Sehn­sucht nach dem gu­ten Kö­nig

Wie­der ein­mal wird ge­fragt: »Wo blei­ben die In­tel­lek­tu­el­len?« Nein, nicht in der 3sat-Sen­dung »Kul­tur­zeit« (die hat Som­mer­pau­se), die sich im­mer wie­der dar­um sorgt, dass die so­ge­nann­ten In­tel­lek­tu­el­len sich zu al­len mög­li­chen The­men der Po­li­tik zu Wort mel­den. Dies­mal ist es ein Ar­ti­kel der NZZ, in dem der Ger­ma­nist und Pu­bli­zist Pe­ter von Matt die­se Fra­ge ge­stellt wird.

»Der In­tel­lek­tu­el­le müs­se über­ra­schen und die ‘Rou­ti­nen des Schrei­bens und Le­sens bre­chen’, sagt von Matt.« Das ist rück­halt­los zu un­ter­schrei­ben. Aber was pas­siert ei­gent­lich, wenn ge­nau das ge­schieht? Klop­fen dann nicht die glei­chen, die das En­ga­ge­ment des In­tel­lek­tu­el­len mit Ver­ve ge­for­dert ha­ben, die ent­spre­chen­den Äu­ße­run­gen auf ih­re ei­ge­ne Mei­nung ab? Und was pas­siert, wenn dies dann nicht mit dem längst vor­ge­bil­de­ten Ur­teil der Re­dak­ti­on, der Par­tei, der NGO über­ein­stimmt? Min­de­stens winkt dann das Eti­kett »um­strit­ten«, wenn nicht gar noch Schlim­me­res: Der Aus­stoß aus dem mehr oder we­ni­ger ex­klu­si­ven Club der gut­mei­nen­den Welt­erklä­rer.

Sol­che Ver­fah­ren ha­ben zu­wei­len durch­aus Ele­men­te der chi­ne­si­schen Kul­tur­re­vo­lu­ti­on der 1960er Jah­re. Da­mals wur­de das Volk auf­ge­for­dert, die po­li­ti­schen Ka­der zu kri­ti­sie­ren, um de­ren Ar­beit da­mit zu ver­bes­sern. Wer es ernst­nahm, fand sich nicht sel­ten für ein paar Jah­re in Um­er­zie­hungs­la­gern wie­der. Dies droht na­tür­lich heut­zu­ta­ge nicht mehr, und die ja­ko­bi­ni­sche Freu­de an der De­struk­ti­on des Un­bil­li­gen, Sper­ri­gen, »Fal­schen« hat kei­ne di­rek­ten Aus­wir­kun­gen mehr auf Leib und Le­ben. Al­len­falls im Wie­der­ho­lungs­fall bzw. wenn die Be­wäh­rung nicht zur Re­me­dur führ­te, kann die dro­hen­de Äch­tung des Werks zu pe­ku­niä­ren Ein­bu­ßen füh­ren. Die ka­tho­li­sche Kir­che hat ih­ren In­dex of­fi­zi­ell 1966 ab­ge­schafft; in den Feuil­le­ton­stu­ben fei­ern di­ver­se In­di­zes fröh­li­che Ur­ständ.

»J’­ac­cu­se« ist al­so ge­fragt – aber bit­te un­be­dingt so, wie wir (das Feuil­le­ton-Wir halt) es wün­schen. We­he, je­mand fügt sich nicht den in­for­mel­len Richt­li­ni­en des Kulturestablish­ments, wie zum Bei­spiel der chi­ne­si­sche Li­te­ra­tur­no­bel­preis­trä­ger Mo Yan. Die­ser ha­be nicht ge­nü­gend Re­gime­kri­tik in sei­nen Bü­chern ge­äu­ßert, hieß es im ver­gan­ge­nen Jahr »kri­tisch«. Nur ein ver­folg­ter Künst­ler kann al­so ein gu­ter Künst­ler sein – al­les an­de­re ist Kol­la­bo­ra­ti­on. So tönt es auch den Ge­richts­räu­men Re­dak­tio­nen, flan­kiert von de­nen, die tat­säch­lich in Chi­na drang­sa­liert und ver­folgt wer­den. Da­mit wird die Le­gi­ti­ma­ti­on der Kri­tik er­zeugt. Ne­ben­bei wird der An­ge­grif­fe­ne un­ter Recht­fer­ti­gungs­druck ge­setzt. Was von dem lä­cher­li­chen An­wurf bleibt, ist das oben er­wähn­te At­tri­but »um­strit­ten«.

