Avant­gar­de als Nörg­ler

Or­na­men­ta­le Wort­kunst reicht nicht. »Der Plu­ri­mi-Fak­tor« von Bo­tho Strauß schwä­chelt an sei­nem ei­ge­nen An­spruch

Im Herbst 2007, ein Jahr nach den Tur­bu­len­zen um den Hei­ne-Preis der Stadt Düs­sel­dorf und sein Ju­go­sla­wi­en-En­ga­ge­ment, sag­te Pe­ter Hand­ke in ei­nem In­ter­view An­dré Mül­ler er wol­le sich aus der Öf­fent­lich­keit zu­rück­zie­hen und be­kann­te in ei­ner Mi­schung aus Re­si­gna­ti­on und Trotz: »Ich bin ein Idi­ot im grie­chi­schen Sin­ne, ein Nicht-Da­zu­ge­hö­ri­ger.« Um­gangs­sprach­lich steht Idi­ot syn­onym für Dumm­kopf. Hand­ke be­nutz­te den Aus­druck je­doch nicht in die­sem Sin­ne, son­dern nimmt ihn so­zu­sa­gen wört­lich. Für ihn ist der Idi­ot ein Pri­vat­mann, je­mand, der sich der Öf­fent­lich­keit ent­zieht, weil er nicht da­zu ge­hört. Der »Pri­vat­mann« Hand­ke hat­te sich jen­seits des ihm (von an­de­ren) zu­ge­wie­se­nen litera­rischen Re­fu­gi­ums in die Öf­fent­lich­keit be­ge­ben – und blieb un­ver­stan­den. Das Wit­t­­gen­stein-Wort aus dem Trac­ta­tus (6.43) pa­ra­phra­sie­rend könn­te man sa­gen: Die Welt des Idio­ten ist ei­ne an­de­re als die des­je­ni­gen, der in der Öf­fent­lich­keit steht.

Bo­tho Strauß’ vor ei­ni­gen Wo­chen im »Spie­gel« ab­ge­druck­ter Es­say heißt »Der Plu­ri­mi-Fak­tor«. Den Be­griff »Plu­ri­mi« er­klärt Strauß nicht di­rekt. Er steht für »die vie­len«, »die mei­sten«. Der sagt nicht »Mas­se«, ob­wohl dies ge­meint ist. Strauß’ be­ginnt sei­nen Es­say mit De­fi­ni­tio­nen des Idio­ten. Er sei »der Un­ver­bun­de­ne, der an­de­ren Un­be­greif­li­ches spricht.« Bo­tho Strauß ver­wen­det den Idio­ten­be­griff, aber er lässt ihn kurz dar­auf wie­der fal­len; er taucht dann nur am En­de wie­der auf. »An­mer­kun­gen zum Au­ßen­sei­ter« ist sein Text un­ter­ti­telt. Folgt man dem An­spruch des Au­tors ist be­reits der Be­griff des »Außen­seiters« ein Zu­ge­ständ­nis. Er ist ei­gent­lich zu un­ge­nau, zu mil­de. Der Au­ßen­sei­ter be­fin­det sich im­mer noch in ei­ner Ge­mein­schaft – er steht nur »au­ßen«. Das Außenseiter­sein ist durch­aus Be­stand­teil ei­nes Ge­mein­schafts­le­bens. Erst der Idi­ot ist der Ver­sto­sse­ne, der Ver­bann­te, der nicht Sa­tis­fak­ti­ons­fä­hi­ge.

Strauß und das Au­ßen­sei­ter­tum

1993 war Bo­tho Strauß nach der Pu­bli­ka­ti­on sei­nes Tex­tes »An­schwel­len­der Bocks­ge­sang« min­de­stens vor­über­ge­hend ver­bannt wor­den. Die Auf­re­gung um den Auf­satz wirkt heu­te merk­wür­dig. Die eher schüch­ter­ne An­spie­lung, dass »Ge­sell­schaf­ten, bei de­nen der Öko­no­mis­mus nicht im Zen­trum al­ler An­trie­be steht, auf­grund ih­rer ge­re­gel­ten, glaubens­gestützten Be­dürf­nis­be­schrän­kung im Kon­flikt­fall ei­ne be­acht­li­che Stär­ke oder gar Über­legenheit zei­gen wer­den« galt in den sich zü­gig zum Wirt­schafts­li­be­ra­lis­mus wan­deln­den west­li­chen Ge­sell­schaf­ten der 90er Jah­re als na­he­zu blas­phe­misch. (Heu­te kommt aus al­len iPho­nes Ka­pi­ta­lis­mus­kri­tik her­an­get­wit­tert.) Und dass »je­mand in Ta­dschi­ki­stan es als po­li­ti­schen Auf­trag be­greift, sei­ne Spra­che zu er­hal­ten, wie wir un­se­re Ge­wäs­ser« wur­de in An­be­tracht in­tel­lek­tu­el­ler Kos­mo­po­li­tis­mus-Ent­wür­fe kopf­schüt­telnd kom­men­tiert. Da­bei saß man da­mals in­mit­ten bro­deln­der Krie­ge im zer­fal­len­den Ju­go­sla­wi­en.

Mit Won­ne stürz­te man sich auf Strauß’ Be­kennt­nis »rechts zu sein« – oh­ne sei­nen Ab­gren­zun­gen und Aus­le­gun­gen zu fol­gen. »Rechts sein« ha­be nichts mit Neo­na­zi­tum zu tun, an­ti­zi­pier­te Strauß mög­li­che Ein­wän­de. Es sei ein Akt der Auf­leh­nung, »ge­gen die To­tal­herr­schaft der Ge­gen­wart« zu sein. Da­zu be­darf es »kei­ner Uto­pie«. Der Rech­te »sucht den Wie­der­an­schluß an die lan­ge Zeit, die un­be­weg­te, ist ih­rem We­sen nach Tief­en­erin­ne­rung und in­so­fern ei­ne re­li­giö­se oder pro­to­po­li­ti­sche In­itia­ti­on.« Schon da­mals be­kennt er sich zum »Au­ßen­sei­ter«: »Das, was ihn [den Au­ßen­sei­ter] zu­tiefst von der pro­ble­ma­ti­schen Welt trennt, ist ihr Man­gel an Pas­si­on, ih­re fre­vel­haf­te Selbst­be­zo­gen­heit, ih­re eben­so lä­cher­li­che wie wi­der­wär­ti­ge Ver­ge­sell­schaf­tung des Lei­dens und des Glückens.« Mit an­de­ren Wor­ten: Der Au­ßen­sei­ter ist lei­den­schaft­lich und zu­rück­hal­tend und steht da­mit im Ge­gen­satz zum lau­ten, pol­tern­den Mit­ma­cher.

Strauß plä­diert zwar für den »Wech­sel der Men­ta­li­tät«, spricht sich da­bei je­doch ge­gen den kul­tur­pes­si­mi­sti­schen Hang zur un­ver­meid­li­chen Zer­stö­rung des Be­stehen­den aus. An­de­rer­seits ver­kneift sich Strauß nicht blei­schwer-dunk­ler Zu­kunfts­vi­sio­nen. Die Mo­der­ne wer­de nicht durch »sanf­te post­mo­der­ne Aus­läu­fer« be­en­det, son­dern »mit ei­nem Kul­tur­schock«. Gar von ei­nem Krieg ist die Re­de. Aber so war sie, die Zeit. Im glei­chen Jahr ver­fass­te En­zens­ber­ger sei­ne »Aus­sich­ten auf ei­nen Bür­ger­krieg«.

In sei­nem Es­say »Der Kon­flikt« von 2006, der er­staun­lich we­nig dis­ku­tiert wur­de, be­schäf­tig­te sich Strauß mit den zu­neh­mend spi­ri­tu­el­len wie auch so­zia­len Heraus­forderungen, den sich li­be­ra­le Staa­ten ge­gen­über dem Is­lam zu stel­len ha­ben, der durch Mi­gra­ti­ons­be­we­gun­gen in die sä­ku­la­re Ge­sell­schaft im­mer mehr an Bo­den ge­winnt. Der Is­lam be­zie­he, so Strauß da­mals, »sei­ne stärk­ste Wir­kung aus sei­ner so­zia­len Integra­tionskraft.« Der We­sten hät­te, so die The­se, sei­ne Sä­ku­la­ri­tät nicht frucht­bar aus­ge­stal­tet, son­dern weit­ge­hend »Weltmärkte[n], technische[n] In­no­va­tio­nen« und »Sit­ten und Mo­den« da­ge­gen ge­hal­ten – kurz­um al­so öko­no­mi­schen Zie­len ge­op­fert, die un­ser So­zi­al­ver­hal­ten ra­di­kal ver­än­dert ha­ben. Es sei ei­ne »geist­lo­se Ge­sell­schaft« ent­stan­den, die kei­ne At­trak­ti­vi­tät für maß­ge­ben­de Tei­le der is­la­mi­schen Ge­mein­schaft bil­den kön­ne, da ihr die Em­pa­thie für tran­szen­den­ta­le (sa­kra­le) Er­leb­nis­wel­ten feh­len. Strauß ver­teu­fel­te da­mals die als »Par­al­lel­ge­sell­schaft« de­nun­zier­te is­la­mi­sche Le­bens­form aus­drück­lich nicht. Im Ge­gen­teil: »Sie lehrt uns an­de­re, die wir von Staat, Ge­sell­schaft, Öf­fent­lich­keit ab­hän­gi­ger sind als von der ei­ge­nen Fa­mi­lie, den Nicht-Zer­fall, die Nicht-Gleich-Gül­tig­keit, die Re­gu­lie­rung der Wor­te, die Hier­ar­chien der so­zia­len Ver­ant­wor­tung, den Zu­sam­men­halt in Not und Be­dräng­nis. Selbst­ver­ständ­lich ist es für den auf­ge­klär­ten West­eu­ro­pä­er der Born der Fin­ster­nis, der dies Le­ben in der Ge­mein­schaft­un­ter­hält und gut or­ga­ni­siert.«

Der Re­ak­tio­när

Strauß’ ak­tu­el­ler Auf­satz nun ist ein kul­tur- und zi­vi­li­sa­ti­ons­kri­ti­sches Text­ge­we­be, dass sich im Ge­gen­satz zu 1993 weit­ge­hend Pro­gno­sen ent­hält und die 2006 be­klag­te Ent-So­zia­li­sie­rung der Ge­sell­schaft weit­ge­hend als ge­ge­ben hin­zu­neh­men scheint. Strauß spinnt den Fa­den wei­ter. Er ist mit der Ver­ma­ssung von Wis­sen, In­for­ma­ti­on und Kommuni­kation nicht ein­ver­stan­den. Ihn stört es, wenn die »Brei­te zur Spit­ze« er­klärt wer­de. Un­klar bleibt, ob er ei­nem streng hier­ar­chi­schen (Kultur-)Apparat das Wort re­det oder eher mit Slo­ter­di­jks Ver­ti­ka­li­täts­the­se sym­pa­thi­siert, die »ei­ne ethisch kom­pe­ten­te­re und em­pi­risch ad­äqua­te­re Al­ter­na­ti­ve zu der grob­schläch­ti­gen Her­lei­tung al­ler Hier­ar­chie-Ef­fek­te und Stu­fen­phä­no­me­ne aus der Ma­trix von Herr­schaft und Un­ter­wer­fung« sein möch­te (»Du mußt dein Le­ben än­dern«, 2009).

Die Vo­ka­bel »rechts« ver­wen­det Strauß nicht mehr. Er ko­ket­tiert statt­des­sen mit dem Be­griff des Re­ak­tio­närs, der, so wird be­dau­ert, lei­der mit dem »Bier­schaum des po­li­ti­schen Stamm­tischs as­so­zi­iert« wer­de. Da­bei sei der Re­ak­tio­när »Phan­tast« und »Er­fin­der«, der be­reits re-agie­re wenn »an­de­re noch stumm und will­fäh­rig blei­ben«. Der Re­ak­tio­när »blickt skep­tisch auf die Ei­gen­dy­na­mik von Li­be­ra­li­sie­run­gen und Ega­li­sie­run­gen«. Er ist da­mit mehr als ein Kon­ser­va­ti­ver, der »eher ein Krä­mer des an­geb­lich Be­währ­ten« sei.

