Es gibt nur ein kleines Heftchen, ein »Kurzführer« bzw. »Miniguide«, mit kurzen Angaben zu ausgesuchten Fotografien und allgemeinen Hinweisen (die man sehr gut nach der ersten Sichtung lesen kann). Ansonsten entfallen bei der gerade eröffneten Andreas Gursky-Ausstellung im Museum Kunstpalast in Düsseldorf die üblichen aufdringlichen Erklärungsversuche. Im Museumsladen findet man zwei katalogähnliche Bücher (der offizielle Katalog trägt den Titel »Bangkok«) aber keine Postkarten oder andere Devotionalien. Die Vorstellung des Künstlers in der Ausstellung fällt knapp aus; ohne Portraitbild und Hinweise auf die erzielten Preise der Original-Fotografien.
Derart unbeschwert geht oder schlendert der Besucher freien Blickes durch eine Ausstellung, die ihre 60 Exponate weder chronologisch noch motivisch geordnet hat. Nur am Rande ist dabei interessant, dass die Objekte in der Ausstellung ausschließlich »C‑Prints oder Pigmentausdrucke« (»Kurzführer«) sind, was das Museumspersonal nicht daran hindert, Zuschauer, die den Objekten zu nahe kommen, auf Distanz zu halten. Es ist dennoch ein wunderbares Herumsuchen und –finden, Zusammenstellen und Nach-Schauen und wenn man nach einer Stunde alles gesehen hat (bzw. glaubt, alles gesehen zu haben – bei Gursky kann man niemals »alles« gesehen haben), dann freut man sich nach einem Kaffee auf eine zweite Expedition in den Kosmos dieses Künstlers.
Die freie Hängung ermöglicht Einsichten, die bei einer wie auch immer vorgenommenen Sortierung womöglich nicht eingetreten wären. Bilder von Menschen in Landschaften wie »Klausenpaß« von 1984 oder das fast frappierend an holländische Landschaftsmaler des 17. Jahrhunderts wie Jacob van Ruisdael erinnernde »Mülheim an der Ruhr, Angler« von 1989 hängen sozusagen vis-à-vis von »Katar« von 2012 (einem Flüssiggastank, der zu Reinigungszwecken entleert und gereinigt wurde). Man bestaunt die Wimmelbilder aus dem Bereich des Sports wie »Tour de France« (2007) oder »Engadin I« (1995) und dann, kontrastierend dazu, den schmucklosen »Gasherd« von 1980 oder die (fast) menschenleere Rennstrecke von Bahrein (»Bahrein I«, 2005), die wie eine technisch raffiniert abgelichtete Spielzeug-Bahn oder, von Ferne, wie eine geologische Karte verschiedener Gesteinsschichten wirkt. Während die Menschen in »Paris Montparnasse« von 1993 unsichtbar bleiben (obwohl man förmlich darauf warten möchte, bis sich das ein oder andere Fenster öffnet), sieht man im ein Jahr später entstandenen »Hongkong Shanghai Bank« neben leeren Räumen deutlich die bei Kunstlicht sitzenden, arbeitenden und konferierenden Bankmitarbeiter.
Im Begleitbüchlein wird darauf hingewiesen, dass das »Montparnasse«-Bild »eine der ersten Arbeiten« war, »bei denen Gursky mit digitaler Manipulation arbeitete«. Auch ohne diesen Hinweis merkt man, dass es ein Irrtum wäre zu glauben, Gursky bilde mit seinen Fotografien so etwas wie Wirklichkeit ab; von einem simplen Fotorealismus sind seine Bilder weit entfernt (was im übrigen auch für die scheinbar unmanipulierten Exponate gilt). Gursky definiert sich selber als Fotomaler, was sofort einleuchtet. Ein wesentlicher Reiz liegt jedoch in der Aura des Möglichen, die Gursky mit seinen Bildern erzeugt.
Im Wechselspiel zwischen masseninszenatorischem Gewimmel wie »Nha Trang« von 2004 (hier werden für die vietnamesische Firma »Rapexco« Korbwaren geflochten), dem »Board of Trade« von Chicago oder dem witzigen »Rimini« (2003) und fast stillebenhaften Exponaten wie »Schiphol« von 1994 (im Edward Hopper Duktus) oder den Fotografien aus dem Jahr 2000 der Seiten 523 bzw. 753 aus Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften« liegt ein großer Reiz dieser Ausstellung. In den besten Momenten entsteht beim Schauenden nach einer Phase des Fixierens auf markant erscheinende Szenerien eine anmutige Melancholie, die auch nicht weicht, wenn es sich um Standbilder von aktionistisch verstrickten Protagonisten handelt, die plötzlich selber zu ihrer eigenen Umgebung werden.
Kompliziert wird dies in den Nordkorea-Bildern Gurskys, von denen in der Ausstellung nur eines hängt (»Pyongyang I« von 2007). Hier wird die Verschmelzung des Menschen hin zu einem Gruppenbild zur Uniformierungsgeste, die in den anderen Bildern nicht derart scharf hervortritt. Man glaubt, ein Balancieren zwischen Affirmation und Kritik zu spüren, wobei beide Haltungen auf ihre Art Unbehagen erzeugen. Man wird hin- und hergerissen: entscheidet man sich für die ästhetische Interpretation des Gemalten losgelöst von der politisch-sozialen Dimension oder geißelt man die Ent-Individualisierung, die hier offensichtlich stattfindet, von der man eben weiß, d. h. die sich nicht über das Bild erschließt?
Und wie ist es mit den Schuhregalen? Ein Bild, von Ferne betrachtet, hält man zunächst für Buchstaben- oder Kalligraphenzeilen, bevor man dann die Schuhe sieht (»Prada I«, 1996). Wieder als Kontrast dazu das (in der Ausstellung) größere Foto mit leeren Regalen. Soll das als Kapitalismuskritik verstanden werden? Oder geht da dem Schauenden einfach nur der Interpretationsgaul durch, der jene so wohltuende und sehbereit machende Deutungsunlust für einen Moment verdrängt hat?
Immer wieder dazwischen diese »Bangkok«-Bilder von 2011 (zwei Beispiele: »Bangkok IX« und »Bangkok V«), die in zweifacher Hinsicht eine Sonderstellung einnehmen (das Wort »Wende« wäre wohl verfrüht). Der Künstler löst sich hier deutlich von der (vermeintlichen) Gegenständlichkeit und variiert den thailändischen Fluss Chao Phraya als quecksilbrigen Strom mit expressionistisch anmutenden Verfremdungseffekten. Und noch ein Unterschied ist sichtbar: Sieht man beispielsweise von den Satellitenaufnahmen »Ocean I« und »Ocean II« ab, weisen die meisten Bilder Gurskys explizit eine horizontale Ausrichtung auf. Mit der »Bangkok«-Serie wird dies radikal verändert. Der Strom ergießt sich in unterschiedlichen Stärken vertikal durch das jeweilige Bild. Auch hier lauert also heraklitisches Denken.
Die gelungene Ausstellung endet am 13. Januar 2013. Sie wird nur ein wenig durch die ungünstig beleuchteten Räume und die damit verbundenen störenden Spiegeleffekte getrübt.
Danke für diese sehr gute Beschreibung und Ihre Gedanken – ich wollte die Ausstellung ohnehin ansehen, jetzt freue ich mich aber noch mehr darauf.