Po­li­ti­sches Ver­hal­ten wird im­mer mehr zur Grund­la­ge ei­nes äs­the­ti­schen Ur­teils. Oder, um es poin­tiert aus­zu­drücken: Die Schlüs­sel­qua­li­fi­ka­ti­on zur In­ter­pre­ta­ti­on und Be­wer­tung ei­nes Kunst­wer­kes ist die Mo­ra­li­sie­rung des Au­tors. Man er­kennt dies auch dar­in, dass et­li­che eher mit­tel­mä­ssig be­gab­te Schrift­stel­ler im Lau­fe der Zeit durch das Feuil­le­ton zu mo­ra­li­schen In­stan­zen oder Tür­hü­tern ge­wor­den sind. (Kei­ne Na­men.)

All dies ist das kras­se Ge­gen­teil des­sen, was von Matt ent­wirft. »Der wah­re In­tel­lek­tu­el­le lässt sich…nicht ein­bin­den, bei ihm weiss man nie ge­nau, was er als Näch­stes sa­gen wird.« Ge­nau auf die­ses Eis möch­ten sich aber bei­de Sei­ten nur sehr un­gern locken las­sen. Und die Er­fah­rung, die man in Deutsch­land seit mehr als 50 Jah­ren ge­macht hat, ist ei­ne an­de­re: Die üb­li­chen Ver­däch­ti­gen lang­wei­len ei­nem seit lan­gem mit vor­her­seh­ba­ren wohl­fei­len Ak­tio­nen, Of­fe­nen Brie­fen, In­itia­ti­ven und Un­ter­schrif­ten­ak­tio­nen. Auch hier er­spa­re ich mir die Auf­zäh­lung von Na­men. Aber auch hier gilt: We­he, ei­ner die­ser (oder auch ein­mal ein an­de­rer) äu­ßert ei­ne wirk­lich ab­sei­ti­ge, viel­leicht aber ge­ra­de des­we­gen nach­den­kens­wer­te An­sicht äu­ßert und aus dem Kon­sens-Be­trieb aus­sche­ren möch­te!

Schon in den Tag­bü­chern des Grup­pe-47-Grün­ders Hans Wer­ner Rich­ter En­de der 1960er Jah­re lässt sich ab­le­sen, wie lä­stig und hohl die­ses oft af­fek­tier­te Stel­lung­neh­men wur­de. Und den­noch: Kaum ein Kul­tur­jour­na­list kommt am La­men­to des »Frü­her-war-al­les-bes­ser« vor­bei. Wür­de man die Zeit­ach­se des »frü­her« bis hin­ein in die jun­ge Wei­ma­rer Re­pu­blik wei­ter­füh­ren, sä­he die Be­gei­ste­rung für die Stel­lung­nah­men der In­tel­lek­tu­el­len schon et­was an­ders aus. (Ich er­spa­re die li­tan­ei­haf­ten Auf­zäh­lun­gen der Li­te­ra­ten ins­be­son­de­re des 20. Jahr­hun­derts, die von der Li­te­ra­tur­kri­tik heu­te nur noch mit spit­zen Fin­gern an­ge­fasst wer­den, weil ih­re po­li­ti­schen An­sich­ten, Äu­ße­run­gen und [Ver-]Irrungen pars pro to­to auf das Werk über­tra­gen wer­den; auch und vor al­lem dann, wenn es da­zu gar kei­ne Grund­la­ge gibt.) Wer aber sucht, fin­det auch et­li­che Ver­ir­run­gen im Rausch der 68er. Aber die Krä­hen hacken ein­an­der eher sel­ten die Au­gen aus.