Nichts fin­det Gna­de vor Strauß’ Blick. Wind­rä­der sind »Schän­der der Land­schafts­see­le«, Dich­ter nur noch Prä­sen­ta­to­ren ih­rer selbst (ei­ne Fest­stel­lung, die an Jo­chen Jungs Wort vom »Au­toren­dar­stel­ler« er­in­nert, der die Au­ra ab­ge­legt ha­be um »über die Po­li­tik oder das In­ter­net, die Rol­le des Man­nes in der Kü­che, den Kli­ma­wan­del, Mi­gran­ten und so wei­ter« zu fa­bu­lie­ren), Elek­tronik­märk­te und Ap­ple-Stores »die wah­ren Kult- und Fei­er­stät­ten«. Über­all herrscht der »Fa­na­tis­mus des Gu­ten«, der »Gläu­bi­gen und An­ders­gläu­bi­gen« oh­ne Un­ter­schied »un­se­re Frei­hei­ten« auf­drängt, wo­bei sorg­fäl­tig dar­auf ge­ach­tet wird, dass das »Abfärben…nur ein­sei­tig« ge­schieht.

An­ge­sichts der aus­ufern­den Trans­pa­renz-For­de­run­gen fragt Strauß wie es um die »Kunst der Dis­kre­ti­on« be­stellt sei, »die einst die In­di­vi­du­en un­ter­ein­an­der vor den gröb­sten Un­verschämtheiten der Selbst­ent­blö­ßung« be­wahrt ha­be. Die »bis­her ein­zig wür­di­ge Form der ‘Kom­mu­ni­ka­ti­on’ un­ter Men­schen« be­ruh­te »auf der Vor­aus­set­zung von Dis­kre­ti­on«, so Strauß. Si­cher­lich ahnt und fürch­tet der Schrift­stel­ler By­ung-Chul Hans Dik­tum, ei­ne Trans­pa­renz­ge­sell­schaft sei ei­ne »Ge­sell­schaft oh­ne Dich­ter, oh­ne Ver­füh­rung und Me­ta­mor­pho­se«.

Ci­ce­ro

Kein gu­tes Wort für die­je­ni­gen, die sich »in di­gi­ta­len Mas­sen« vor­drän­gen, ih­re »Sprach­lum­pen« ab­son­dern und »In­fo-De­men­te« er­zeu­gen (und auch sind). Er­wart­bar und we­nig ori­gi­nell sein Ein­tre­ten für das Buch, wel­ches sich zu »re­sa­kra­li­sie­ren« ha­be. (Wo­bei Strauß’ durch­aus iro­nisch wird, in dem er den Ver­le­ger Stend­hals zi­tiert, der sei­nem Au­tor mit­teil­te, sein neu­es Buch sei hei­lig – nie­mand rüh­re es an.) Kon­se­quent die Ab­sa­ge an den »Göt­zen­dienst vor dem Po­pu­lä­ren«. Das Blin­zeln auf die Quo­te ver­lan­ge ge­ra­de­zu die »An­pas­sung nach un­ten«.

»Brei­te« be­deu­tet für ihn: »Wäh­rend In­tel­li­genz zur Mas­sen­be­ga­bung wur­de, sind Klug­heit und Ein­falt na­he­zu aus­ge­stor­ben«. Strauß’ Be­har­ren auf Struk­tu­ren jen­seits ei­nes Ega­li­ta­ris­mus, der al­les und je­den auf den klein­sten ge­mein­sa­men Nen­ner ni­vel­liert, er­in­nert an Ci­ce­ros »De re pu­bli­ca«, in dem der Rö­mer ei­ne Misch­form mon­ar­chi­scher, ari­sto­kra­ti­scher und de­mo­kra­ti­scher Struk­tu­ren ent­wirft. Nur so wür­den die in je­der Herr­schafts­form we­sen­den Ex­tre­me (Ty­ran­nis, Olig­ar­chie, Och­lok­ra­tie) ge­bän­digt.

Strauß be­merkt na­tür­lich die Kon­ven­tio­nen, die im »des­po­ti­schen Um­riß« des »hin­ken­den Gu­ten«, der zum Wort­füh­rer wird, stecken. Die­se folg­ten viel un­nach­gie­bi­ge­ren Re­geln als je­ne, die »aus bür­ger­li­cher Zeit« be­kannt sei­en. Man könn­te er­gän­zen, dass die (sä­ku­la­ren) Adep­ten des Kor­rek­ten we­der Ver­ge­bung noch Gna­de ken­nen. Das Stig­ma ist un­er­bitt­lich und le­bens­lang. Wen wun­dert es da noch, dass auch die Reue aus­ge­stor­ben ist bzw. nur noch zur Wort­hül­se ver­kom­men ist.

Strauß’ Skep­sis ge­gen­über der Par­ti­zi­pa­ti­on des Bür­gers, der nicht mehr nur bür­ger­lich ist, sitzt tief. Es wä­re un­zu­tref­fend ver­ein­facht, wür­de man Strauß nur schnö­den Eli­ta­ris­mus un­ter­stel­len. Wer ge­nau liest, sieht auch sei­ne Zwei­fel, et­wa wenn er als ein Kenn­zei­chen des Re­ak­tio­närs sei­ne Idio­syn­kra­si­en aus­macht. Und der Re­ak­tio­när ist eben kein Re­vo­lu­tio­när.

Avant­gar­de und die Ver­ach­tung der Mas­sen

All dies ist nicht neu. Es gibt kaum ei­nen Schrift­stel­ler von Rang in den letz­ten ein­hun­dert Jah­ren, der nicht min­de­stens Zwei­fel an der Rich­tig­keit und Wirk­sam­keit des po­li­ti­schen Sy­stems der Volks­herr­schaft ge­zeigt hat. Schrift­stel­ler sind na­tur­ge­mäß an­fäl­lig für sol­che Res­sen­ti­ments. Ih­re Krea­ti­vi­tät ent­springt kei­nem de­mo­kra­ti­schen Akt. Sie kommt aus ei­nem star­ken Selbst-Be­wußt­sein. Schließ­lich ist das Schrei­ben von Li­te­ra­tur im­mer auch Hy­bris. Schrift­stel­ler sind Ver­ein­zel­te und da­durch per se Au­ßen­sei­ter, wenn nicht so­gar Ver­bann­te, al­so Idio­ten. Schrift­stel­ler schaf­fen Neu­es, Un­ge­wöhn­li­ches. Sie spren­gen die be­stehen­den Nor­men; nicht un­be­dingt vor­sätz­lich po­li­tisch-re­vo­lu­tio­när, son­dern äs­the­tisch.

Au­ßer­ge­wöhn­li­che Schrift­stel­ler sind im­mer auch Avant­gar­de. (Schlech­te Schrift­stel­ler, die den­noch kom­mer­zi­ell er­folg­reich sind, nur Mo­de­er­schei­nun­gen.) Das Wort Avant­gar­de ist dem Mi­li­tär ent­nom­men. Es be­zeich­net die­je­ni­gen, die vor (avant) den an­de­ren in die geg­ne­ri­schen Stel­lun­gen ein­bre­chen. Sie sind ih­ren Ka­me­ra­den vor­aus. Wer Avant­gar­de ist, ist aus­ge­wählt (viel­leicht so­gar aus­er­wählt). Spä­te­stens jetzt ist der Strauß’sche Re­ak­tio­när, al­so der­je­ni­ge der re-agie­re wenn »an­de­re noch stumm und will­fäh­rig blei­ben«, syn­onym für Avant­gar­de. Dass in­zwi­schen im­mer we­ni­ger Schrift­stel­ler Avantgarde/Reaktionär sind, son­dern sich – wie Strauß rich­tig schreibt – dem Po­pu­lä­ren an­die­nen, sich ver-schrei­ben, steht auf ei­nem an­de­ren Blatt.

Die Mas­se und ih­re fest­ge­füg­ten Re­geln sind der Avant­gar­de min­de­stens ver­däch­tig. Sie be­an­spru­chen für sich ei­ge­ne Re­geln. Hier­in liegt ei­ne der Ur­sa­chen, das sich Schrift­stel­ler po­li­ti­schen Sy­ste­men, die die Bän­di­gung oder so­gar Steue­rung der Plu­ri­mi, der Mas­se, in Aus­sicht stel­len, so ger­ne zu­ge­wen­det ha­ben und zu­wen­den. Avant­gar­de und De­mo­krat sein ist ein Wi­der­spruch. Vie­le ha­ben ihm nach­ge­ge­ben; die Zahl de­rer, die po­li­tisch ver­meint­lich oder tat­säch­lich ob­skur dach­ten, ist lang. Das es oft die sehr gu­ten wa­ren, ir­ri­tiert und be­frem­det den­je­ni­gen, der glaubt, ein Schrift­stel­ler sei per se ein bes­se­rer Mensch.

Eli­as Ca­net­ti mach­te die Mas­se als ein­zi­ge Ge­le­gen­heit des Men­schen aus, sei­ne Furcht vor den an­de­ren Men­schen zu über­win­den. Er nann­te es »Um­schla­gen der Be­rüh­rungs­furcht«. In der Mas­se steckt für Ca­net­ti die Mög­lich­keit der Zer­stö­rung des Ab­sei­ti­gen, des Un­pas­sen­den. Die Mas­se droht Spiel­zeug ei­nes oder meh­re­rer Be­fehls­ge­ber zu wer­den. Die­se aus dem Er­le­ben wäh­rend des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus ge­spei­ste Furcht des Dich­ters wird bis heu­te fort­ge­schrie­ben. Die Ver­ach­tung der Mas­se ist gut be­leu­mun­det und viel­fäl­tig be­grün­det. Of­fen bleibt da­bei ob die­se Aver­si­on nicht auch ei­ne be­son­de­re Form der Selbst­er­hö­hung dar­stellt.

Da­bei sind De­mo­kra­tien nichts an­de­res als Be­fra­gun­gen der Plu­ri­mi, der Mas­se. Ih­re Ent­schei­dung ist Le­gi­ti­ma­ti­on. Die Mehr­heit der Mas­se be­stimmt die po­li­ti­sche Aus­rich­tung. In der Am­bi­va­lenz zwi­schen Ver­führ­bar­keit der Mas­se und ih­res Ge­braucht­wer­dens liegt für vie­le der Grund für den Arg­wohn an der De­mo­kra­tie. Die Skep­ti­ker über­se­hen oft, dass es in sta­bi­len po­li­ti­schen De­mo­kra­tien im­mer auch kom­ple­xe Kon­troll­in­stru­men­te gibt, die die Mas­sen­ent­schei­dun­gen not­falls bän­di­gen bzw. im­mer wie­der neu be­fra­gen. Die Vor­be­hal­te ge­gen­über Ent­schei­dun­gen der Plu­ri­mi sind da­bei stets un­ter­schwel­lig prä­sent und wer­den durch In­sti­tu­tio­nen re­gu­liert.

Der Netz­bar­bar

Für Strauß ist die schlei­chen­de Ok­ku­pa­ti­on des öf­fent­li­chen Dis­kurs­rau­mes durch »Au­toren«, die weit­ge­hend oh­ne hier­ar­chi­sche Zu­las­sung da­her­kom­men, min­de­stens zwie­späl­tig. Er sieht dar­in den »äs­the­ti­schen Ur­feh­ler«, die Ge­fahr, »die mei­sten zur ober­sten In­ter­es­sensphä­re zu ma­chen.« Au­ßer­dem droht die Ge­fahr der Massenver­führung. Für je­man­den, der Avant­gar­de (bzw. Re­ak­tio­när) ist, sind sol­che Ent­geg­nun­gen ver­ständ­lich. Na­he­zu al­le, die in Treib­häu­sern le­ben (ins­be­son­de­re in dem der Kul­tur), tei­len sie. Blicke in Kom­men­tar­fo­ren vom »Stan­dard« über »Spie­gel On­line« bis zur »FAZ« (letz­te­res im­mer­hin mo­de­riert) ge­ben die­sen Be­den­ken Nah­rung. Der ent­fes­sel­te Fo­rum-Kom­men­tie­rer ist der Ar­che­typ des Netz­bar­ba­ren und das Schreck­bild des Avant­gardisten. Aber der Netz­bar­bar ist nur ei­ne Teil­mas­se, die durch die neu­en elek­tro­ni­schen Me­di­en plötz­lich grell auf­leuch­tet. Im Ver­bor­ge­nen exi­stier­te der Mei­nungs­pö­bel im­mer schon. Je­de Le­ser­brief­re­dak­ti­on kennt dies.

