg­li­che Kom­men­tie­rung und Ver­an­las­sung Ar­ti­kel 3 Ab­satz 3 und Ar­ti­kel 97 Ab­satz 1 des Grund­ge­set­zes. Zu­nächst scheint sich ein Spoerl­sches Pos­sen­spiel zu ent­wickeln, aber die An­ge­le­gen­heit schau­kelt sich zu ei­nem hand­fe­sten Skan­dal hoch. Kor­nit­zer war mit sei­nen Re­sti­tu­ti­ons­ge­su­chen im­mer wie­der ge­schei­tert und woll­te of­fen­sicht­lich mit die­ser un­or­tho­do­xen Maß­nah­me für Auf­se­hen sor­gen. Im Ge­gen­satz zu Kaf­kas Jo­sef K., der sei­ne Pro­zess­geg­ner nicht kennt, ist Kor­nit­zer fast im­mer auf dem Lau­fen­den (nur we­ni­ge Ma­le zi­tiert die Er­zäh­le­rin Ak­ten­no­ti­zen, die er nicht bzw. nicht zur glei­chen Zeit zu­gän­gig wa­ren), kennt sei­ne Fein­de und die Fall­stricke der Ge­set­ze und Pa­ra­gra­phen. Er gibt an, dass er, wenn er nicht hät­te flie­hen müs­sen, in ge­ho­be­ne­rer Po­si­ti­on wä­re als jetzt und will auch hier – ja, was ei­gent­lich? Geld? Ti­tel? An­er­ken­nung? Wid­mung? sein Recht? Und er pocht auf ei­ne Ent­schä­di­gung für die in Clai­res re­qui­rier­ter Woh­nung von der Ge­sta­po oder sonst­wem ent­wen­de­ten (und seit­dem ver­schwun­de­nen) Ge­gen­stän­de.

Die Ein­ga­ben wer­den zwar bü­ro­kra­tisch be­ar­bei­tet und be­ant­wor­tet, aber Kor­nit­zer beißt auf Gra­nit. Ela­bo­riert rech­net man ihm das Haus an, ver­gleicht sei­ne Kar­rie­re mit de­nen der nicht emi­grier­ten Ju­ri­sten (was ihn em­pört, da es sich im ge­ring­sten Fall um Na­zi-Mit­­läu­fer han­delt). Kor­nit­zers Hand­lun­gen wir­ken wie ei­ne Mi­schung aus Koep­pens Keeten­heuve, der als Po­li­ti­ker am bruch­lo­sen Kon­ti­nu­um ei­ner Wei­ter-so-Bun­des­re­pu­blik schei­ter­te und schließ­lich ins Was­ser ging und Mi­cha­el Kohl­haas, nur das Kor­nit­zers Waf­fe das Wort und die zu­wei­len bei­ßen­de Po­le­mik ist (nicht oh­ne Grund ver­wen­det Kre­chel ein Kohl­haas-Zi­tat als Mot­to). Auch phy­sisch lei­det er: er wird fett und herz­krank. Er spürt sein Herz im Hal­se klop­fen und es wird der Sitz ei­ner un­de­mo­kra­ti­schen Ne­ben­re­gie­rung, ein Un­ru­he­herd. Um die Fall­stricke der Bü­ro­kra­tie bes­ser zu über­blicken, schal­tet er ei­nen An­walt ein, der die Erup­tio­nen sei­nes Man­dan­ten mil­dert und manch­mal Teil­erfol­ge er­reicht. Aber Kor­nit­zers Wün­sche, Ein­ga­ben, For­de­run­gen neh­men im­mer mehr zu. Er ver­langt Ein­sicht über sei­ne Be­ur­tei­lung und stört sich dar­an, dass man ihn dort als mas­sig be­zeich­net. Er macht ei­ne Fa­sten­kur, die ver­län­gert wird und muss sich da­von erst ein­mal er­ho­len. Wei­te­re Ku­ren und Ur­lau­be fol­gen. Schließ­lich wird er zum Se­nats­prä­si­den­ten am Ober­lan­des­ge­richt Ko­blenz er­nannt. Aber auch das ist ihm nicht recht und er wer­tet die Be­för­de­rung als Tak­tik sei­ner Geg­ner um: Kei­ne Emo­tio­nen sind über­lie­fert, nur Förm­lichkeiten, Ver­bind­lich­kei­ten, ein gro­ßes Pfla­ster auf ei­ner gro­ßen Wun­de, und dann den Blick ab­ge­wandt, den Sarg­deckel ge­schlos­sen. Re­si­gnie­rend heißt es schließ­lich, dass Kor­nit­zer, der so ger­ne Rich­ter war, das Land­ge­richt nicht mehr be­tritt. Er gibt auch jetzt kei­ne Ru­he, mit Feu­er­ei­fer stürzt [er] sich…in die Ar­beit für sei­ne Wie­der­gut­ma­chung. Ein we­nig Er­ho­lung fin­det er nur in sei­ner Ei­gen­schaft als Vi­ze­prä­si­dent der Aka­de­mie für Völ­ker­recht in Den Haag. Hier fühlt er sich ak­zep­tiert, si­cher und un­be­ob­ach­tet, denn in Den Haag gibt es kei­ne geg­ne­ri­sche Par­tei und es gibt zar­te An­deu­tun­gen, dass es dort auch so et­was wie Freun­de gibt, wo­von in Mainz nie­mals die Re­de ist.