Wo­her kommt al­so der Wunsch nach dem alls­elig­ma­chen­den Ur­teil der In­tel­lek­tu­el­len? Zum ei­nen möch­te ei­ne dar­ben­de Kul­tur­be­richt­erstat­tung neue Dis­kus­si­ons­grund­la­gen be­kom­men, die sich auf die­sem Weg wun­der­bar per­so­na­li­sie­ren las­sen (ei­nes der größ­ten Stecken­pfer­de der Feuil­le­to­ni­sten). Zum an­de­ren ist es auch der na­iv an­mu­ten­de Wunsch des gu­ten, tu­gend­haf­ten Kö­nigs, ei­nes Er­lö­sers, der sich jen­seits des ver­meint­lich schmut­zi­gen po­li­ti­schen Ge­schäfts die Klar­heit und Über­sicht be­wahrt hat. Wie sehr die­se Sehn­sucht ob­wal­tet kann man in den Ver­göt­te­run­gen von Gor­bat­schow und – im­mer noch – Ba­rack Oba­ma er­ken­nen, die nir­gend­wo der­art wü­te­te wie in Deutsch­land. Hier tref­fen sich die als re­ak­tio­när so schlecht be­leu­mun­de­ten »Stamm­ti­sche« mit dem links-in­tel­lek­tu­el­len Bür­ger­tum.

Da ist von Matts Plä­doy­er für den über­ra­schen­den und zu­wei­len un­be­re­chen­ba­ren In­tel­lek­tu­el­len, der »ein­ge­mischt« wird (und sich nicht nur ein­mischt) von an­de­rem Ka­li­ber. Von Matt will kei­ne vor­ge­stanz­ten Phra­sen, er re­det der Kom­pli­xi­tät das Wort, das sich nicht in wohl­fei­len Be­kennt­nis­sen (oder lä­cher­li­chen Pro­vo­ka­tio­nen) er­schöpft. Aber ich fürch­te, das ist mit dem La­men­to um das Aus­blei­ben der Mei­nun­gen der In­tel­lek­tu­el­len gar nicht ge­meint.

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  1. »Zum an­de­ren ist es auch der na­iv an­mu­ten­de Wunsch des gu­ten, tu­gend­haf­ten Kö­nigs, ei­nes Er­lö­sers, der sich jen­seits des ver­meint­lich schmut­zi­gen po­li­ti­schen Ge­schäfts die Klar­heit und Über­sicht be­wahrt hat.« – Sor­ry, das ist doch Quark. In­tel­lek­tu­el­le als Er­lö­ser? Wer will denn so­was? Sie sol­len De­bat­ten an­sto­ssen, be­fruch­ten, neue Aspek­te hin­zu­fü­gen, Dis­kus­sio­nen in Gang hal­ten, weil sie die Frei­heit ha­ben, locker vom Hocker zu den­ken und zu for­mu­lie­ren, was Po­li­ti­ker, Ma­na­ger, Jour­na­li­sten we­gen der Zwän­ge und Ab­hän­gig­kei­ten, mit de­nen sie in ih­ren Ta­ges­ge­schäf­ten fest­ge­schraubt sind, oft nicht ver­mö­gen – aber bit­te oh­ne den üb­li­chen, ba­rocken Wort­bom­bast.

  2. ..im Üb­ri­gen ist »das Feuil­le­ton« im Zeit­al­ter des In­ter­nets schon längst nicht mehr Dreh- und An­gel­punkt von De­bat­ten »au­sser­halb der Ge­schäfts­ord­nung«..

  3. Ich muss im­mer la­chen, wenn das »Zeit­al­ter des In­ter­net« be­schwo­ren wird. Ei­ne Ni­schen-Fern­seh­sen­dung wie »Kul­tur­zeit« hat al­le­mal ei­ne grö­ße­re Reich­wei­te als fast je­de pro­gres­si­ve In­ter­net­sei­te.