Da­bei dürf­te die Ein­füh­rung des Pri­vat­fern­se­hens und die prak­tisch so­for­ti­ge und be­din­gungs­lo­se Ka­pi­tu­la­ti­on der öf­fent­lich-recht­li­chen Me­di­en zu Gun­sten des ver­meintlichen Mas­sen­ge­schmacks viel mehr zum Ni­veau-Ab­sturz bei­getra­gen ha­ben als die vom re-ak­tio­nä­ren Strauß ver­damm­ten di­gi­ta­len Au­toren. De­ren Dumm­hei­ten und die Dumm­hei­ten de­rer, die ih­nen nach­äf­fen, kön­nen im­mer­hin noch pro­blem­los igno­riert wer­den. Die Ge­fähr­dung des »Unzeitgemäße[n]« ist nicht durch den vir­tu­el­len Strom er­zeugt wor­den. Die Ver­blö­dungs­kas­ka­den des sich zu­sam­men­rot­ten­den Main­streams wer­den zwar durch das Netz be­schleu­nigt, aber es dürf­te dem Old­ti­mer-Fah­rer doch gleich­gül­tig sein, ob er auf der Au­to­bahn mit Tem­po 150 oder 250 über­holt wird.

Für Strauß ist aus­ge­macht, dass »Othel­lo« »nicht mehr faß­bar ist für heu­ti­ge Bühnen­gesinnung«. Ein »Werk von die­ser Grö­ßen­ord­nung«, »zum Er­schüt­tern ge­schrie­ben«, kit­ze­le nicht ein­mal mehr. Aber was hat dies bit­te­schön mit »Othel­lo« zu tun? Es geht, und das ver­gisst Strauß, wo­mög­lich um die 674. In­sze­nie­rung die­ses Stückes – ent­we­der im Stadt­thea­ter von X oder als me­di­al ge­hyp­te Re­gie­ar­beit auf ir­gend­ei­nem die­ser in­fla­tio­nä­ren Fe­sti­vals. Aber sind es nicht ge­ra­de die Kunst­ver­mitt­ler, die mit ih­rer zwang­haf­ten Ori­gi­na­li­tät, die we­ni­ger ei­ne Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Text als ei­ne Be­wäl­ti­gung ih­rer ei­ge­nen, per­sön­li­chen Ab- und Zu­nei­gun­gen ab­bil­den und nur noch Flucht in die bil­li­ge Pro­vo­ka­ti­on neh­men, die­se mehl­tau­haf­te Gleich­gül­tig­keit mit er­zeugt ha­ben?

Strauß’ Auf­satz könn­te als schö­ne Fo­lie für ei­ne Ver­tei­di­gungs­re­de der As­ke­se die­nen. Für ein Be­har­ren des Üben­den auf das Be­son­de­re in­mit­ten der Strö­me der Ba­na­li­tä­ten. Für ein Wi­der­ste­hen; wenn not­wen­dig ein trot­zi­ges. Slo­ter­di­jks er­wähn­tes Übungs­buch ten­dier­te in die­se Rich­tung.

So be­darf es bei­spiels­wei­se doch be­son­de­rer Übung um in­mit­ten von 80.000 Neuer­scheinungen pro Jahr das Buch an sich zu sa­kra­li­sie­ren und nicht zum pro­fa­nen Handels­gegenstand ver­kom­men zu las­sen. Aber wie? Mit ei­nem dys­to­pi­schen Kultur­lamento, zu­ge­ge­be­ner­ma­ßen in schö­nen Wortor­na­men­ten da­her­kom­mend, wel­ches lie­ber »ei­ne rau­schen­de Ball­nacht des Gei­stes« statt ei­ner wei­te­ren Kli­ma­kon­fe­renz als Ziel ent­wickelt, be­gibt sich Strauß nur in die längst be­hag­lich aus­ge­stat­te­te Ecke der Nörg­ler. Man at­te­stiert die­sen Nörg­lern zwar ger­ne, dass sie recht ha­ben – aber nur, um sie loszu­werden. Die an­de­re Ge­fahr ist in den so ver­füh­re­risch aus­ge­stat­te­ten Ha­fen des Zynis­mus ein­zu­lau­fen (das ist für Strauß na­tür­lich un­mög­lich).

Mö­ge das Un­be­ha­gen an und in der Kul­tur für ei­nen Mo­ment ver­ge­gen­wär­tigt und kon­kre­ti­siert wer­den. Und dann: Schluss da­mit! Ich möch­te da­von min­de­stens ein Jahr nichts mehr le­sen, se­hen und hö­ren. Für ei­nen Schrift­stel­ler ge­hört es sich, zu er­zäh­len. »Was bleibt von Pe­ter Hand­ke?« frag­te Bo­tho Strauß in ei­nem Ar­ti­kel in der FAZ im Jahr 2006 zur Ver­tei­di­gung des­je­ni­gen, der ge­mäß den Ge­sin­nungs­rich­tern des Feuil­le­tons »Un­be­greif­li­ches« aus­ge­spro­chen ha­ben soll. Strauß ant­wor­te­te, es blie­be »ei­ne Weg­scheide des Se­hens, Füh­lens und Wis­sens.« Und da­mit weit mehr als das von je­nen, die schein­bar wis­sen, was und wie zu spre­chen ist. Gu­te Schrift­stel­ler schaf­fen die Evo­ka­ti­on von Mög­lich­keits­räu­men jen­seits üb­li­cher Wahr­neh­mun­gen. Das ist die ori­gi­nä­re Auf­ga­be von Li­te­ra­tur (wenn die­se über­haupt ei­ne »Auf­ga­be« hat). In die­sem Sin­ne ist sie viel­leicht not­wen­di­ger denn je. Und zu scha­de, um sich mit Phä­no­me­nen her­um­zu­pla­gen, de­ren Lä­cher­lich­keit je­der Füh­len­de, Le­sen­de, Hö­ren­de ir­gend­wann sel­ber be­merkt.

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  1. Sehr gu­ter Ar­ti­kel von Gre­gor,
    ich bin auch der Mei­nung, dass der zeit­geist-ana­ly­ti­sche Ne­ben­er­werb nicht mehr das Ge­wicht hat, das man ihm noch vor 20 Jah­ren bei­gemes­sen hat.
    Au­toren wie Strauss schei­nen in die­ser Hin­sicht fast un­frei­wil­lig zu han­deln, als Avant­gar­de ei­ner Kul­tur­wehr­pflicht, die letzt­lich ein Klassen»geschmäckle« hat. Dass die äs­the­tisch an­spruchs­vol­len Schrift­stel­ler auch De­mo­kra­tie-An­hän­ger sein sol­len, ha­be ich nie be­grif­fen. Es kann sich nur um ei­nen Er­zie­hungs­feh­ler han­deln.
    Das Ge­gen­teil ist (sie­he Ar­ti­kel) ist wahr­schein­lich.
    Ich fin­de es rich­tig, dass Keu­sch­nig im­mer wie­der ei­ne Grenz­li­nie zieht zwi­schen den al­ten und den neu­en Ver­ant­wort­lich­kei­ten. Vor­al­lem an­ge­sichts der spät­mo­der­nen Cha­os-Sicht­ver­hält­nis­se ist das nicht eben leicht.

  2. Le Sur­rea­lis­me au ser­vice de la re­vo­lu­ti­on.

    Ja, aber war­um nicht Kul­tur-Wehr­pflicht? Wie vie­le läp­pi­sche Pflich­ten hat man denn sonst ge­gen­über ei­ner Mir-Egal-Ge­sell­schaft au­ßer „Du sollst ar­bei­ten und kon­su­mie­ren“, in der es Ega­li­tät zu­letzt doch nie­mals gibt? (Und wä­re das über­haupt gut? Braucht es nicht je­mand, der sich er­hebt, um den an­de­ren ein An­de­res auf­zu­zei­gen? Ir­gend­je­mand wird im­mer un­ter der Mehr­zahl lei­den. )

    Ei­gent­lich bin ich so weit ein­ver­stan­den mit der Ana­ly­se. Al­ler­dings muss es, das Idio­ti­sche, ei­ner al­so doch aus­spre­chen. Und die (an­schei­nend mitt­ler­wei­le auch un­ter Künst­lern un­ge­lieb­te) Avant – Gar­de braucht es auch: Je­mand muss doch vor­aus­ge­hen. Oder et­was vor­aus­zu­se­hen ver­su­chen. (Bloß weil al­le nur noch in Jobs den­ken, in ih­ren ei­ge­nen, sie täg­lich klein­mü­ti­ger ma­chen­den „Steve“-Jobs, spricht das ja nicht per se ge­gen Be­ru­fun­gen.)

    Zwar weiß der „Idi­ot“ im Strauß’schen Sin­ne ja schon, wie es um die Wir­kung sei­ner Wort­mel­dun­gen be­stellt ist – aber wer lebt, kann sich eben auch nicht ein­fach ab­fin­den. Und die stil­le, die über­le­ge­ne Klug­heit stärkt doch all­zu oft noch die fal­schen oder auch nur die re­si­gna­ti­ven Kräf­te. Der Sta­tus quo ist ja selbst mit das Un­be­ha­gen, an der die Ver­hält­nis­se kran­ken.

    (Wenn et­wa Sa­scha Lo­bo sei­nen „Ekel“ an­ge­sichts ei­ner läh­mungs­star­ren Re­gie­rung ar­ti­ku­liert, hat das Re­so­nanz. Ich wun­der­te mich, wie vie­le die­se doch eher sonst ver­wor­fe­ne bis stig­ma­ti­sier­te Re­gung teil­ten. Der Dau­er-Hu­mor und die stil­le Ver­ach­tung der an­de­ren, mar­gi­na­li­sier­ten Vie­len rei­chen als Hal­tung eben auch manch­mal nicht mehr aus.)

    An­son­sten lernt auch der Idi­ot – wie er ja auch sei­ne Vor­tei­le dar­in fin­den kann -, von die­sen un­gu­ten Mas­sen links (oder eben rechts) lie­gen ge­las­sen zu wer­den.

    Und um­ge­kehrt ist ja auch der Eli­ta­ris­mus für den klickend und zap­pend tag­träu­mend sein Grö­ßen­selbst um­krei­sen­den Mit­läu­fer im­mer wie­der in­ter­es­sant, gar ver­füh­re­risch – ist er doch das, was der „Star“, und sei es der grin­sen­de Zwei­ein­halb-Mi­nu­ten Lücken­bü­ßer auf dem Fern­seh­schirm, ei­gent­lich be­deu­tet: Ein Quänt­chen Gla­mour durch Er­he­bung und Di­stanz. Es wer­den die­se je be­son­de­ren Mo­men­te ei­ner al­so mi­ni­mal gei­sti­gen Ein­sicht eben nur nie kon­se­quent ge­macht.

    Ich wun­de­re mich durch­aus noch manch­mal, dass es nicht mehr Ter­ro­ris­mus et­wa ge­gen die Fern­seh­dreck gibt, oder die Ve­he­menz, die ja durch­aus exi­stiert (Po­lit-Dreck, Um­welt-Dreck, Kon­sum-Dreck …) nie in kon­kre­te Hand­lun­gen über­setzt wer­den.