Und sei­ne Frau? Sie kommt hier­über auch nicht zur Ru­he, ei­ner­seits steht sie ih­rem Mann bei, an­de­rer­seits… Als Ri­chard aus Ber­lin zu­rück­kommt (er war dort um Zeu­gen von Clai­res Woh­nungs­re­qui­rie­rung auf­zu­spü­ren) liegt sei­ne Frau mit Ober­schen­kel­hals­bruch be­wusst­los im Haus. Sie kann da­nach nicht mehr ge­hen, ih­re Nie­ren ver­sa­gen im­mer mehr. Mit noch nicht ein­mal 60 Jah­ren wird sie zum Pfle­ge­fall. Kor­nit­zer hört ih­re (nicht ver­ba­li­sier­ten) Vor­wür­fe. Und über ei­ne zi­tier­te Be­hör­den­ant­wort er­fährt der Le­ser dann, dass Clai­re ge­stor­ben ist.

Nicht ver­söhnt

Nach dem Tod sei­ner Frau: Jetzt sah er sich im schar­fen Ge­gen­licht, sei­ne gräm­li­che Ge­stalt, die Mund­win­kel, die sich nach un­ten bo­gen, er sah sei­ne schwe­re, dunk­le Horn­brille, hin­ter de­nen er sei­ne Au­gen im Spie­gel nicht wirk­lich sah. (Oder woll­te er sich selbst nicht in die Au­gen schau­en?) Er sah sei­ne un­tä­ti­gen Hän­de, auf ih­nen die blau­en Flüs­se der Adern und er­ste Al­ters­flecken auf den Hand­rücken, die Mon­de der Finger­nägel, er sah sich und er­schrak. Er sah sei­nen Ha­der, sah ihn wie ei­ne zwei­te Ge­stalt hin­ter sich, ei­ne dunk­le Er­schei­nung, bö­se, streit­bar, un­zu­frie­den. Ganz lei­se schlich er von sich selbst fort. Kor­nit­zer ist, wie Ro­bert Fäh­mel in Bölls »Bil­lard um halb­zehn« »nicht ver­söhnt mit mir und nicht mit dem Geist der Ver­söh­nung.« Er scheint, wie ei­ne an­de­re Böll-Fi­gur in die­sem Ro­man, der die Re­stau­ra­ti­ons­stim­mung sehr ge­konnt ein­fängt, re­gel­recht Angst zu ha­ben »sich von der ba­na­len Tat­sa­che über­zeu­gen [zu las­sen], daß das Le­ben wei­ter­geht und die Zeit ei­nen ver­söhnt.« Und so pflegt Kor­nit­zer ei­ne mo­ra­lisch ge­trie­be­ne Un­er­bitt­lich­keit. Er war nach Deutsch­land zu­rück- aber nicht an­ge­kom­men. Sein Glau­be an Recht und Ge­rech­tig­keit war un­ter den Be­din­gun­gen die­ser Bundes­republik zum Schei­tern ver­ur­teilt. Es gibt noch ei­nen Hö­he­punkt, als Aman­da zu Be­such kommt, die jun­ge Frau will wei­ter nach Pa­ris, Sän­ge­rin wer­den. Und 1970 schließt Kor­nit­zer ei­nen Frie­den, ak­zep­tiert die 3000 Mark Scha­dens­er­satz für Clai­res Wohnungs­vertreibung und dann scheint es so, als sei da­mit sein Le­bens­zweck er­lo­schen, denn ir­gend­wann er­fährt der Le­ser – auch hier in­di­rekt – das Ri­chard Kor­nit­zer kurz da­nach ge­stor­ben war.

