Merkwürdige Koinzidenzen: Da werde ich aufmerksam auf ein Buch von Martin Doll mit dem Titel »Fälschung und Fake«. Fast gleichzeitig wird auf »phoenix« der Film von Miklós Gimes über Tom Kummer ausgestrahlt (»Bad Boy Kummer«). Kummer hatte in den 1990er Jahre Furore mit Interviews insbesondere von US- und Hollywood-Berühmtheiten wie Brad Pitt, Sharon Stone, Quentin Tarantino oder Mike Tyson gesorgt, bis sich schließlich herausstellte, dass diese Gespräche gefälscht waren und niemals stattgefunden hatten. Diese beiden Ereignisse – die Buchlektüre und der Film – wurden flankiert von einem Beitrag des NDR-Medienmagazins »zapp« über sogenannte autorisierte Interviews. Schon vor einigen Wochen war mir in diesem Zusammenhang ein »tagesschau«-Blog-Beitrag von Sandra Stalinski aufgefallen, in der sie über ein nachträglich zurückgezogenes Interview schreibt und dies mit dem »Recht auf das gesprochene Wort« rechtfertigt, welches, wie die Autorin betont, in Deutschland gelte. Und schließlich gab es den Artikel in der FAZ, in der die Bundespressekonferenz beim Nachrichtenmagazin »Spiegel« einen Verstoß gegen das Schweigegelübde mit dem jovial-ominösen Titel »Unter 3« ausmachte und eine »Rüge« aussprach: Der »Spiegel« berichtete über eine private Aussage des Vorsitzenden des Bundesverfassungsgerichts, der als Vorwegnahme eines Urteilsspruchs ausgelegt werden könnte.
Beginnen wir bei Martin Dolls Betrachtungen zum Fall Tom Kummer in seinem Buch. Gemäss der Definition Dolls sind Kummers Interviews Fälschungen gewesen (Fakes unterscheiden sich von Fälschungen dahingehend, dass in ihnen die »Aufdeckung von vornherein mitentworfen«, also bereits angelegt ist, während Fälschungen bewusste Täuschungen sind). Bis zu ihrer Aufdeckung werden Fälschungen (also beispielsweise archäologische Fundstücke oder eben auch Interviews) für wahr gehalten. Im Moment der Aufdeckung werden sie zu »Kippobjekten«. Im teilweise schwierig zu lesenden Buch heißt es dazu: »Bei Fälschungen werden Artefakte zu Fakten, etwas Gemachtes wird zu etwas Aufgefundenem erklärt. Bei der Aufdeckung von Fälschungen kippen diese Verkehrungen jedoch wieder zurück: Etwas als original, authentisch, autorisiert oder faktisch Anerkanntes wird auf seine irreführende Produziertheit zurückgeführt.« Doll liegt es fern, eine Fälschung unter moralischen Gesichtspunkten zu be- oder verurteilen. Er möchte, dass »Fälschungen und Fakes als Diskursphänomene betrachtet werden« und beleuchtet in seinem »sowohl die historisch spezifischen Bedingungen, die die Existenz von Fälschungen ermöglichten und ihre Gültigkeit bestimmten, als auch die Wirkmächtigkeit, die von ihnen ausgehen kann, herauszustellen«. Es geht um das »kritische Potential von Fälschungen«.
Wenn Quentin Tarantino Louis Trenker paraphrasiert
Wie Doll vorgeht und ob dies im Einzelfall gelingt, werde ich vielleicht später einmal versuchen zu analysieren. Doll lässt auch an den anderen, zahlreichen Beispielen in seinem Buch keinen Zweifel daran, dass er das Potential entdeckter Fälschungen (und Fakes) als belebendes Element für den jeweiligen Diskurs innerhalb der betroffenen Disziplin empfindet. Dabei bemerkt er einerseits, dass die Kummer-Fälschungen nicht »textkritisch« zu entlarven gewesen seien, berichtet jedoch andererseits von expliziten, teilweise wörtlich übernommenen Zitaten anderer Personen, die den Interviewten in den Mund gelegt wurden. Dabei ist diese Zuordnung derart orthodox, dass man sich schon fragt, warum dies niemand erkannt hat. Da zitiert Mike Tyson Rainer Werner Fassbinder, Nicole Kidman Carl Schmitt oder Quentin Tarantino paraphrasiert Louis Trenker. Kummer sagt sinngemäß in dem Film, dass diese fast offensichtlichen Unsinnigkeiten niemand habe sehen wollen: die Redakteure im SZ-Magazin und all den anderen Publikationen, die Kummer ob dieser scheinbar so authentischen Interviews feierten, wollten die Storys. Problematisch sei es erst geworden, als einer mal ein Band gefordert habe, so Kummer in dem Film. Dann flog der Schwindel schnell auf.