    (Ei­ne Zeit lang konn­te man ja die pa­ra­do­xe Hoff­nung ha­ben, dass der Feind von der an­de­ren Sei­te, et­wa in Form du­bio­se­ster bay­ri­scher Lan­des­po­li­ti­ker auf ein­mal zum Ver­bün­de­ten wür­de und end­lich mal was ge­gen die­se rund­um-fau­le ARD pas­sier­te. Und es wird wohl noch pas­sie­ren: Wer hät­te et­wa bis vor Kur­zem ge­glaubt, dass selbst die­se mo­no­li­thi­schen En­er­gie­kon­zer­ne ein­mal vor Um­wäl­zun­gen stün­den!)

    Zy­nisch ge­spro­chen: So wie es in der ar­beits­tei­li­gen Ge­sell­schaft die Un­ter­schicht und die Aus­zu­beu­ten­den und die so­zi­al­ver­träg­lich Früh-Ab­le­ben­den braucht, gä­be es in ei­ner Ge­sell­schaft von zu vie­len Sel­ber-Den­kern wo­mög­lich kaum ge­nug Zu­sam­men­halt? Und an­de­re ver­mu­ten, dass in den „so­zia­len Netz­wer­ken“ sich so et­was wie ein Selbst­ver­wirk­li­chungs­traum der al­ten Avant­gar­den ver­wirk­licht, so­zu­sa­gen als im Ba­sal-Ge­sell­schaft­li­chen auf­ge­gan­ge­nes Künst­ler­tum: im „Pu­bliszis­mus“ von je­der­mann ein „Ex­po­nis­mus“ als De­mo­kra­tie-Er­wei­te­rung.

    Ich den­ke noch dar­über nach, aber kann es schon nicht mehr ganz ab­tun als bloß weit ge­nug auf den Kopf ge­stell­te Kri­tik. Ir­gend­wann muss die gan­ze Kunst ja auch mal ge­sell­schafts­ver­än­dernd wir­ken.

    Was je­den­falls tra­gisch wä­re: Wenn der (ja auch hi­sto­risch im­mer in ir­gend­wel­chen For­men ge­dul­de­te) Idi­ot – der Se­her, der Pro­phet, der Narr am Ho­fe etc. – ir­gend­wann mit sei­nen Her­vor­brin­gun­gen über­haupt nicht mehr durch­dringt: Sooo of­fen scheint der Mei­nungs­markt in Wirk­lich­keit näm­lich nicht: Die Ni­schen, die je­der­mann er­laubt sind, um al­le ge­gen­ein­an­der ab­zu­fe­dern, sind zu­gleich die, die al­les mög­li­che an Ein­fluss neu­tra­li­sie­ren bzw. wie­der­um ei­nem Markt zur Re­gu­lie­rung über­ant­wor­ten. (Es soll ja Leu­te ge­ben, die die Fi­nanz­kri­se vor­aus­ge­se­hen ha­ben; und es sei ja der Künst­ler als De­tek­tio­nist des Kom­men­den er­wünscht. Usw.)

    Es braucht an­schei­nend nur ei­ne Art an­de­re Me­cha­nik des Öf­fent­li­chen (frü­her ei­ne sin­gu­lä­re Denk- oder Ge­stal­tungs­lei­stung, heu­te et­wa Skan­da­le) um auch mit we­sent­li­chen Din­gen ge­hört zu wer­den.

    Seit je aber sor­tie­ren die Wis­sen­schaf­ten in na­he­zu sämt­li­chen Dis­zi­pli­nen vor al­lem die­je­ni­gen aus, die et­was ih­ren Ge­ne­ra­tio­nen (weit) vor­aus­ge­se­hen ha­ben. Nur ist der Ruhm der Vor­läu­fer eben fast im­mer ein nach­träg­li­cher – und wo­mög­lich ist das bei der Seins­über­ho­ben­heit der Ge­gen­wärt­ler ei­ne Art Ge­setz? Und das wirk­lich schlim­me­re Fa­zit ist, dass auch oft spä­ter so gar nichts draus er­folgt. War­um soll­te das in der Li­te­ra­tur (der Kunst) an­ders sein als in der Wis­sen­schaft? Dass et­wa Kli­ma­mo­del­le mitt­ler­wei­le be­äng­sti­gend zu­tref­fend sind, hält nie­man­dem vom Au­to­fah­ren ab, der zu sei­nem Job oder sei­ner Ver­ab­re­dung muss. Es geht da wo­mög­lich um Sät­ti­gungs­gra­de oder an­de­re Mas­se­fak­to­ren bis zu re­le­vant wer­den Ein­flüs­sen.

    Der Idi­ot scheint al­so sehr wohl nö­tig, er hat im­mer auch sei­ne Fre­quenz im Chor der Vie­len. Nur ist das We­sen sei­ner Wir­kung eben stets ein un­end­lich ver­zö­ger­tes, und sein ei­ge­nes Lei­den dar­an – der sich al­so zu­letzt doch für die an­de­ren er­regt (und das oft so­gar als sei­en Auf­ga­be be­greift) – ist ihm per­sön­lich auf­er­legt. Was ihn sei­ner win­zi­gen Ein­spruchs­mög­lich­keit aber nicht ent­hebt.

    Wo­mög­lich al­so hat das im Sin­ne ei­nes an­ge­nom­me­nen oder ei­ner so­gar un/ausdrücklich funk­tio­na­len Ge­sell­schafts-Sy­stems (à la Luh­mann) sel­ber ei­ne Auf­ga­be, mit­tels sei­ner je in­di­vi­du­el­len Ga­ben im Dien­ste der Ge­sell­schaft das Avant vor­aus­zu­se­hen. Nur muss die Fra­ge of­fen blei­ben, was man als nicht ei­gens da­zu Be­ru­fe­ner da­für ver­lan­gen kann. Viel­leicht ist „Öf­fent­lich­keit“ als sol­che da­für schon viel.

  3. @herr.jedermann
    In­ter­es­san­te Aspek­te.

    Na­tür­lich muss es je­mand aus­spre­chen. Aber das der Kai­ser (das Netz) nackt ist, ist doch längst kei­ne Neu­ig­keit mehr. Zu­dem ist Strauß’ Par­tei; er re-agiert aus ei­ge­nen In­ter­es­sen, die nicht äs­the­tisch, son­dern auch macht­struk­tu­rell sind. Hoch­tra­bend ge­spro­chen: Er ver­liert an Deu­tungs­ho­heit. In der Po­ly­pho­nie (die er als Ka­ko­pho­nie sieht) ver­liert die ein­zel­ne Stim­me ih­ren An­teil.

    Er­in­nert das nicht an die Ver­brei­tung des Bu­ches im 19. Jahr­hun­dert? Auch dies wur­de als »ver­der­bend« an­ge­se­hen. Man be­den­ke, wie lan­ge das ge­dau­ert hat – ich er­in­ne­re mich noch an mei­ne Groß­mutter, die Bü­chern und dem Le­se­hun­ger des En­kels skep­tisch ge­gen­über stand. Das Buch galt als »un­zu­ver­läs­sig«. Da­her nahm man sich die schlech­te­sten Bei­spie­le, um es zu de­nun­zie­ren. Heu­te wird es sa­kra­li­siert bzw. re-sa­kra­li­siert.

    Vie­les von dem, was Strauß da auf­führt, ist im üb­ri­gen im­ma­nent im Me­di­um vor­han­den, dass er als Fo­rum be­nutzt: Spie­gel bzw. Spie­gel-On­line. Schon klar, dass das kein Ar­gu­ment ge­gen ihn ist, aber es ist zu­min­dest ein biss­chen bi­gott.

    Die Po­se wer­fe ich dem Idio­ten nicht vor; es ist (s)eine rhe­to­ri­sche Fi­gur (oder ei­ne sei­ner rhe­to­ri­schen Fi­gu­ren). Von ei­nem sol­chen Schrift­stel­ler er­war­te ich mehr als nur ein biss­chen Dampf ab­las­sen, be­vor man sich dann wie­der zu­rück­zieht. Bei Hand­ke gab es mit sei­nem Ju­go­sla­wi­en ein An­lie­gen, das – es moch­te rich­tig oder falsch sein – ihn ge­fun­den hat­te und ihn fast auf­zehr­te. Da­ge­gen wirkt Strauß’ Un­be­ha­gen ari­sto­kra­tisch. Scha­de, dass ein Ernst Jün­ger nichts mehr zum Netz schrei­ben kann. Er war nicht un­be­dingt ein gro­ßer Schrift­stel­ler, aber sei­ne Zeit­dia­gno­sen wa­ren nicht im­mer schlecht. Er hät­te poin­tier­ter und we­ni­ger lar­moy­ant ge­schrie­ben – be­haup­te ich ein­fach ein­mal.

    (Zu Lo­bo, sei­nem eher apo­li­ti­schen Ekel-Ver­dikt und die­ses ze­re­mo­ni­ell da­her­kom­men­de Em­pö­ren über das Nicht-Em­pö­ren sa­ge ich mal nichts.)

  4. @ herr.jedermann
    Ein Rie­sen-Kom­men­tar, der das Pro­blem des En­ga­ge­ments aus den Sech­zi­ger, Sieb­zi­ger Jah­ren wie­der­holt. Das ist statt­haft, kei­ne Fra­ge, so man­ches Pro­blem wie­der­holt sich, weil es kei­ner ver­bind­li­chen Lö­sung zu­ge­führt wer­den kann.
    Von mir nur ein Aspekt:
    es ist von ei­ner Hal­tung die Re­de, die halb ver­pflich­tend, ei­ne Angriffs‑, Bei­spiels- und Ver­tei­di­gungs­funk­ti­ons wahr­nimmt. Al­so die ganz gro­ße Num­mer. Und mit die­ser Hal­tung soll auch schon ge­schrie­ben, ge­malt und ge­tanzt wer­den, weil der Mensch ja ger­ne ein Gan­zer sein möch­te, und je­de Ein­tei­lung der Exi­stenz ziem­lich (Zi­tat:) »läp­pisch« ist.
    Ich kann nur sa­gen: die­se Hal­tung ist für mich nicht er­stre­bens­wert, das ist nicht öko­no­misch. Der Traum, kei­ner­lei Öko­no­mie »an­zu­ge­hö­ren«, son­dern nur sich selbst und sei­nem Ge­wis­sen ver­pflich­tet zu sein, re­du­ziert die gro­ße wei­te Welt (Markt, Po­li­tik, Kunst, Pri­vat­le­ben) wie­der auf die bür­ger­li­che Iden­ti­tät.
    Die­se Iden­ti­tät, um es deut­lich zu­sa­gen, hal­te ich für ei­ne Miss­ge­burt der Mo­der­ne.

  5. @ Gre­gor Keu­sch­nig

    Ich woll­te Strauß’ „An­lie­gen“ gar nicht ver­kürzt se­hen auf Netz oder Buch oder sonst was Me­dia­les (oder Fra­gen da­zu). Das Netz ist ja eher nur das Pa­ra­dig­ma, auf dem / ge­gen das sich das al­les ab­spielt. Aber es steckt ja viel mehr da­hin­ter. Die be­rühm­te Kon­ver­si­on jetzt auch noch der letz­ten Steck­do­se mit IP-Num­mer und Ra­di­kal-Ver­net­zung in ei­nem Netz-„Panoptismus“ ist be­denk­lich ge­nug. Und Per­ver­sio­nen wie dem vor­bei­ei­len­den Smart­phone-Trä­ger über­mit­tel­te In­for­ma­tio­nen (= noch mehr Re­kla­me­dreck) las­sen Schlim­me­res ah­nen.

    (Als Ab­schwei­fung: Über­haupt wird ja neu­er­dings im­mer öf­ter erst wie­der in­ter­es­sant, was sich nicht ein­fach an­stel­le set­zen lässt. Wo­mög­lich bräuch­te es eben da längst ei­ne ent­schie­de­ne­re Ge­gen­be­we­gung? Kei­ne nost­al­gi­sche, son­dern eben ei­ne aus­drück­lich ter­ro­ri­sti­sche. Schon klar, was nicht im Netz exi­stiert, gibt es nicht – aber es kann auch nicht sei­ner Ei­gen­rea­li­tät ent­zo­gen wer­den. Ei­ne Zei­tung aber et­wa aus­schließ­lich im Netz ist eben kei­ne Zei­tung mehr, son­dern et­was an­de­res, und sie be­deu­tet auch et­was an­de­res. In groß­for­ma­ti­gem Pa­pier blät­tern aber ist da­durch nicht ob­so­let, ob­wohl igno­ran­te und in­ter­es­sier­te Krei­se das gern so se­hen wol­len. Und so wei­ter.)