Aber da­mit ist die Ge­schich­te noch nicht zu En­de. Ge­or­ge (ver­hei­ra­tet mit ei­ner Bri­tin, die von der Er­zäh­le­rin un­pas­send dün­kel­haft als schlich­tes Ge­müt ab­qua­li­fi­ziert wird) ar­bei­tet in­zwi­schen in ei­ner In­ge­nieurs­fir­ma am Rhein. Er, der sich als ei­ne kru­de Mi­schung aus Deut­scher und Bri­te emp­fand, er­hält ei­nes Ta­ges Post von ei­nem Ver­lag, der ein Hand­buch der deutsch­spra­chi­gen Emi­gra­ti­on her­aus­ge­ben möch­te und den Sohn um Be­stä­ti­gung der bis­her ge­sam­mel­ten Da­ten von Ri­chard Kor­nit­zer bit­tet, um die­sen auf­zu­neh­men. Ge­or­ge über­legt aber sei­ne Frau weiß gar nicht, was es da zu über­le­gen gibt. Es mach­te sie stolz, daß ihr Schwie­ger­va­ter zu der Eh­re kam, daß ihm ein Le­xi­kon­ar­ti­kel ge­wid­met wur­de. Aber Ge­or­ges Ant­wort an den Ver­lag ist von ähn­li­cher Ver­bit­te­rung wie das Ver­hal­ten sei­nes Va­ters. Er sagt ab, sieht sich au­ßer Stan­de, die An­ga­ben zu be­stä­ti­gen oder zu kor­ri­gie­ren. Statt­des­sen be­klagt er, sein Va­ter ha­be ei­nen Te­sta­ments­voll­strecker einge­setzt, der mehr als vier Jah­re [hat] ver­strei­chen las­sen, um den Nach­laß zu re­geln, ob­wohl er, sei­ne Schwe­ster in Eng­land so­wie die eben­falls erb­be­rech­tig­te Frau Aman­da Pi­mi­en­ta (ei­ne Ver­wandt­schafts­be­zeich­nung zu nen­nen, ver­mied er) sich in al­len Fra­gen des Te­sta­ments und der Auf­tei­lung des Er­bes ei­nig sei­en. Er bat die Re­dak­ti­on des Hand­bu­ches, die­sen Skan­dal auf­zu­grei­fen und der schrei­en­den Un­ge­rech­tig­keit, die letz­te, die sein Va­ter er­dul­den müs­se, ein En­de zu be­rei­ten. Und er ver­blieb mit ver­bind­li­chen Grü­ßen. Ge­or­ge ver­stand nicht, daß er Zeu­ge war, Zeu­ge für das Lei­den und den Hoch­mut sei­nes Va­ters. Ei­ne Mit­ar­bei­te­rin des Ver­la­ges schüt­tel­te den Kopf über die­sen Brief. Ei­nen Ein­trag im Hand­buch gab es nicht. Die Ra­che des Soh­nes für 1939?