Für Doll sind die aufgedeckten Fälschungen und die danach einsetzende Diskussion ein »diskursimmanenter Impuls zur Rekonfiguration des journalistisch Akzeptablen«. Nebenbei tragen sie im vorliegenden Fall zur »verspäteten expliziten Auseinandersetzung mit den Einflüssen des ’neuen Journalismus’ « bei, einer Stilart, die aus den USA (in der Kummer lebte) nach Europa in den 1990er Jahren überschwappte und Reportage und Literatur mehr miteinander verschmelzen wollte. Ein Wortführer dieses »New Journalism« war damals Tom Wolfe, der dann später als vielbeachteter Schriftsteller vollständig ins »fiktionale Fach« wechselte.
Der »New Journalism« propagierte zwar »Erzählung statt Wiedergabe«, ging jedoch nie so weit, Details oder Zustände erfinden zu wollen. Der Begriff der Erzählung ist somit nicht als fiktionales Genre zu verstehen. Demzufolge definiert Doll: »Eine Interviewfälschung ließe sich…intradiskursiv als etwas definieren, mit dem ein publizistisches Versprechen einer wahrhaftigen Gesprächswiedergabe […] gebrochen wird.« Dennoch liegt ein Gewinn in diesem Vertrauensbruch zwischen Journalist und Rezipient. Kummers Manipulationen zeigen, so Doll, das »Äußerungen nicht ein Innen nach Außen tragen, sondern sich immer schon von Außen an das Subjekt heften und es dadurch erzeugen«. Diese Interdependenzen wurden aufgedeckt und damit die »Star-Identität« als »artifizielles Zeichenagglomerat« (vulgo: Zuschreibung von Außen) dargestellt. Hierfür bedurfte es allerdings zuerst der Aufdeckung der Fälschung.
Wenn das Interview eine »autorisierte Erfindung« wird
Interessant ist, dass Doll am Rande die in Deutschland gängige Praxis der Interview-Autorisierungen streift. Kummer habe mit seinen Fälschungen auch »den Pakt gebrochen, der im journalistischen Diskurs ein ‘authentisches’ Interview« bestimme: »das vertragliche Gegenzeichnen vonseiten der PR-Agenten, mit dem sie sich ihre Deutungshoheit über die Stars sichern.« Süffisant merkt Doll an: »Das Gespräch selbst, das in Form eines Protokolls dargestellt wird, spielt, diesem Kriterium gemäß, nur eine untergeordnete Rolle.«
Kummer hat Interviews »geführt«, die gar nicht stattgefunden haben. Aber Dolls Überlegung (die gar nicht das Wesen dieses Kapitels ausmacht), ist für die Betrachtung der gängigen Praxis der sogenannten »autorisierten Interviews« erhellend. Seine Zuspitzung lautet: »Eine Interviewfälschung ist eine nicht-autorisierte Erfindung bzw. ein legitimes Interview ist eine autorisierte Erfindung«.
Und flugs ist man im »zapp«-Film. Lässt man einmal kurz beiseite, ob ein Interview mit Til Schweiger irgendeinen Wert für einen Menschen mit einem IQ > 80 besitzt und folgt dem Gedanken Dolls: Wäre dann jedes durchredigierte, d. h. gravierend veränderte Interview nichts anderes als eine »autorisierte Erfindung«, also eine Fälschung? Journalisten, die sich den »Forderungen« der Interviewten beugen, wären demnach potentielle Fälscher. Und jeder, der sich der in Stein gemeißelten Praxis der Autorisierung widersetzt, macht sich also einer Art »Anmaßung« schuldig, Stars oder Politikern »oder vielmehr ihren PR-Agenten die Möglichkeit genommen zu haben, über das Spiel mit ihrer in der Öffentlichkeit zirkulierenden Identität maßgeblich zu bestimmen« (Doll, Seite 321). Als 2003 die taz eine Kampagne gegen die Autorisierung von Interviews startete, wurden relativ schnell und vor allem offen (freilich in elaboriertem Ton) Sanktionen angedeutet.