    Ich se­he Strauß auch durch­aus als un­ei­gen­nüt­zig, sei­ne Be­den­ken, sein Ernst las­sen sich mit Aspek­ten um sei­ne be­droh­ten Ei­gen­in­ter­es­sen nicht ab­tun. Viel­leicht könn­te es ihm so­gar längst egal sein? Auch ei­ne Po­se se­he ich da nicht – und für die Wi­der­sprü­che, in der er sich oh­ne Zu­tun be­fin­det kann er nichts. In dem ihm un­ter­stell­ten Sin­ne müss­ten wir dann al­le macht-struk­tu­rel­le In­ter­es­sen ha­ben (und wir ha­ben sie ja wohl auch).

    Ich ver­ste­he ihn al­so auch so, dass es um den me­dia­len Trä­ger letzt­lich gar nicht ent­schei­dend geht (das wä­re nur das Dis­po­si­tiv, in dem sich al­les ab­spielt, die be­rüch­tig­te Kon­ver­si­on, oder jetzt der Ort von Ho­hei­ten, um die ge­strit­ten wird), son­dern um das viel grö­ße­re Un­be­ha­gen ei­ner „Kul­tur“ vie­ler Kräf­te auf dem Rück­zug zu­gun­sten ei­ner nun dro­hen­den Aus­schließ­lich­keit an Kul­tur. Es geht um die­sen to­ta­li­tä­ren Zug, um die gro­ße Ver­ein­heit­li­chung, die sich als Spiel­wei­se für al­le aus­gibt und tat­säch­lich im­mer mehr „auf Li­nie“ bringt (so oder so). Es geht je­den­falls nicht nur ein paar Unterscheidungs‑, son­dern auch ein paar Grund­ver­mö­gen, die man im Fal­le ih­res de­fi­ni­ti­ven Ver­lusts wo­mög­lich nur noch ar­chäo­lo­gisch ber­gen kann.

    Mehr als um die Er­mäch­ti­gun­gen der Viel­zahl der Stim­men (die, das zeigt sich ja ge­ra­de, ten­den­zi­ell ih­re ei­ge­ne Neu­tra­li­sie­rung oder Ein­he­gung als leicht über­wach­ba­re Ob­jek­te be­sor­gen), mehr als um neue Ge­schäfts­mo­del­le für al­te Ho­hei­ten, geht es doch um Be­sin­nun­gen, um die Mög­lich­keit der Ein­sprü­che, die Ver­nunft (manch­mal eben erst ei­ne, die sich au­ßer­halb stel­len muss) oder eben ein „Idi­ot“ viel­leicht noch ge­ben kann. (Oder eben muss, als sei­ne ihm zu­fal­len­de Funk­ti­on).

    Ich den­ke je­den­falls nicht, dass man die­se Din­ge – und auch Bo­tho Strauß selbst – mit Ver­däch­ti­gun­gen auf ein zu be­lä­cheln­des Gut­men­schen­tum oder ei­ne ver­jähr­te po­li­ti­sche Ver­or­tung er­le­di­gen kann. Wie „ideo­lo­gisch“ ver­däch­tig das nun wie­der ist, weiß ich nicht, aber was wä­re heu­te nicht auch ideo­lo­gisch ver­däch­tig?

    Mich stört an dem Plu­ri­mi-Text al­les mög­li­che, aber dass so je­mand wie Strauß, aus sei­ner Po­si­ti­on bald gar nicht mehr ge­hört wer­den könn­te, fän­de ich an sich be­denk­lich. Es be­deu­te­te letzt­lich, dass all die schö­ne neue bun­te Viel­falt der Mas­se­ner­mäch­ti­gung schon zer­stö­re­ri­scher ist als das, was sie ein­mal – wie im­mer auch selbst­ver­ken­nend – auf­bau­en woll­te. Und wenn dem­nächst tat­säch­lich „kri­ti­sche“ nur noch sich selbst stär­ken­de Mas­sen oder „Schwär­me“ ent­stün­den, fän­de ich das sei­ner­seits, ge­wis­ser­ma­ßen „bio­lo­gi­stisch“, höchst ver­däch­tig. Ei­ne aus Igno­ranz pas­sie­ren­de Aus­lö­schung gan­zer Ar­ten, ei­ne Ver­ar­mung an al­lem mög­li­chen er­le­ben wie täg­lich und so­wie­so.

    (Auch ein Nach­satz zu Lo­bo: Ich fin­de Ekel und ihn auch noch zu äu­ßern über­haupt kei­ne apo­li­ti­sche Re­gung, im Ge­gen­teil. Die Pseu­do-Ver­nunft un­se­res In­nen­mi­ni­sters und die Prag­ma­tik an­de­rer Ohn­mäch­ti­ger sind ei­gent­lich apo­li­tisch: Sie sind in der Kon­se­quenz ei­ne Selbst-De­le­gi­ti­mie­rung. Lo­bo ar­ti­ku­liert das, und er hat in der re­al exi­stie­ren­den Öf­fent­lich­keit ein min­destes Ge­wicht. Das ist im­mer­hin was.)

    @ die_kalte_Sophie

    Bin mir nicht si­cher, ob sich mir der ein­ge­wand­te Ge­dan­ke ganz er­schließt: Kann En­ga­ge­ment über­haupt ir­gend­wie ver­jäh­ren? Bloß weil al­les ein biss­chen kom­pli­zier­ter und un­über­sicht­li­cher ge­wor­den ist?

    Die Ver­pflich­tung, und sei es nur die der „Zeit­ge­nos­sen­schaft“, bleibt eh – schon im ge­ring­sten so­zia­len Um­gang mit­ein­an­der, Ma­nie­ren, Ge­set­ze, Ka­te­go­ri­scher Im­pe­ra­tiv. Und wenn man dann noch die Nach­rich­ten ver­folgt, wird es ei­nen nicht aus­las­sen kön­nen. Auch die Zy­nis­men von Dau­er­un­ter­hal­tung oder Sport etc. rei­chen letzt­lich nicht, sei­nen Kopf in den Sand stecken zu kön­nen.

    Und das „Bür­ger­li­che“ und dar­aus fol­gen­de Iden­ti­täts­zwän­ge se­he ich auch nicht: Das, was ich an­spre­che, ist je­den­falls nicht gleich­ge­dacht mit ir­gend­ei­nem frü­he­rem bil­dungs-bür­ger­li­chen An­spruch auf Ver­bes­se­rung der Welt. Al­ler­dings: Ver­bes­se­rung an sich – wo­her soll sie kom­men, wenn nicht aus bes­se­rem Wis­sen und wenn sich nicht ir­gend­wer noch ein mög­li­ches Ge­mein­sa­mes zu for­mu­lie­ren traut?

    Es ist aber auch längst ei­ne Sa­che des Emp­fin­dens bzw. wird ir­gend­wann schlicht fundamental(-ontologisch). Die da­mit ein­her­ge­hen­de, neue­re Art „Welt­schmerz“ neh­me ich je­man­dem wie Strauß rund­weg ab. Und se­he sei­nen An­spruch doch vor al­lem als Künst­ler (wo er eben auch für ei­ne ge­wis­se, sich dort auch ver­la­chen las­sen müs­sen­de Hö­he steht – die an­de­ren sind dann eben wie­der im Un­ter­hal­tungs­sek­tor).

    Auch wenn man mei­ne un­ter Pa­thos­ver­dacht ste­hen­den Zu­schrei­bun­gen weg­lässt, ist er, der Künst­ler (al­so aus­drück­lich auch der „nicht-scha­ma­ni­sche“, der schlicht et­was ge­nau­er den­ken­de), de fac­to der Vor­aus­ge­hen­de – und da ist ein biss­chen Be­wusst­sein für Ver­ant­wor­tung nicht schlecht. (Sol­che Kin­der wie Mee­se u. ä. blei­ben da­ge­gen doch eher Nar­ren und sind, so sie nicht aus ih­ren ver­stie­ge­nen Win­keln fin­den, zu­recht ir­rele­vant.)

    Ich wür­de mich sel­ber scheu­en, mich da ir­gend­wel­chen neu­en Be­we­gun­gen zu­zu­ord­nen (und nen­ne sie erst gar nicht). Aber die­ser Ver­ant­wor­tungs­sa­che ent­kommt so­gar so ei­ner wie ich letzt­lich nicht. (Ich de­fi­nie­re mich nicht als Au­ßen­sei­ter son­dern als Rand­gän­ger.) Und die Ver­ant­wor­tung ist ganz si­cher ei­ne an­de­re als in den 68er oder 89er Zei­ten und fol­gen­den: Das Ge­fühl ist doch im­mer öf­ter drän­gen­de, schwarz se­hen las­sen­de Ge­wiss­heit ge­wor­den (aber doch kein Pes­si­mis­mus): Es steht schlicht im­mer mehr auf dem Spiel.

    Da et­was drän­gen­der und zu­gleich prä­zi­ser zu for­mu­lie­ren und Be­find­lich­kei­ten und Seins-Ge­nau­ig­kei­ten mit Hand­lungs­mög­lich­kei­ten und auch Ver­ant­wort­lich­kei­ten zu­sam­men­zu­brin­gen ist in je­dem Fal­le wei­ter­füh­ren­der.

  6. zu #5

    Ich find schon, dass du ei­ne bür­ger­li­che Po­si­ti­on ein­nimmst. Das passt doch wun­der­bar zu­sam­men: rand­stän­di­ger Mensch, kei­ne Macht, kein An­schluss an ei­ne po­li­ti­sche Be­we­gung, aber hell­wach und äu­ße­rungs­be­reit...
    Ich glaub, man muss kein Nietz­schea­ner sein, um bei Rech­ten wie der »frei­en Mei­nung« ei­ne Falsch­geld­mün­ze zu er­ken­nen. Du kennst ja die Po­le­mik: wenn die Mei­nung ge­fähr­lich wä­re, wä­re sie be­stimmt ver­bo­ten. Du bist viel­leicht 3x so klug wie der Durch­schnitts­mensch, aber nur mit Äu­ße­run­gen kann man kei­ne Ver­än­de­run­gen her­bei­füh­ren.
    Des­we­gen ha­be ich von Zwang ge­spro­chen: man zwingt uns dar­an zu glau­ben, Mei­nun­gen wä­ren wirk­sam. Des­halb glau­ben wir, dass ein »rhe­to­ri­sches En­ga­ge­ment« mög­lich ist. Nichts für un­gut, ich glau­be das ist Hum­bug.

  7. Das Bür­ger­li­che – ge­schenkt. (Gibt es heu­te ir­gend­was Nicht-Bü­ger­li­ches? Ich emp­fin­de es nicht mal mehr als de­nun­zie­rend.)

    Das »Rand­gän­ger­tum« nur, um mich in die­sem Ge­spräch sel­ber zu ver­or­ten, auch in mei­nen Wi­der­sprü­chen. (Und als al­so, letzt­li­che, po­li­ti­sche Im­po­tenz. „Ich bin ein Be­woh­ner des El­fen­bein­turms.“ Üb­ri­gens neh­me ich mir schon län­ger vor, öf­ter mal den Mund zu hal­ten und es ge­lingt auch.)

    Auf „Links-Rechts“ lass ich mich nicht mehr ein: All­zu oft ist das Lin­ke das neue Rech­te (und um­ge­kehrt). Mit „Mei­nung-Dei­nung-Sei­nung … wär sie ver­bo­ten“ hast Du viel­leicht so­gar Recht – es kommt kaum noch drauf an. Aber Du ver­säumst die Al­ter­na­ti­ve zu nen­nen. Und oh­ne Äu­ße­run­gen könn­test Du nicht mal die Dei­ner Ge­sin­nung Ähn­li­chen ver­or­ten, die, die Dich in Dei­nem Al­lein­sein dann trö­sten.
    (Au­ßer­dem äu­ßern sich Men­schen un­ent­wegt, das ist schlicht die haupt­säch­li­che Wei­se ih­res Welt­be­zugs.)