In Zei­ten der gro­ßen Cool­ness ist ein Buch wie »Land­ge­richt« per se schon ei­ne Pro­vo­ka­ti­on. Aber es ist ein auf­rüh­ren­des Buch, sper­rig, ner­vig, ei­ne Pri­se mo­ra­lin­sauer und in der Schil­de­rung der Bit­ter­nis ei­nes zu­tiefst un­glück­li­chen Men­schen ver­stö­rend. Über die ge­le­gent­li­chen sprach­li­chen De­fi­zi­te liest man ir­gend­wann ein­fach hin­weg. Ei­ni­ge wer­den die­ses Buch si­cher­lich als lä­stig emp­fin­den – das wä­re die Ge­mein­sam­keit zwi­schen ge­stern und heu­te, zwi­schen Grup­pe 47 und Feuil­le­ton­zir­kus 2012 (nicht oh­ne Grund gibt es ei­ne ab­schät­zi­ge Be­mer­kung Kor­nit­zers über die »Kri­te­ri­en« der Grup­pe 47). »Land­gericht« ist ein Buch, das größ­te Auf­merk­sam­keit ver­dient. Und ein Buch, das auf selt­sa­me Wei­se die Ko­or­di­na­ten des Le­bens wie­der ein biss­chen zu­recht­rücken könn­te.


Die kur­siv ge­setz­ten Pas­sa­gen sind Zi­ta­te aus dem be­spro­che­nen Buch.

6 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Noch wäh­rend des Le­sens die­ser aus­ge­zeich­ne­ten Buch­be­spre­chung stand für mich fest: Das Buch wer­de ich mir um­ge­hend be­schaf­fen. Du be­schreibst ei­ni­ge Pas­sa­gen, die ich so­fort mit dem Ver­hal­ten mei­nes Va­ters nach dem Krieg as­so­zi­ier­te und mög­li­cher­wei­se fin­de ich in die­sem Buch die ein oder an­de­re Er­klä­rung für bis heu­te Un­ver­stan­de­nes.

  2. Dan­ke­schön für die­se Re­zen­si­on. Nach­dem ich mich so­eben durch »Mit­tel­reich« und zu­fäl­lig eher gleich da­nach durch »Ger­ron« ge­le­sen ha­be, ge­be ich nach die­ser Be­spre­chung die Hoff­nung nun doch nicht auf, et­was In­ter­es­san­te­res, al­len­falls »Bes­se­res« Li­te­ra­ri­sches um »je­ne Zei­ten her­um« le­sen zu kön­nen. Im­mer dar­an in­ter­es­siert, wie der im­mer län­ger wer­den­de Blick nach hin­ten heu­te ge­stal­tet und dem Pu­bli­kum vor­ge­setzt wird. Ge­spannt bin ich auf das, was Sie als »mo­ra­lin­sauer« be­zeich­nen – könn­te sein, den­ke ich, was an Au­toren­stim­me mir in den ge­nann­ten Bü­chern als »wich­tig­tue­risch« vor­kam. Was sprach­li­che De­fi­zi­te an­geht, bin ich eben­falls neu­gie­rig. Ob dort die Schwie­rig­keit ei­nes red­lich schrei­ben­den Men­schen lie­gen könn­te – mit »je­nen Zei­ten« sich so ein­ge­hend zu be­fas­sen und dar­über zu be­rich­ten, dass dort die Au­toren­stim­me manch­mal »quietscht«, wo sie an­son­sten das »Ei­ge­ne« aus­liess – was we­der Bier­bich­ler noch Le­win­sky in ir­gend ei­ner Wei­se schaff­ten oder auch gar nicht schaf­fen woll­ten?
    Je­den­falls, mer­ci – und das Buch kommt mir auch auf den Tisch!
    Mit freund­li­chem Gruss
    Kt­schni­der

  3. @Gregor

    Du hat­test mich ja um ei­ne kur­ze Mei­nungs­äu­ße­rung zu Dei­nem Buch­tip „Land­ge­richt“ ge­be­ten und dem kann ich jetzt end­lich nach­kom­men.