  4. Wenn ich mir so an­schaue, was das ge­druck­te und ge­sen­de­te Fö­je­tong al­les für ei­nen In­tel­lek­tu­el­len hält, so bin ich froh um je­den da­von, der die Schnau­ze hält – was er na­tür­lich nicht tut.

  5. »Das Feuil­le­ton« muss sich mit sei­nem Be­deu­tungs­ver­lust wohl oder übel aus­ein­an­der­set­zen. Klei­ner Trost: An­de­re müs­sen das auch. Das In­ter­net ist un­end­lich wie das Welt­all, aber es frag­men­tiert in My­ria­den von Ein­zel­teil­chen. Man­ches schlägt es aber auch so durch, dass plötz­lich Mil­lio­nen Zu­griff auf die glei­chen In­for­ma­tio­nen ha­ben. Ob das gut tut oder nicht, wer weiss das schon. Es ist ein­fach so.

  6. Der Be­deu­tungs­ver­lust des Feuil­le­tons (und der Kul­tur­be­richt­erstat­tung) hat we­ni­ger mit dem In­ter­net als mit den Prot­ago­ni­sten zu tun. Es be­gann ja schon viel frü­her; ein mar­kan­tes Da­tum ist bei­spiels­wei­se die Ein­füh­rung des Pri­vat­fern­se­hens in Deutsch­land und des­sen Aus­wir­kun­gen.

  7. Ich fin­de es stets ge­fähr­lich, mich als Schrift­stel­ler in po­li­ti­sche De­bat­ten ein­zu­mi­schen, zum ei­nen, weil The­sen und Mei­nun­gen die in­ne­re Frei­heit ein­schrän­ken, zum an­de­ren, weil mir zu­meist Sach­kennt­nis und In­for­ma­tio­nen feh­len …

    Eu­gen Ru­ge, FAZ on­line

  8. Ja, Herr Ru­ge hat sei­ne Mei­nung ge­än­dert. Wo­bei ich sei­ne Wut ver­ste­he. Aber ist eben auch un­re­flek­tiert und vol­ler un­zu­läs­si­ger Ver­glei­che. (In­ter­es­sant die­se rie­si­ge An­zahl von Kom­men­ta­ren – der­zeit 227.)

  9. »Man er­kennt dies auch dar­in, dass et­li­che eher mit­tel­mä­ssig be­gab­te Schrift­stel­ler im Lau­fe der Zeit durch das Feuil­le­ton zu mo­ra­li­schen In­stan­zen oder Tür­hü­tern ge­wor­den sind. (Kei­ne Na­men.)«
    .
    Doch: Böll.

  10. Kann man ver­glei­chen mit der in­fla­tio­nä­ren For­de­rung nach »Hal­tung«. Was ja nichts an­de­res heißt als »Mei­ne ei­ge­ne po­li­ti­sche Mei­nung be­stä­ti­gen«. Man er­lebt im­mer wie­der, dass Jour­na­li­sten, die Hal­tung so hef­tig ein­for­dern Men­schen mit kla­rer Mei­nung an­grei­fen, weil de­ren Mei­nung nicht mit der ih­ren über­ein­stimmt.
    Es ist zu­meist auch ein­fach die üb­li­che Dumm- und Faul­heit der Jour­na­li­sten. Man ver­sucht zwang­haft Leu­te in Schub­la­den zu stecken. Dann kann man die schlie­ßen und der­je­ni­ge kommt auch nicht mehr raus. Da fällt dann auch die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem In­halt des Wer­kes oder der Aus­sa­gen weg, der Künst­ler ist eh XYZ und da­mit un­halt­bar.
    Wirk­lich kri­ti­sches Den­ken und der stän­di­ge Zwei­fel sind die Fein­de des Jour­na­li­sten. Da ist dann »Hal­tung« bes­ser, weil schub­la­den­freund­lich. Es ist nicht die Sehn­sucht nach Men­schen, die für et­was ste­hen, son­dern die Sehn­sucht nach ei­ner Welt, die klar in Fein­de und Freun­de ge­teilt ist und das dann auch un­ver­än­der­bar und na­tür­lich nur ba­sie­rend auf der ei­ge­nen In­ter­pre­ta­ti­on der Wor­te, die na­tür­lich im­mer so aus­ge­legt wer­den, dass der Au­tor das Ne­ga­tiv­ste was man rein­in­ter­pre­tie­ren kann ge­meint ha­ben MUSS.
    Das führt dann na­tür­lich zur Schwei­ge­spi­ra­le, dass Leu­te ih­re Mei­nun­gen, die ab­wei­chen nicht mehr öf­fent­lich äu­ßern oder dann in den Ex­tre­mis­mus ge­trie­ben wer­den.