Es muss betont werden, dass Interview-Autorisierungen beispielsweise in den USA vollkommen unbekannt sind. Dort läuft in der Regel ein Band mit und das gesprochene Wort kann bei Streitigkeiten nachvollzogen werden. (Im Fall Kummer ist besonders interessant, dass die inkriminierten, niemals stattgefundenen Interviews, nicht durch PR-Agenten oder die Prominenten selber decouvriert und als Fälschung entlarvt wurden, was in der Rezeption des Falls fast immer untergeht. Zwei Faktoren dürften hier eine Rolle spielen: Zum einen veröffentlichte Kummer seine Texte zunächst fast ausschließlich in deutschsprachigen Medien, die kaum zur Lektüre der Hollywood-Größen zählen dürften. Die schnelle Verbreitung über das Internet war auch Ende der 90er Jahre noch nicht derart fortgeschritten. Zum anderen vermittelte Kummer so gut wie niemals ein negatives Bild über seine »Interviewten«, sondern fügte ihnen neue, unbekannte Facetten hinzu. Dies dürfte, falls es bemerkt worden war, stillschweigend als zielführende Promotion geduldet worden sein.) In Deutschland sieht sich der Deutsche Journalistenverband bemüßigt, eine Art Leitfaden für den Umgang mit Interviews zu verfassen. Darin wird die Autorisierung alleine schon als rechtlichen Gründen (Miturheberschaft) empfohlen. Die »tagesschau«-Blog-Autorin Stalinski verwies auf das »Recht auf das gesprochene Wort« und stellte die Autorisierung mit einem merkwürdigen Satz sozusagen als alternativlos dar: »Jeder Gesprächspartner hat also das Recht, seine wörtlichen Zitate vor Veröffentlichung gegenzulesen.« Warum müssen korrekt kontextualiserte und wiedergegebene wörtliche Zitate gegengelesen werden? Im übrigen erwähnt Staliskis Rekurs auf das Strafgesetzbuch nicht, dass es um »nichtöffentliche« Äußerungen geht, die ggf. »unbefugt« verschafft worden sind. Ein Interviewtermin mit einem Journalisten ist nun exakt das Gegenteil davon.
Wenn Journalisten schweigen sollen
Womöglich aus diesem Grund gibt es die ominöse »Unter 3«–Regel, d. h. Journalisten verpflichten sich Informationen, die unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit geäußert wurden, nicht zu verwenden. Um einen solchen Fall handelte es sich bei Andreas Voßkuhle, dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts. Der »Spiegel« hatte Voßkuhle zitiert und gegen diesen Omertà-Codex verstoßen. Die Journalisten anderer Presseorgane hatten sich klüger verhalten bzw. verhalten sich entsprechend: Sie spielen ihrem Publikum eine Einschätzung vor, die sie längst als Gewissheit kennen: Ja, das Bundesverfassungsgericht wird die Rechte gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften in einem weiteren Urteil stärken. Journalisten dürfen diese Information dieser Regel gemäß nun nicht verwenden, können aber von nun an »ihre Einschätzung« geben und stehen am Ende als kompetent dar. In Wahrheit haben sie einen Elfmeter ohne Torwart verwandelt.
Dieser Fall ist natürlich nur die berühmte Spitze des Eisbergs. Journalisten äußern ihre Einschätzungen und Prognosen sehr oft aufgrund solcher vertraulich »gesteckten« Informationen. Sie beachten dabei die »Unter 3«-Regel (Verstösse werden mit entsprechendem Informationsentzug geahndet) und injizieren ihr Wissen in kleinen Dosen, versteckt in ihren Artikeln. Der Leser kann sich nun auf die Suche nach einer Botschaft zwischen den Zeilen machen; einem Verfahren, dass nicht unähnlich dem in Diktaturen ist, in dem es oft genug darum geht, Texte mit versteckten Hinweisen durch die Zensur zu schmuggeln. Fast nebenbei werden Journalisten zu Günstlingen, die in Besitz eines exklusiven Herrschaftswissens kommen. Dieser informell gewährte Vorteil kann jedoch jederzeit aufgehoben bzw. variiert und an andere Personen vergeben werden.