    Ver­ständ­li­cher­wei­se dau­ert es im­mer ei­ne ge­rau­me Zeit, bis man ein Buch aus Deutsch­land hier, Tief im Sü­den, in Hän­den hal­ten kann. Manch­mal fügt es sich glück­lich, dass so ein Bü­cher­wunsch in der Nä­he ei­nes Be­su­cher­ter­mins fällt. Dann geht’s rasch und ko­sten­gün­stig. Die­ses Glück hat­te ich dies­mal nicht, aber da Dei­ne Re­zen­si­on des Ro­mans „Land­ge­richt“ mich höchst neu­gie­rig auf die ra­sche Lek­tü­re ge­macht hat­te, so ha­be ich das Buch bei ei­ner deut­schen Buch­hand­lung in Kap­stadt be­stellt, un­ge­ach­tet des dop­pel­ten Ver­kaufs­prei­ses. Auf La­ger hat­ten die es nicht, aber sie ha­ben es be­stellt und be­reits 6 Wo­chen spä­ter wur­de ge­lie­fert ( ur­sprüng­lich hieß es: 2 Wo­chen – ist halt Afri­ka!).

    Um es kurz ma­chen: Das War­ten hat sich ge­lohnt. Sel­ten hat mich ein Buch so ge­fes­selt und be­rührt. Es fällt mir schwer zu wer­ten, was mich mehr be­ein­druckt hat, das an- und ab­schwel­len­de Tem­po des Ro­mans, Jah­re ver­ge­hen wie im Zeit­raf­fer und dann ver­harrt die Ge­schich­te plötz­lich in der de­tail­lier­ten Be­schrei­bung des Au­gen­blicks, oder die wirk­lich ge­konnt ver­wo­be­nen Zu­sam­men­hän­ge zwi­schen der emo­ti­ons­lo­sen Ba­na­li­tät amt­li­cher Ent­schei­dun­gen, der Ba­na­li­tät des Bö­sen, und den zer­stö­re­ri­schen Aus­wir­kun­gen auf das In­di­vi­du­um. Der la­ten­te Zwei­fel, ob es sich hier um ei­ne fik­ti­ve Ge­schich­te oder nicht doch eher um ei­ne rea­le Bio­gra­phie han­delt, ist be­wusst an­ge­legt und führt auf ver­stö­ren­de Wei­se zu eher noch tie­fe­rem Mit­lei­den mit der ze­ris­se­nen Fa­mi­lie.

    Bei 500 Sei­ten gibt es na­tür­lich auch Pas­sa­gen, bei de­nen man ein­fach et­was schnel­ler liest, weil ein be­stimm­ter Mo­ment, hin- und her­ge­wen­det, von vorn, von hin­ten, von oben und un­ten be­schrie­ben, ir­gend­wann ge­nug ist und man die Ab­sicht der Au­torin spürt, jetzt be­son­ders li­te­ra­risch zu wer­den, was am En­de dann aber nur nervt. Kommt Gott sei Dank nicht oft vor und , wie ge­sagt, dann liest man halt ein­fach et­was schnel­ler.

    Ob­wohl vie­le Fak­ten im Ro­man be­kannt sind, wer wüss­te nicht, dass Na­zi­rich­ter ih­re Kar­rie­re in der BRD naht­los fort­ge­setzt hät­ten, wer wüss­te nicht, dass Ju­den auf der Flucht vor den Na­zis gro­ße Pro­ble­me hat­ten ir­gend­wo auf der Welt Asyl zu fin­den, so er­lebt man die­ses nüch­ter­ne Wis­sen hier plötz­lich haut­nah und be­drückend aus der Sicht der Be­trof­fe­nen. Ein wirk­lich groß­ar­ti­ges Buch, wel­ches nach­wirkt.
    Noch mal vie­len Dank für Dei­nen Tip.

    Herz­li­che Grü­ße

  4. Herz­li­chen Dank für Dei­ne Rück­mel­dung. Dass das Buch was taugt, ist ja in­zwi­schen auch durch den Deut­schen Buch­preis do­ku­men­tiert. Es ent­hält in der Tat ei­ni­ge sehr in­ter­es­san­te Ein­zel­hei­ten. Mich hat das En­de er­grif­fen: Der Sohn, der sei­nem Va­ter in der glei­chen Ver­bis­sen­heit die Re­ha­bi­li­ta­ti­on ver­wei­gert, wie da­mals die ehe­ma­li­gen Na­zis Kor­nit­zer (wenn es auch ei­ne an­de­re Wie­der­gut­ma­chung ge­we­sen wä­re).