    Wo­für ich plä­die­re, ist ja nur, dass bit­te auch „der Idi­ot“ noch vor­kom­men muss ge­gen die Lau­en und die Bes­ser- und Im­mer-schon-al­les-Wis­ser und die Be­sitz­stands­wah­rer und die vie­len kon­tur­lo­sen Vie­len. „Rhe­to­ri­sches En­ga­ge­ment“ klingt da für mich eher wie vor­sätz­li­che Ver­harm­lo­sung. (Wenn mei­ne Mei­nung auch nie­mand in­ter­es­sie­ren braucht.)

    Der Punkt ist, dass es heu­te noch ge­nug Raum gibt (me­dia­len, nicht völ­lig ein­di­men­sio­na­len, von der Main­stream-Zen­sur-über­form­ten Raum), der aber durch Ef­fek­te, die ob des ra­sen­den Wan­dels (oder Still­stands) kaum durch­schaut sind, schon ein­ge­schränkt wir­ken. Der Raum ist al­so be­droht, dar­auf könn­te man Strauß – un­zu­läs­sig – re­du­zie­ren. (Und ist das nicht ei­gent­lich ei­ne lin­ke Po­si­ti­on? Die Rech­ten schrei­en im­mer Frei­heit, schrän­ken sie aber auch im­mer be­den­ken­lo­ser ein.)

    Der Punkt ist, dass der Idi­ot mehr und mehr ge­braucht wird.
    Dass ob un­se­rer Schein­frei­hei­ten und 1‑Klick-Be­quem­lich­kei­ten im­mer drin­gen­der vor Ein­för­mig­kei­ten ge­warnt wer­den muss.
    Dass es noch Leu­te mit Di­stanz zu der Ra­se­rei braucht, dass sie zu Ge­dan­ken kom­men.
    Dass es Men­schen gibt, die die Un­ge­heu­er­lich­kei­ten aus­spre­chen: Das Un­ge­heu­er­li­che, das ei­ne bei al­lem Cha­os um sie her­um gei­stig oft zu­neh­mend un­durch­läs­sig er­schei­nen­de Ge­sell­schaft wie die­se viel­leicht braucht.

  8. Na­tür­lich be­triebt die »Mas­se­ner­mäch­ti­gung« auf ih­re Art ei­ne an­de­re Ein­eb­nung von Plu­ra­li­tät. Das kann ja gar nicht an­ders sein. Und auch hier bil­den sich Struk­tu­ren, die wie­der­um Tür­hü­ter­funk­tio­nen zur Fol­ge ha­ben. Al­so Hier­ar­chien. Das geht nicht an­ders. Ich bin ziem­lich si­cher, dass Strauß dies ahnt, aber nicht weiss. Sein Un­be­ha­gen an und in der (Netz-)Kultur ist nicht aus ei­ge­ner An­schau­ung (An­le­sung), son­dern eher ein dif­fu­ses Res­sen­ti­ment. Hier­in se­he ich die Ge­fahr, eben weil auch ich Sym­pa­thien für den Idio­ten Strauß und sei­ne re­ak­tio­nä­re Sicht ha­be: Wenn er denn ge­hört, ge­le­sen, kom­men­tiert wird dann ir­gend­wann nur noch als Exot, als Ali­bi, Fei­gen­blatt für ei­ne sich plu­ra­li­stisch ge­ben­de Ge­sell­schaft, die in Wirk­lich­keit den Di­ri­gis­mus nur mit Pseu­do-To­le­ranz (und Pseu­do-Trans­pa­renz – aber das wä­re ein an­de­res The­ma [By­ung-Chul Han]) ca­mou­fliert.

    Ich ha­be ge­stern Strauß’ Buch »Lich­ter des To­ren« er­hal­ten. Zu­nächst be­ein­druckt ein­mal das Co­ver – der Ef­fekt, der um den Ti­tel er­zeugt wird, ist be­ab­sich­tigt:

    Das Buch sel­ber um­fasst rd. 175 Sei­ten. Es sind apho­ri­sti­sche Sen­ten­zen, die ir­gend­wie zu­sam­men­ge­hö­ren – und auch wie­der nicht. Ein­zel­ne Ab­sät­ze aus dem »Plu­ri­mi-Fak­tor« tau­chen auf; sind manch­mal va­ri­iert oder aus­führ­li­cher. Sie durch­zie­hen das gan­ze Buch. Es gibt na­tür­lich grö­ße­re Di­ver­si­fi­ka­tio­nen zu den ein­zel­nen The­men­fel­dern. So be­schäf­tigt sich Strauß aus­gie­big mit Do­sto­jew­skis Mysch­kin (dem »Idio­ten«).

    Wie bei al­len apho­ri­sti­schen Bü­chern ist man ge­neigt, die Schön­hei­ten der Sät­ze her­aus­zu­stel­len, sie so­zu­sa­gen dem Buch zu ent­rei­ßen. Das fällt um­so leich­ter, als es schein­bar kei­ne strin­gen­te es­say­isti­sche Form gibt. Strauß be­müht sich aber, sich nicht in Schön­heit zu er­schöp­fen. Ein Bei­spiel steht auf Sei­te 11: Die Blö­ße, die sich der Idi­ot gibt, er­schreckt wie je­de Epi­pha­nie durch Un­ver­ständ­lich­keit. Ein wun­der­ba­rer Satz. Aber es gibt so­fort ei­nen, zwei Wi­der­ha­ken: Ei­gent­lich woll­te er nur den Saum des an­de­ren küs­sen, so­bald er sprach. Sei­ne Ge­gen­wart woll­te er eh­ren. Da­bei kam Un­ver­ständ­li­ches über sei­ne Lip­pen, und der an­de­re wich zu­rück. Strauß my­sti­fi­ziert sei­ne Be­mer­kun­gen im­mer wie­der. Er kann nicht wi­der­ste­hen, sie mit enig­ma­ti­schen Aus­füh­run­gen ei­ne ge­wis­se Schwe­re zu ge­ben.

    Nur sel­ten wir er deut­lich: Wer sich an tech­ni­schen Neue­run­gen be­rauscht, ist ein Schwach­kopf. Wer sich ih­rer zu be­die­nen ver­steht, iat ein All­tags­mensch, aus dem noch ein­mal et­was Be­son­de­res wer­den könn­te wie zu al­len Zei­ten. (Un­klar bleibt, was »Be­son­de­res« sein könn­te.) Es geht wei­ter mit ei­nem Lob des Ana­chro­ni­sten. Leu­te wie Höl­der­lin, Kel­ler, Heid­eg­ger, Jün­ger – die, in Zeit­wid­rig­keit ge­faßt, zu über­zeit­lich gro­ßen Ent­wür­fen ge­lang­ten. Kel­ler?

    Im­mer wie­der An­klän­ge an das Netz (Sei­te 33): 600 Mil­lio­nen Netz-Au­toren brau­chen kein Buch – sie fül­len Rück­stän­de von Schon-Ge­schrie­be­nem in ein Un­buch. Das ist – mit Ver­laub – in die­ser Pau­scha­li­sie­rung ein voll­kom­me­ner Blöd­sinn. Es geht aber wei­ter: Von Mas­sen­be­we­gun­gen fas­zi­niert, un­ter­schlägt der in­tel­lek­tu­el­le Göt­zen­dienst vor dem Po­pu­lä­ren die ba­na­le Er­fah­rung, daß die­se An­ru­fung, im­mer der Quo­te nach, stets An­pas­sung nach un­ten ver­langt. Still­schwei­gend wird der Netz-Au­tor als Quo­ten­jun­kie gleich­ge­setzt – nur weil er auf Le­ser­schaft aus ist.

    Ab­ge­setzt un­ter die­sem Ka­pi­tel steht dann (im­mer noch Sei­te 33): Wir an­de­ren müs­sen neue un­zu­gäng­li­che Gär­ten bau­en! Zu­rück zur Avant­gar­de! Das klang schon im Spie­gel-Text an. Strauß denkt kurz über das Füh­rer-Prin­zip und den Ge­or­ge-Kreis nach, kommt dann aber zu dem Schluß: Den Füh­rer gibt es nur noch als schrä­ge Fi­gur – in ei­nem ab­we­gi­gen Staat oder ei­ner pa­ra­no­iden re­li­giö­sen Sek­te. Ein gei­sti­ges My­zel in­des­sen, ei­ne un­ter­grün­di­ge Ver­bun­den­heit, ein aus­schlie­ßen­des Prin­zip wä­re wohl dien­lich der Ab­wehr an­ma­ßen­der Dürf­tig­keit.

    Wie ge­sagt, es gibt ei­ne Fül­len von Er­hel­len­dem (ich ha­be das Buch erst an­ge­le­sen) – zum Bei­spiel: Der Ein­zel­nen und sein poe­ti­sches Reich – ge­grün­det im neun­zehn­ten Jahr­hun­dert, nie­der­ge­gan­gen im zwan­zig­sten, nur noch ein Mär­chen in un­se­ren Ta­ge. (Wirk­lich? Ach!) Wei­ter: We­der der Ein­zel­nen noch letzt­lich die ho­he Kon­zen­tra­ti­on im ex­klu­si­ven Kreis schei­nen ge­eig­net für kraft­vol­le und her­ri­sche Un­zeit­ge­mäß­heit, ab­seits der di­gi­ta­len Mil­lio­nen­scha­ren, die den Ad-hoc-Sou­ve­rän ge­ne­rie­ren. Da­für ge­schieht je­dem sei­ne Un­zeit­ge­mäß­heit Tag für Tag bei­nah un­frei­wil­lig. Et­was in sei­nem Han­deln, Den­ken, Emp­fin­den und Sprach­ge­brauch ist mit Si­cher­heit h e u t e von ge­stern. (Sei­te 41)

    Nein, es geht nicht dar­um, Strauß die­se Mög­lich­keit zu neh­men. Das wird es auch in Zu­kunft nicht ge­ben; sei­ne Wort­ge­wandt­heit wird im­mer ein Ma­ga­zin fin­den. Dass es Es­say­isten wie Strauß bzw. in der Spra­che von Strauß nicht mehr ge­ben wird – ist dies die Schuld der »di­gi­ta­len Mil­lio­nen­scha­ren«? Viel­leicht kom­men ja sei­ne An­grif­fe noch ge­gen die Ni­vel­lie­rung von et­was wie Bil­dung…

    Ja, auch ich glau­be, dass der Idi­ot ge­braucht wird. Aber er muss mehr kön­nen als der Netz­schwär­mer, er muss sich nicht als Nörg­ler po­si­tio­nie­ren, der schön or­na­men­tal schrei­ben kann. Mir fehlt da – um es platt zu sa­gen – ein biss­chen die Sub­stanz.

  9. zu #7
    Ich bin mit al­lem ein­ver­stan­den, die wich­tig­ste Funk­ti­on der Kom­mu­ni­ka­ti­on ist wohl die Aus­kund­schaf­tung von Ähn­li­chen und die Fest­stel­lung von Schnitt­men­gen.
    Dies funk­tio­niert nur auf di­rek­ten Ka­nä­len, führt zu klei­nen Grup­pen und Freund­schaf­ten, Ver­bin­dun­gen kon­struk­ti­ver und (ethisch) stär­ken­der Art.
    Was lehrt die schwü­le Wol­ken ein­fäl­ti­ger Bot­schaf­ten über un­se­ren Köp­fen?!
    GENAUSO funk­tio­niert die Ge­sell­schaft, die Po­li­tik, die öf­fent­li­che Be­tei­li­gung!
    GENAUSO lau­tet ihre/unsere Uto­pie!
    Das ist ei­ne Frech­heit, die wohl nur durch »un­barm­her­zi­ge Ge­nau­ig­keit« und ein »über­mensch­li­ches Maß« von Ge­duld ab­ge­baut wer­den kann, denn: ge­nau­so funk­tio­niert sie nicht, und zwar schon ei­ne gan­ze Wei­le lang...
    In­des bin ich ganz auf dei­ner Sei­te, die Rech­te von El­fen­bein­turm-Be­woh­nern müs­sen ge­stärkt wer­den. Das könn­te z.Bsp. ein Slo­gan sein!
    P.S.: das Ge­sei­her der­je­ni­gen Min­der­hei­ten, die re­gel­mä­ßig ih­re Lob­by lär­men las­sen, geht mir in­zwi­schen so was von auf den Sen­kel, das ich es auf kul­ti­vier­te Wei­se nicht aus­zu­drücken ver­mag. Auch da wür­de ich »un­er­schrocken« nach­fra­gen. –Was ge­nau habt ihr zu ver­lie­ren, au­ßer der Tat­sa­che, dass ihr »an­ders« seid?! Ich ha­be das schar­fe Wort vom »Iden­ti­täts­ter­ror« ge­prägt. Und ich träu­me da­von, den Spieß um­zu­dre­hen. Schwa­che Iden­ti­tä­ten ter­ro­ri­sie­ren, das ist mein Ding.