Welchen Wert haben Zeitungsgespräche noch, die bis zur Unkenntlichkeit bearbeitet sind, von deren Bearbeitung ich jedoch nie etwas erfahre? Welchen Wert hat eine journalistische Leistung, die sich derart vorauseilend andient? Wenn ein Politiker ein Interview gegeben und eine Aussage getroffen hat – kann er diese einfach mit der Begründung des Rechts auf das gesprochene Wort zurückziehen? Gründet Journalist X seine These auf vertrauliche Informationen oder spekuliert er nur?
Autorisierte Interviews und ausgeklügelte Verschwiegenheitsrituale sind zwei Seiten einer Medaille, die den Journalismus immer mehr zum Sprach- und Suchspiel degradieren. Tom Kummers plumpe Fälschungen wurden hart sanktioniert. Die subtilen Fälschungen der autorisierten Interviews bleiben meistens verborgen. Es ist dem Leser vorbehalten, aus den unendlich auf ihn einprasselnden Phrasen jene Körnchen zu finden, die nicht durch Absprachen bis zur Unkenntlichkeit poliert wurden. Oder man verzichtet in Anbetracht knapper Lebenszeit auf die journalistisch begleiteten Inszenierungen von Politik, Wirtschaft und Showbusiness. Bei all diesen Vorgängen hat man noch gar nicht berücksichtigt, wie sich Journalisten auch sonst noch in politischen und ökonomischen Netzwerken präsent sind.
»its-all-entertainment« (Zitat eines Zitats)
Die ganze Zeit wartete ich beim Lesen auf das Wort „borderline“. „Borderline-Journalismus“, so wurde das, was Kummer tat, seinerzeit von seinen (den zähne-knirschenden wie den unentschlosseneren) Apologeten genannt.
Weil alle, die damals damit zu tun hatten – die Leitartikler, die (seinerzeit noch halbwegs bezahlten) Profis unter Tendenz-Klauseln, Redakteure, PR-Typen, die eh immer auf der Grenze balancieren, Lokalberichterstatter vom diesjährigen Kirmes- oder Feuerwehrball, die Spektakel- und Glamourproduzenten… dazu all die, die um den Verlust ihrer Reichweite und Relevanz schon wussten, weil sie die Welt auch in ihren Ausschnitten kaum noch stichhaltig erklären konnten – weil also alle die damit zu tun hatten (oder auch nicht) ahnten, dass sie selber Borderliner waren. Und heute umso mehr.
Warum Fakten gegenchecken, wenn sie im Realitäten-Remix schon längst nicht mehr das Entscheidende sind? Nicht erst seit „Tempo“ reüssierte die heißere Schreibe. Und dann war das ja bald das Interessantere, dass mit den Blogs auf einmal Subjekte eindringlichere Stimmen laut werden lassen konnten und andere Erzählungen verbreiten. (Laut Kierkegaard ist „die Wahrheit“ eben das Subjekt.)
Und welche Sorte Grenzfälle sind wir dann heute? Was ist mit einer Branche, deren Geschäftsmodell gerade kläglich veraltet? Was ist mit dem ÖR, der sich auch eher Quoten als Qualitäten verpflichtet fühlt, weil das nun mal die Business-Standard-Währung für den eigenen impact ist. (Nutzt ja auch nichts, Recht zu haben oder etwas besser analysieren oder auch nur sagen zu können, wenn’s keiner hört oder liest.)
Man muss nicht die – obwohl ja zutreffenden und hellsichtigen – dialektischen Pirouetten drehen wie Doll. (Und was wäre die heutige Kunst ohne das ganze Hantieren mit Fakes?) Nur man kann das auch nicht alles immer mitbedenken. (Wie eben der Innenminister ja auch nicht dauernd mit dem Grundgesetz unter Arm… )
Alle wissen, dass „Journalismus“ heute irgendwie was anderes ist – und schon lange nicht mehr der Onkel vom heute-Journal: die Ersatzhandlung, uns von verlaberten „Zusammenfassungen“ informiert fühlen zu lassen bis zum Wetter von morgen. Die Welt funktioniert unscharf – eben deshalb sind die Grenzfälle so interessant (nicht nur, weil sich am Grenzwertigen die Normalitäten klären). Ansonsten ist das allermeiste sonst tatsächlich nur Unterhaltung.
Um Sie selber, Gregor Keuschnig, im Zusammenhang mit „F.S.“ (unscharf) zu zitieren: Es fehlt auch dem grenzgängerischen Journalismus irgendwie die eigene Science Fiction Dimension.