    Im End­ef­fekt war das Feuil­le­ton ja auch nie ein Platz für De­bat­ten, son­dern nur ei­ne Platt­form für al­te Män­ner, um die Wer­ke ih­rer Ver­lags­kol­le­gen zu be­wer­ben und Künst­ler an­de­rer Ver­la­ge per­sön­lich zu dis­kre­dit­e­r­en, weil ja auch in ei­gent­lich al­len Fäl­len der »Kri­ti­ker« die nö­ti­ge Kom­pe­tenz fehlt ein Werk ein­zu­ord­nen.

  11. @Jeeves
    Böll mein­te ich aus zwei Grün­den nicht. Er­stens ist er kein mit­tel­mä­ssi­ger Schrift­stel­ler, son­dern hat ei­ni­ges sehr Be­acht­li­che ge­schrie­ben (nicht das Spät­werk; das ist wahr). Zum an­de­ren war er un­be­quem. Er hat die Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen auch im Ost­block the­ma­ti­siert, als dies für an­de­re noch ta­bu war oder gar als re­ak­tio­när galt. So hat er den po­li­tisch doch eher ob­sku­ren Sol­sche­ni­zyn auf­ge­nom­men.

  12. Sor­ry, der Ar­ti­kel ist so schwer les­bar, ich ha­be nach der Hälf­te ab­ge­bro­chen oh­ne zu ver­ste­hen, wer sich über wen em­pört hat und war­um sich der Au­tor em­pört.
    Ich se­he nur ver­schach­tel­te Sät­ze, die nur In­tel­lek­tu­el­le (sor­ry, da­zu ge­hö­re ich nicht) ver­ste­hen kön­nen.

    Wenn man z.B. ver­sucht, ei­ne Aus­sa­ge zu »poin­tie­ren« (5. Abs. 1.–3. Zei­le) soll­te man den Sach­ver­halt auch ver­kürzt dar­stel­len – Und nicht in ei­nem län­ge­ren Satz als der »un­poin­tier­te«.

    Ein ein­zi­ger Hy­po­ta­xen­ma­ra­thon ist das hier ;)

  13. Die Hal­tung von Matts, wie sie in dem Bei­trag wie­der­ge­ge­ben wird, fin­de ich ziem­lich fein ge­spon­nen und hat mit dem »Wunsch nach dem alls­elig­ma­chen­den Ur­teil der In­tel­lek­tu­el­len« nicht viel zu tun. Da steht:

    »Durch die Re­pe­ti­ti­on wach­se aber das Be­dürf­nis nach der an­de­ren Stim­me, wel­che die Ar­gu­men­te um ei­ne Nu­an­ce ver­schie­be: «Erst wenn je­mand et­was äu­ssert, was sonst nie­mand sagt, wird evi­dent, dass es ihn brau­chen könn­te.» (...) «Die In­tel­lek­tu­el­len hat­ten da noch ei­ne ganz an­de­re Funk­ti­on. Sie woll­ten ein­ge­fro­re­ne Po­si­tio­nen auf­bre­chen.»«