    Ach, ja! Ver­ges­sen: der Idi­ot ist fast schon ei­ne lo­gi­sche Kon­se­quenz. Bei­spiel, mein Nach­fra­gen bei Macht­spiel­chen. Das ist we­der links noch rechts zu ver­or­ten. Da muss ein Idi­ot die Fra­gen stel­len!

  10. zu #8
    Dan­ke für die wei­ter­füh­ren­de Be­trach­tung. Es stimmt, Strauss kommt leicht alt­backen da­her, so ele­phan­tig. Er scheint nicht ge­nau zu wis­sen, wo er hin­will. Man er­kennt im­mer das Ab­stands­be­dürf­nis, die Groß-Gei­ster-Ver­eh­rung, raf­fi­nier­te exo­ti­sche Wen­dun­gen, etc. Ich werf mal den Be­griff der Grup­pe in den Raum: dass Er, Du, Ich, etc. ei­ner ei­ge­nen Spe­zi­es an­ge­hö­ren und nicht-tri­via­len exi­sten­zi­el­len Be­din­gun­gen un­ter­lie­gen, scheint ihm nicht über die Lip­pen zu kom­men. An­ders: Ab­gren­zen macht Spaß, In­tel­li­gent-Sein, Geist-Sein, etc. ist das ho­he Ziel. Der Weg kann aber kei­nen He­ro­is­mus be­inhal­ten, weil Ein­sam­keit Schei­ße ist, und nie­mand nur für sich al­lei­ne lebt. Die­ses ur­sprüng­li­che Ver­ge­ben-Sein an die Mensch­heit, die Ge­sell­schaft, oder sonst so’n Ver­ein, ist ein ma­so­chi­sti­sches To­pos, das ab­ge­schafft ge­hört. Flott aus­ge­drückt: WIR ge­hö­ren UNS!

  11. @ G. K.

    Mir kommt es manch­mal so vor, als ob Strauß’ Ehr­geiz als Sprach­künst­ler ei­ner­seits und als ei­ge­ner „Kreis“-Begründer an­de­rer­seits sei­ner In­tel­li­genz in die Que­re kom­men. Er kann die gu­te for­mu­lier­te Ein­sicht dann nicht ein­fach ste­hen las­sen, und er hängt ihr noch ei­nen Schlen­ker dran, der sei­ne Ana­ly­se wohl ins Wei­te öff­nen soll, de­ren Wirk­kraft aber un­ter­mi­niert.

    Dass er nicht weiß, was er tut, glau­be ich aber nicht. So je­mand kennt sich sel­ber sehr gut und wird da auch nicht be­stech­lich sein. (Der Rest, das Rau­nen – das me­dia­le Klap­pern – ge­hör­te dann in meh­re­rer Hin­sicht eben zum Hand­werk.)

    Als „Re­ak­tio­när“ se­he ich ihn ei­gent­lich über­haupt nicht (mehr) – das hie­ße auch Vo­ka­bu­lar von Leu­ten auf­zu­neh­men, von de­nen sonst nichts mehr kommt und de­nen ich mich längst auch noch fer­ner füh­le. Dass Strauß als Dich­ter Zeit­dia­gno­stik aber auch nicht ge­nü­gen kann, ver­ste­he ich auch.

    Ja, und wor­auf der mit den „Lich­ter des To­ren“ aus ist, geht mir jetzt auch nicht gleich auf. Ich ha­be sei­ne Me­ta­mor­pho­sen ja über die Jah­re ein biss­chen be­glei­tet – und meist mit- wenn auch nicht im­mer nach­voll­zie­hen kön­nen. Das An­sin­nen steht mir nicht zu, aber mir ist, ihm tä­te mal wie­der ei­ne an­de­re Art „Rück­bin­dung“, näm­lich an ganz durch­gän­gig ge­ar­bei­te­te, klas­sisch er­zäh­le­ri­sche Pro­sa gut. Viel­leicht ist das Sen­ten­ziö­se, das ihm mitt­ler­wei­le ja auch ab­ver­lang­te Zeit­dia­gno­sti­sche mitt­ler­wei­le ir­gend­wie auch zu sehr ein ea­sy-way-out – ei­ne künst­le­ri­sche Fal­le?

    (Der Ver­gleich ist ganz si­cher un­ver­ant­wort­lich und ich ent­schul­di­ge mich auch so­fort da­für, aber so wie ein Böll ir­gend­wann die An­trä­ge zu sei­ner mo­ra­li­schen In­stan­zen­haf­tig­keit leid war und sich im – lei­der dann eher miss­lun­ge­nem – Schrei­ben wie­der fin­den woll­te, wür­de Strauß ein Ro­man auf ei­ner ge­wis­sen Hö­he viel­leicht gut ste­hen: Al­le wie­der mit ei­nem kraft­vol­len Buch über­ra­schen, in der er sei­ne Frag­men­tie­run­gen ge­stal­tet zu­sam­men­fügt? Ich ver­ste­he, dass er wei­ter woll­te, emp­fin­de es aber doch so, dass sein Ver­mö­gen oh­ne die Hür­de ei­ner gro­ßen Form lei­det und ver­liert.)

    ALLERDINGS: Mit „epi­pha­ni­scher Un­ver­ständ­lich­keit“ ist er da na­tür­lich auch in ganz an­de­ren Re­gio­nen, beim Er­ha­be­nen, beim Nu­mi­no­sen, Neo-Re­li­giö­sen. (Viel­leicht bei Mar­tin Mo­se­bach? In dem Bei­spiel aber: „my­sti­fi­ziert“ Strauß da viel­leicht we­ni­ger, wie Sie es nen­nen, als dass er – Thea­ter­au­tor – sie sze­nisch-ge­stisch zu er­wei­tern sucht?)

    In je­dem Fall be­rührt er, der sich um­wid­men­de Ana­chro­nist, da Din­ge, für die es au­ßer den über­lie­fer­ten oder von dort in­spi­rier­ten For­men nur schwer­lich oder gar kei­ne mo­der­nen gibt. (Oder viel­leicht doch? In der bil­den­den Kunst gibt es sie im­mer­hin. Bei An­selm Kie­fer und Bar­nett New­man, die­se Rich­tung et­wa – und die wur­de auch oft um­schrie­ben. Und au­ßer­dem nicht auch in, wenn nicht „avant­gar­di­sti­scher“ dann aber in der Dich­tung? Des­halb der Rück­griff – oder die Rück­bin­dung – auf Höl­der­lin und den „vom Grun­de“ her spre­chen­den Heid­eg­ger.)

    Letzt­lich ver­läuft da – und an­schei­nend will er sich ja eben dort auf­hal­ten – sei­ne von ihm an­vi­sier­te und er­reich­te, aus sei­ner Sicht schlüs­si­ge äs­the­ti­sche Front. Um die Nach­hut kann er sich da nicht mehr groß küm­mern. Und auch Mysch­kin ist ja da kon­se­quent.

    Das wä­ren al­so mei­ne zwei Hal­tun­gen zu Strauß, zwi­schen de­nen ich schwan­ke.

    Wer mir auch im­mer öf­ter ein­fällt – und er wur­de ja ge­nannt, es wür­de ja auch au­ßer­sprach­lich, in der Selbst­sti­li­sie­rung des gro­ßen Schwei­gen­den, der vom Rand her manch­mal her­ein­ruft pas­sen – ist eben Ste­fan Ge­or­ge und sein „Kreis“.

    (Ich wüss­te es ge­ra­de nicht, aber ge­nau die­ses Wort müss­te Strauß ei­gent­lich ak­zep­tie­ren kön­nen, inkl. »Zeit­wid­rig­keit«, »gro­ße Ent­wür­fe« – das ist nichts für al­le. Wo­mög­lich sieht er sich da so­gar in ei­ner Erb­fol­ge? Und ich mei­ne das nicht un­ter­stel­lend. Ge­stern ge­le­sen, es gibt mehr und mehr, als Strö­mung ei­nes aus­drück­li­chen Fe­mi­nis­mus, mo­der­ne He­xen. Im Rol­len­re­per­toire ist der Kreis und sei­ne ein­ge­weih­ten Jün­ger so gut wie die an­de­ren an den Haa­ren her­bei­ge­zo­ge­nen Rol­len auch.)

    Und Füh­rer? Ziem­lich kon­ta­mi­nier­tes Ge­län­de. Ich wür­de Strauß ger­ne Mut at­te­stie­ren ge­wis­ser­ma­ßen als ei­ner der We­ni­gen noch sol­che gei­stig-in­tel­lek­tu­el­len no-go-are­as zu be­tre­ten. Aber es scheint, er kommt nicht mehr in je­dem Fall von dort mit Ge­win­nen zu­rück. („Je mehr Hei­lig­keit, de­sto mehr Ge­läch­ter“ um La­can et­was ab­zu­wan­deln.)

    Ich mer­ke an sol­chen Stel­len auch, wie fremd Strauß mir doch zu­letzt ist, ob­wohl er eben ei­ner der letz­ten Her­aus­for­dern­den auf dem spe­zi­ell das Deut­sche um­krei­sen­den ist. Das sind Din­ge, vor de­nen ich mich sehr lan­ge ge­drückt ha­be, weil da al­les nur noch hohl klang, selbst das, was ich hät­te für mich ak­zep­tie­ren kön­nen.

    600-Mil­lio­nen et­was ab­zu­spre­chen ist na­tür­lich auch blan­ke Chuz­pe – oder wil­lent­li­che Ver­ken­nung? Dass den neu­en Geist (oder ei­nen neu­en Höl­der­lin) da nie­mand su­chen kann, heißt ja nicht, dass es ihn nicht gibt. Al­lein die Un­ab­seh­bar­keit des Net­zes ist in ei­ner dich­ter und en­ger ver­stell­ten Welt eben für vie­le auch ein Ho­ri­zont, ein Welt­zu­gang, der sich un­auf­hör­lich öff­net. Dass sich da auch im­mer was fin­den lässt müss­te ei­gent­lich auch ein Bo­tho Strauß se­hen. (Der sich ja si­cher im Netz be­wegt und ent­spre­chen­de Er­fah­run­gen macht, selbst wenn er die Hür­den hö­her legt als al­le an­de­ren.)

    Ja, und von der „An­pas­sung nach un­ten“, der be­kann­ten „Her­un­ter­de­mo­kra­ti­sie­rung“, kann er nicht las­sen – Strauß ist eben auch ei­ne Mar­ke. Aber mit dem Re­flex ist er ja nun längst nicht mehr al­lein.