Den Begriff des »Borderline-Journalismus« hat ja wohl damals Poschardt geprägt; er taucht in Dolls Buch auch mehrfach auf. Ich finde ihn ambivalent, weil er die Schwelle zur pathologischen Deformation nahelegt. Tatsächlich gibt es dann in Bezug auf Kummer das Zitat von ihm als »Borderline-Persönlichkeit«. Aber vielleicht gilt ja: Nicht der Journalist, der fälscht, ist pervers/gestört, sondern derjenige, der diese Fälschungen für bare Münze ungeprüft in sein Magazin einlässt.
Doll rekurriert ja nicht ohne Grund auf den »New Journalism«, der in den 80ern in »Tempo« und auch in anderen Magazinen von den USA (Wolfe, Capote) nach Deutschland kam (da hinkt der Wikipedia-Artikel wohl etwas hinterher). Kummers Vorbild soll, so in dem Buch in einem Nebensatz, Rex Reed gewesen sein. Ich vermag diese Parallelen nicht zu beurteilen.
Fest steht, dass im Dokumentarjournalismus im Fernsehen eine Re-Vitalisierung dieser Form des Autor-Journalismus deutlich bemerkbar ist. Kaum mehr eine »Doku« in ARD, ZDF oder sonstwo, in der nicht exzessiv und in aller Breite der Journalist/in zu sehen ist und auch zum Zuschauer spricht. Der Sprecher aus dem Off war einmal – es gilt darum Authentizität und Identität sozusagen zu erzeugen. Der Journalist wird zur Marke.
Ich bin mir nicht sicher, warum Journalismus nicht wie damals bei Onkel Hajo Friedrichs sein kann. Wer schreibt denn vor, dass es alle Stunde eine neue Nachrichtensendung geben muss? Wer zwingt die Sender den Aktualitätswahn auf? Ich glaube, dass das sehr hausgemachte Probleme sind, die den Zuschauer sozusagen paternalistisch in die Verantwortung nehmen. Etwa so, wie ein unbekannter Gast auf einer Party – jeder glaubt, ein anderer hat ihn eingeladen.
Fälschungen und Fakes – das zeigt mir die Lektüre des wirklich schwierig zu lesenden Buches – sind belebende Elemente, und zwar in dem Augenblick, wo sie enttarnt werden und kippen. Doll behilft sich mit einer Art »Wahrhaftigkeit«, die der Journalist zu erfüllen hat, weil so etwas wie »Wahrheit« womöglich nicht abbildbar ist: Die Wahrhaftigkeit einer Nachricht […] besteht dann nicht darin, ob etwas objektiv richtig oder »wahr« ist, sondern darin, ob der Journalist seine Eindrücke und Anschauungen im Einklang mit seinen »journalistischen Hypothesen von Realität« oder in Übereinstimmung mit seiner Einschätzung der Situation weitergibt. Man könnte so etwas wie einen kategorischen Medienimperativ ableiten: Bringe Nachrichten (Bilder, Ton, Interviews) nach der Maxime, dass ihre Aussagen zugleich auch ein Prinzip repräsentieren und charakteristisch auf etwas Allgemeines verweisen.
Aber geht das so? Was mit der Person des Journalisten, der seine Präferenzen immer auch mit einfliessen lässt? Verzerrungen entstehen dann viel subtiler. Leute wie Kummer oder Michael Born waren dagegen Trottel. Das sind dann fast auf ewig unbemerkbare kleine Verschiebungen von Perspektiven, Bildausschnitten, Tönen, Übersetzungen, usw. Tatsächlich wissen wir das nicht mehr und behandeln den Journalisten (oder die ganze Sendeanstalt) wie eine Marke, der wir bzgl. bestimmter Kriterien erst einmal »unbesehen« vertrauen (s. o. -> Fernseh-Dokus).
Aus der Pathologie
Und sind diese Momente eines Pathologische bezogen auf die Praxis so falsch? Es gibt ja doch diese Schizophrenie, dass man das meiste in allen Nachrichten schon mal gehört hat (und ein Teil meiner eigenen Reizbarkeit gegenüber den Medien kommt daher). Zugleich wird alles in der Pluralität der Stimmen und Bedenken immer komplizierter und müsste eigentlich „tiefer“ verarbeitet werden. Aber ich interessiere mich einfach nicht mehr – zum Beispiel – für die FDP. Oder den unvermeidlichen Wintersport.