    Das ist ei­ne be­schei­de­ne Rol­le, die auch gar nicht un­be­dingt laut und vor­drän­gelnd sein muss. Die »ein­ge­fro­re­nen Po­si­tio­nen auf­zu­bre­chen« kann auch ein künst­le­ri­sches und li­te­ra­ri­sches Vor­ha­ben sein und ist in ei­ner von Wie­der­ho­lun­gen, Spi­ra­len, Sim­pli­fi­zie­run­gen, Ver­kür­zun­gen und kampf­süch­ti­gen Po­la­ri­sie­run­gen ge­kenn­zeich­ne­ten öf­fent­li­chen The­men­be­ar­bei­tung ein Ziel, das man nur er­rei­chen kann, wenn man sich eben die­ses Pro­blems be­wusst ist. Ei­ner, der in die­sem Sin­ne in sei­nen ra­ren »Zei­tungs­bei­trä­gen« ei­ne be­wusst ge­stal­te­te Ge­gen­po­si­ton zum Kom­mu­ni­ka­ti­ons­all­tag zu prak­ti­zie­ren ver­sucht, ist Bo­tho Strauss – die größ­te und für die Men­ge der Kul­tur­konsmen­ten am we­nig­stens er­träg­li­che Form ist ja das Kryp­ti­sche und über­mä­ßig Be­zie­hungs­rei­che. Hand­ke hat sich an­de­rer­seits neu­lich bei dem al­ler­dings nicht ge­ra­de wich­ti­gen The­ma »Suhr­kamp-Ge­schäfts­füh­rung« in ei­ne fast ver­spiel­te Iro­nie ge­flüch­tet, de­ren Ag­gres­si­vi­tät für je­man­den, der so übel­lau­nig wer­den kann wie er, ge­ra­de­zu char­mant ver­deckt war. Da­mit will ich nur dar­auf hin­deu­ten: Der Wunsch von Matts nach Öff­nen der Tun­nel­blicke und ei­nem Auf­schmel­zen der Er­star­run­gen ist, mei­ne ich, nicht der Wunsch nach dem ei­gent­lich längst ver­bli­che­nen Groß­in­tel­lek­tu­el­len, die­sem Frisch-Grass-Böll-Kom­plex, der mo­ra­li­sche Ver­dik­te aus­spricht, wich­tig­tue­ri­sche Of­fe­ne Brie­fe ver­fasst oder – noch schlim­mer – wie neu­lich Grass mit un­durch­dach­ten Leit­ar­ti­kel-Ge­dich­ten nur das Re­pi­ti­to­ri­um tie­fer ver­eist statt auf­zu­lö­se,. Es ist eher der Wunsch nach mehr »Alex­an­der Klu­ge« mit sei­nen Be­wusst­seins- und Er­fah­rungs­gär­ten im In­ter­net auf der ei­nen Sei­te und auf der an­de­ren Sei­te viel­leicht mehr Mei­en­berg, al­so mehr har­te Auf­klä­rungs­ar­beit (»... gel­ten bis heu­te als Mu­ster­bei­spie­le des in­ve­sti­ga­ti­ven Journalismus«/Wiki). Den In­t­e­lek­tu­el­len als ei­nen mehr, der sei­ne schön for­mu­lier­te Mei­nung in ir­gend­ei­ner Fo­rums­ecke an die gan­ze Welt ver­kün­det, brau­chen wir nicht. Wir brau­chen viel­leicht wirk­lich den, der die Re­pi­ten­ten für we­nig­stens ei­nen Mo­ment lang ver­un­si­chert, er­staunt, aus dem Gleis wirft. Wenn da­bei ein Groß­kop­fer­ter so­gar vom Ross fällt, wär’s um­so bes­ser, aber wer er­war­tet sol­che Wun­der­wer­ke von Lue­ten, die nur Wor­te ha­ben, wenn auch selt­sa­me?