Und damit bin ich bei den persönlichen (aus anderer Sicht immer willkürlichen) Selektionen. Was wiederum bedeutet, man ist für seine unzureichende Weltkenntnis selber verantwortlich. (Beim Fernsehen etwa finde ich selber CNN oft immer noch vor-bildlich – dabei will ich das Allermeiste davon überhaupt nicht wissen.)
Ich sehe also immer auch schon meine eigenen De-formationen. Oder ist das Pathologische dann schon normal?
Und noch was. Es gibt ja diesen weit verbreiteten Widerwillen gegen die letztlich heimlich geschlossene konsensuelle Sicht der Dinge, so dass Gegenstimmen – zum Beispiel auch, weil sein Name schon gefallen ist Poschardt – Distinktion gewinnen: In der Abweichung steckt, so gesehen, mehr Unterscheidung, also schon wieder mehr Unterhaltung.
Will alles fragen: Bin ich da selber oft noch vernünftig?
Einen „kategorischen Medienimperativ“ als kleinsten Nenner fände ich wohl auch hilfreich – aber gibt es ihn nicht? Angeblich sind die Standards hierzulande ja doch hoch (denkt man an Russland oder Italien).
Ansonsten liegt aber eben ein Teil des Problems darin, wie Medien die Welt abbilden, also an deren Selektionen (an der Dummheit „ihrer Produktionsgewissheiten“). Über wirksame Regler zum Signal-Rauschabstand (als Benefit für den Konsumenten) verfügen sie damit dann eben auch nicht mehr. Wenn auch teils weil ICH es ihnen nicht mehr zugestehe. Und ich kreide es ihnen doch an.
Und so weiter.
Ich frage mich ja immer mehr, ob die Abweichung à la Poschardt oder – bekannter und noch pointierter – Broder (beides nur Beispiele) nicht schon zu sehr institutionalisiert ist, als das sie ein zuverlässiges Gegengewicht bietet. Das ist dann in der Tat nur noch – Unterhaltung. Und man bekommt ein bisschen einen Einblick, wie das Hofnarrentum an einem Fürstenhof funktioniert haben könnte.
Warum sieht man in den Medien das sogenannte »Große Ganze« nicht mehr? Weil es zu wenig Leute gibt, die diesen Überblick überhaupt haben? Ein kleines Beispiel: Die EU gibt eine Richtlinie heraus, in der Kosmetika, deren Inhaltsstoffe durch Tierversuche getestet wurden, verbietet – nicht nur die Produktion, sondern auch den Import. Das wird gemeldet und der Rezipient ist nun der Meinung, die EU tue was gegen Tierversuche (an Wirbeltieren). Nicht gemeldet wird, dass durch die Implementierung der seit Jahren gültigen neuen EU-Chemikalienverordnung REACh die Zahl der Tierversuche signifikant ansteigen wird bzw. schon angestiegen ist. Diese Verordnung schreibt nämlich vor, dass die Stoffe hinsichtlich der Toxikologie zum Teil neu zu prüfen sind; alte Versuchsergebnisse seien nicht immer unbedingt vollständig und aussagefähig. Indem diese Information nicht mitgeliefert wird, entsteht ein unvollständiges, falsches Bild. (Nur eine winzige Kleinigkeit ist das, aber eben womöglich signifikant für viele selektive Berichterstattung.) – Aktuell ist ja auch diese Kampagne gegen Amazon ein gutes Beispiel: Wie die Rabattierung und die Verhunzung des Buches zum reinen Verkaufsobjekt begann – durch Großkonzerne und Buchhandelsketten – wird damit genau so ausgeblendet wie die Amazon-ähnliche Leiharbeit bei den Logistikunternehmen. Ist es zuviel verlangt, zwei, drei Faktoren auch einmal zusammen zu denken?
Oft ertappe ich mich dabei, dass ich eine Meldung als falsch oder zumindest zweifelhaft ansehe, obwohl ich vom Sachverhalt selber so gut wie keine Ahnung habe. Zu eindeutig scheint mir da das Gute oder das Böse gezeichnet; zu dick die Striche. Und tatsächlich: Schon manches Mal (nicht oft, aber doch merkbar) stellte sich nach einigen Wochen, Monaten heraus: Das stimmte so nicht; das war nur halb-wahr, usw.
Was dann bleibt ist eine Skepsis gegen allzu Eindeutiges, die womöglich irgendwann nur zwei Auswege kennt: Eskapismus oder Zynismus.