  14. Die Li­ste der Be­le­ge für Herrn Keu­sch­nigs The­se »Nur ein ver­folg­ter Künst­ler kann ein gu­ter Künst­ler sein« lie­ße sich be­lie­big fort­set­zen. Aber na­tür­lich gilt sie nur für Künst­ler aus Län­dern, die in un­se­rer Me­di­en­be­richt­erstat­tung in der Schub­la­de »Bö­se« ab­ge­legt sind.
    Ein nicht all­zu lan­ge zu­rück­lie­gen­des Bei­spiel ist Pus­sy Ri­ot. Stel­len wir uns mal vor, die jun­gen Da­men hät­ten ih­re Ak­ti­on nicht in der Mos­kau­er Chri­sti-Er­lö­ser-Ka­the­dra­le, son­dern im Pe­ters­dom in Rom durch­ge­führt, und sie hät­ten nicht auf Pu­tin, son­dern auf den Papst, auf Mer­kel, Bar­ro­so oder sonst ir­gend­ei­nen po­li­ti­schen Ak­teur west­lich des ehe­ma­li­gen Ost­blocks ge­schimpft: Wä­re dann auch ir­gend­je­mand auf die Idee ge­kom­men, dass das, was die strumpf­mas­ken­tra­gen­den Frau­en da tun, »Kunst« ist? Die Chri­sti-Er­lö­ser-Ka­the­dra­le ist für rus­sisch-or­tho­do­xe Chri­sten üb­ri­gens ähn­lich be­deut­sam wie der Pe­ters­dom für Ka­tho­li­ken, des­halb ist der Ver­gleich gar nicht so ab­we­gig.
    Oder stel­len wir uns mal vor, die »Pu­ski«, wie sie in man­chen rus­si­schen Me­di­en ge­nannt wer­den, wä­ren nicht für zwei Jah­re ins La­ger ge­schickt (was zwei­fel­los ei­ne lä­cher­li­che und über­zo­ge­ne Stra­fe ist), son­dern zu ei­ner Geld- oder ge­ring­fü­gi­gen Be­wäh­rungs­stra­fe ver­ur­teilt wor­den: Hät­te man dann die­se Ak­ti­on auch als »Kunst« oder »mu­ti­ges Ein­tre­ten für Mei­nungs­frei­heit« ein­ge­stuft? Wä­ren die Strumpf­mas­ken­trä­ge­rin­nen, die das Vi­deo von ih­rem Auf­tritt nach­ver­tont und ins In­ter­net ge­stellt ha­ben, dann auch mit Prei­sen und Lo­bes­hym­nen von Me­di­en und so ge­nann­ten In­tel­lek­tu­el­len über­häuft wor­den? Ich kann es mir nur schwer vor­stel­len. Ich glau­be eher, in die­sem Fall hät­te west­lich des ehe­ma­li­gen Ei­ser­nen Vor­hangs kaum je­mand No­tiz von die­ser Ak­ti­on ge­nom­men.
    Wie es sich auf Men­ge und Ten­denz der Be­richt­erstat­tung aus­ge­wirkt hät­te, wenn Pus­sy Ri­ot nicht aus jun­gen, sym­pa­thisch aus­se­hen­den Mä­dels be­stün­de, son­dern sa­gen wir mal, aus äl­te­ren, viel­leicht ein we­nig kor­pu­len­ten, grau­haa­ri­gen oder kahl­köp­fi­gen Män­nern, dar­über möch­te ich jetzt mal gar nicht spe­ku­lie­ren.
    Ein äl­te­res Bei­spiel ist der im Ar­ti­kel ne­ben­bei er­wähn­te Sol­sche­ni­zyn. Er hat 1945 an der Front ei­nem Freund Brie­fe ge­schrie­ben, die die Brief­zen­sur als sta­lin­kri­tisch ge­wer­tet hat, saß da­für acht Jah­re im La­ger und war dann drei Jah­re im Exil in Zen­tral­asi­en. Un­ter Bre­sch­new wur­den dann ei­ni­ge Bü­cher von ihm ver­bo­ten und schließ­lich hat man ihn aus­ge­bür­gert. So ei­ner muss doch ein Mu­ster­de­mo­krat sein, mo­ra­lisch ein­wand­frei, ei­ner, der den Un­ter­drückern die Stirn bie­tet und selbst­los für das Gu­te ein­tritt! Des­halb hat man ihn im We­sten ho­fiert, was ihm sel­ber zu­neh­mend un­an­ge­nehm wur­de. Nicht zu­letzt des­halb, weil er sich für sein Hei­mat­land we­der ei­ne re­prä­sen­ta­ti­ve De­mo­kra­tie noch ein ka­pi­ta­li­sti­sches Wirt­schafts­sy­stem ge­wünscht hat. Son­dern schon eher ei­nen au­to­ri­tä­ren Herr­scher von Got­tes Gna­den, al­so wie­der ei­ne Art Za­ren. Aber das hat man im so ge­nann­ten We­sten lie­ber ver­schwie­gen, weil das nicht in das bi­nä­re Gut-Bö­se-Sche­ma ge­passt hät­te, an dem un­se­re Mas­sen­me­di­en (auch die so ge­nann­ten in­tel­lek­tu­el­len) so hän­gen. Man­che Din­ge än­dern sich eben nie.

  15. @Fritz Iver­sen
    Slo­ter­di­jk sprach in sei­ner Bör­ne-Re­de un­ter an­de­rem über die Er­fah­rung, die er an­läss­lich sei­nes Auf­sat­zes »Re­geln für den Men­schen­park« 1999 mach­te (ab ca. 06:30). Er er­fuhr, so das et­was selbst­mit­lei­di­ge La­men­to, ei­ne »jä­he Nach­er­zie­hung« und wur­de »im Au­ge des Zy­klons« zum Me­di­en­theo­re­ti­ker. Sein Fa­zit heu­te (Her­vor­he­bung des m. E. wich­tig­sten Sat­zes von mir): »Ich wuß­te jetzt, dass Mas­sen­me­di­en, eben weil sie sind wie sie sein müs­sen, pri­mär nicht in­for­mie­ren, son­dern zei­chen­ba­sier­te Epi­de­mien er­zeu­gen. Ich wuß­te, dass die Men­schen­rech­te des Ori­gi­nals ge­gen die Ge­walt der Pa­ra­phra­se nicht zu schüt­zen sind. Ich wuß­te, dass es auf mas­sen­me­dia­ler Ebe­ne nie um Ar­gu­men­te geht, son­dern um die Ein­sprit­zung men­ta­ler In­fek­tio­nen. Vor al­lem wuß­te ich aber dass es auf den Mei­nungs­märk­ten kei­ne Miss­ver­ständ­nis­se gibt, wie es die po­si­tiv den­ken­den un­ter den Kom­mu­ni­ka­ti­ons­theo­re­ti­kern im­mer noch zu glau­ben vor­ge­ben, wenn sie Kon­flikt­par­tei­en bei po­le­mi­schen Trans­ak­tio­nen be­ob­ach­ten.«

    @Ostap Ben­der
    Er­gän­zend zu Ih­rem Kom­men­tar über Pus­sy Ri­ot (dem ich voll zu­stim­me) hier ein Link zu ei­nem Es­say von Wal­ter von Ros­sum (Down­load-Be­reich rechts oben).

  16. Al­so ich fin­de, Sie sind nicht in­tel­lek­tu­ell. In­tel­lek­tu­el­le ver­wen­den se­ri­fen­lo­se Schrif­ten, mög­lichst dünn und un­le­ser­lich. Das an­de­re hat­ten wir schon. Ge­hen Sie in sich.

  17. Viel­leicht ist das nur ei­ne Ver­schie­bung des Pro­blems, aber, – die­ser Kon­sens scheint sich ja her­aus zu schä­len – wo­mög­lich sind es we­ni­ger die In­tel­lek­tu­el­len an sich, als ei­ne be­stimm­te Art von Wort­mel­dung, – »je­ne der Ver­schie­bung« –, die sich als be­deu­tend und be­le­bend her­aus­stellt (lei­sten kann das »ein je­der«).