    Ja, Strauß fin­det wohl wei­ter sei­ne Zei­tungs­sei­ten – aber er spricht ja hier auch für an­de­re, ge­gen ei­ne Ten­denz. Was ich ihm an­krei­de, ist, dass er die vie­len Ge­gen­bei­spie­le, die Aus­nah­men, die Ge­gen­trends, die Ar­beit der ja auch vie­len­vie­len Ein­zel­nen un­ter den Tep­pich kehrt. Der Quo­ten­ter­ror wird hof­fent­lich bald sei­ne Kin­der fres­sen. Die an­de­ren „Idio­ten“, die Her­de in der Ge­sell­schafts­mit­te, die es als „kri­ti­sche Mas­se“ für den Kon­sum und Sta­bi­li­tät der Ver­hält­nis­se die braucht, sind ja heu­te auch schon als Hin­der­nis für fäl­li­ge Ver­än­de­run­gen be­nannt. Wenn es dann tau­sen­de Un­ter­hal­tungs­pro­gram­me gibt, ist auch die Quo­te viel­leicht ir­gend­wann hin­fäl­lig. Nicht um­sonst ge­hen die Re­kla­me­at­tacken ja heu­te schon von den Müll­ton­nen aus. (Das ist als ak­tu­el­les Bei­spiel wie aus ei­ner P.K. Dick Sto­ry doch zu be­zeich­nend.)

    (Sor­ry für die gan­ze Sua­da – es fie­le mir so­gar noch viel mehr ein! Was das wohl be­deu­tet… )

  12. @die_kalte_Sophie

    Ich glau­be, das mit der Uto­pie ha­be ich nicht ver­stan­den.
    Und hat­test Du Dich nicht ge­gen Iden­ti­tä­ten aus­ge­spro­chen? (»Iden­ti­täts­ter­ror« und »Die­se Iden­ti­tät, um es deut­lich zu­sa­gen, hal­te ich für ei­ne Miss­ge­burt der Mo­der­ne.«)

    Was ist der Punkt dar­an, »schwa­che Iden­ti­tä­ten zu ter­ro­ri­sie­ren«?
    Mit wel­cher Ziel­rich­tung? Mit wel­chen Waf­fen ge­gen wen?

    (Sind kei­ne rhe­to­ri­schen Fra­gen – ich kapier’s wirk­lich nicht.)

  13. zu #13
    Rich­tig, ha­be mich ge­gen Iden­ti­tä­ten aus­ge­spro­chen. Län­ge­re Ge­schich­te, kann ich hier nur kurz er­klä­ren.
    Der so­zi­al­psy­cho­lo­gi­sche Be­griff der Iden­ti­tät grün­det auf der Zu­ge­hö­rig­keit zu Grup­pen. Die Iden­ti­tät steht syn­onym für al­le vi­ru­len­ten An­tei­le der Iden­ti­tät.
    Es gibt auch aber Pseu­do-An­tei­le, die rei­nen Rol­len­cha­rak­ter ha­ben, an die al­so streng ge­nom­men nie­mand glaubt. Es sind Ob­struk­tio­nen der Zi­vi­li­sa­ti­on, Zu­mu­tun­gen, Ver­pflich­tun­gen...
    Ich zähl mal auf so ein paar Pseu­do-Iden­ti­tä­ten auf, dann wird es rasch klar:
    —Ar­bei­ter, Bür­ger, Va­ter, Deut­scher, Li­be­ra­ler, etc.
    Ech­te Iden­ti­tä­ten bzw. Iden­ti­täts­an­tei­le:
    —Künst­ler, Wis­sen­schaft­ler, Sport­ler, Christ, SPD-ler, Fa­mi­li­en­va­ter, etc.
    In­ter­es­sant die Re­ak­ti­on von Gre­gor, als ich ihn und Bo­tho Strauss zu­sam­men mit mir selbst in ein Künst­ler-Boot ge­setzt ha­be: (s.o.) Ma­gen­schmer­zen.
    Soll kei­ner be­haup­ten, das wä­re nur ne Theo­rie, oder?!
    Zu­rück zum The­ma: die Alt­vor­de­ren sind Mei­ster in der Ver­schleie­rung ih­rer »Iden­ti­tät«, ein geist­rei­ches aber we­nig fort­schritt­li­ches Spiel mit Rol­len und Zu­ge­hö­rig­kei­ten im no­mi­nel­len Stil der Ab­strak­ti­on. Oh, Spra­che, oh Dun­kel­heit! Nichts ge­gen Spie­le, aber die wis­sen oft nicht so ganz ge­nau, was sie zwickt und treibt.

  14. zu #13, die zwei­te
    Ent­schul­di­ge mich für mei­ne klei­ne sa­di­sti­sche Phan­ta­sie, in der Tat hät­te ich Mü­he, kon­kre­te Ter­ror­pro­jek­te vor­zu­schla­gen.
    Ha­be ver­sucht, zum Aus­druck zu brin­gen, wie sehr mich der li­be­ra­le Fe­tisch des Min­der­hei­ten­schut­zes stört, da Min­der­hei­ten ent­we­der eth­ni­schen, se­xu­el­len oder re­li­giö­sen Cha­rak­ter ha­ben, in je­dem Fall al­so nur ein schma­ler Teil, ein meist schwach kon­tu­rier­ter Teil des En­sem­bles »Iden­ti­tät« sind.
    Um­ge­kehrt kommt mir ei­ne kul­tur­po­li­ti­sche Ver­tre­tung et­wa von »Ho­mo­se­xu­el­len«, von »Ro­mas« oder von »Mus­li­men« fast un­recht­mä­ßig vor. Ich glau­be an kein Ex­per­ten­tum, an kei­ne Neo-Rit­ter­lich­keit bei die­sen Für­spre­chern, ich bin ge­neigt, das für ei­ne Usur­pa­ti­on zu hal­ten, sa­gen wir, so wie die CSU die baye­ri­sche Chri­sten­heit ver­tritt.
    Zu­rück zum The­ma: all­mäh­lich wird das schwar­ze Loch deut­lich, hof­fe ich, das ich in ei­nem »Funk­tio­när«, ei­nem sin­gu­lä­ren Für­spre­cher na­mens Idi­ot zu ent­decken mei­ne. Wer tritt hier für wie­vie­le Leu­te ein, und was ge­nau ha­ben die zu ver­lie­ren?!
    Strauss kann man mit mei­nem So­zio­gramm nicht ana­ly­sie­ren, das wird hof­fent­lich klar. Er schreibt tra­di­tio­nell »...von Bo­tho ali­as Der-IDI­OT, für al­le und kei­nen...«.
    Die Kri­tik, die ich da­mit verbinde?!–Fehlt je­de Men­ge Welt, wenn man so schreibt. Kri­tik des Stils. Kri­tik an sei­ner Ma­che.

  15. @ die_kalte_Sophie

    Ob­wohl ich mit ei­ni­gen Dei­ner Aus­sa­gen sym­pa­thi­sie­ren könn­te, wä­re es hier wohl der fal­sche Platz, das her­aus­zu­ar­bei­ten und zu prä­zi­sie­ren.

    Der „Idi­ot“ aber, in dem bis­lang be­han­del­ten Strauß’schen Sin­ne, hat ja, ob­wohl er mit dem An­spruch an­tritt für al­le zu spre­chen, eben die Wür­de – oder so­gar den Sta­tus – dass er das erst ein­mal nur für sich tut, von sei­ner oft be­wuss­ten Au­ßen­po­si­ti­on her. Erst das macht ihn auch für mich sin­gu­lär und dar­in so ver­tei­di­gungs­wert. Er muss sich nie­man­dem ab- oder an­glei­chen.

    Ich se­he ihn in Dei­nem Sin­ne auch nicht als schwa­che Iden­ti­tät – er wä­re ei­ne, die die­sen gan­zen Cha­rak­te­ri­sie­run­gen eher we­ni­ger un­ter­liegt.

    Noch ein­mal stark (und al­so falsch) ver­ein­facht: Der Narr sagt in je­dem Fall die Wahr­heit und hat das Recht da­zu, auch wenn die­se mit kei­ner an­de­ren Wahr­heit in kei­ner an­de­ren „Iden­ti­tät“ zu­sam­men fällt. Und ge­nau das wä­re sei­ne a-/so­zia­le Kraft, die wie­der Ge­mein­schaft schafft.

    Was mir ge­stern noch ein­ge­fal­len ist, ich aber nicht aus­ge­führt ha­be, ob­wohl es mich da­zu dräng­te, ist sei­ne struk­tu­rel­le Ver­wandt­schaft mit dem Sün­den­bock – bit­te hier nach­le­sen.

    Da­zu pass­te dann auch die lei­eb Ge­wohn­heit un­ter Men­schen den Bo­ten für die Nach­richt zu köp­fen, wie es in un­se­rer fa­mo­sen Öf­fent­lich­keit an­dau­ernd von min­der be­mit­tel­ten Gei­stern pas­siert. Der Narr hat dne klei­nen Schutz sei­ner ver­meint­li­chen Un­ernst­haf­tig­keit. Und doch hängt an ihm die grö­ße­re Spreng­kraft.

  16. @herr.jedermann
    Dass ei­nem da­zu so viel ein­fällt, spricht ja für Strauß. Und er hat na­tür­lich mit sei­ner Kla­ge über die fort­schrei­ten­de Ni­vel­lie­rung, Gleich­ma­chung, Her­un­ter­de­mo­kra­ti­sie­rung, die in im­mer an­de­ren Nu­an­cen ak­zen­tu­iert wird, si­cher­lich auch recht. Die Ver­wandt­schaft zu Leu­ten wie Mo­se­bach ist sehr schön ge­se­hen. Und wenn das Wort nicht schon zu sehr kon­ta­mi­niert wä­re, müss­te man es doch brin­gen: Eli­te.

    Das »gei­sti­ge My­zel«, die »un­ter­grün­di­ge Ver­bun­den­heit« – ist das nicht ver­wandt mit Hand­kes frü­he­rem Ide­al des »Volks der Le­ser«? Sucht nicht auch Strauß ei­ne neue Form des Zu­sam­men­le­bens von Ge­mein­schaf­ten? Im Un­ter­schied bei­spiels­wei­se zu Hand­ke ist bei Strauß ei­ne sol­che Ge­mein­schaft aber nicht in­klu­die­rend, son­dern aus­schlie­ßend, d. h. es wird fest­ge­legt, wer nicht da­zu ge­hört. Und sie ist am En­de hier­ar­chisch. Le­gi­ti­miert wür­de sie dann durch ei­ne Art »Test­ver­fah­ren«? (So kommt es mir den Sinn.)

    In­wie­fern sich Strauß im Netz be­wegt – kei­ne Ah­nung. Wenn ich sa­ge, er weiss nicht, was er tut, dann ist das da­hin­ge­hend zu ver­ste­hen, das er der­art pau­scha­le Ur­tei­le ent­we­der nur aus Un­kennt­nis oder aus Pro­vo­ka­ti­on fäl­len kann. Ich glau­be, dass das dif­fu­se Un­be­ha­gen weit­aus stär­ker prä­sent ist als das Wis­sen um den »Geg­ner« (der ja über­haupt nicht ho­mo­gen ist, aber so ge­macht wer­den muss, um ihn in den Or­kus zu be­för­dern). Sein Na­me­drop­ping wirkt mir et­was hilf­los; es fehlt ja nur noch Nietz­sche, aber dann zwei spä­ter ir­re ge­wor­de­ne da­bei (und fast ist es in­ter­es­san­ter zu su­chen, wer feh­len wird [Goe­the? Kaf­ka – si­cher: Kaf­ka ist kein »Idi­ot«]).

    Wo das Ir­di­sche dann Zu­flucht in ei­ne tie­fe Ver­gan­gen­heit neh­men muss, eilt dann zur As­si­stenz das Nu­mi­no­se her­bei (wie Sie rich­tig schrei­ben). Die Mi­schung, die ent­steht, ist schwer an­greif­bar: Wer wi­der­spricht, wird flugs zum Mit­schrei­ber des »Un­buchs«.

    Ich glau­be, dass die Lek­tü­re ist sehr schön. Man wird viel­leicht mit dem Kopf nicken – aber wo­mög­lich un­ter sei­nem (= Le­sers) und sei­nem (= Strauß’) Ni­veau. Es lockt mich nicht ein­mal mehr, dem et­was hin­zu­zu­fü­gen.

  17. @die_kalte_Sophie
    Ich glau­be an kein Ex­per­ten­tum, an kei­ne Neo-Rit­ter­lich­keit bei die­sen Für­spre­chern
    Was Sie so ve­he­ment kri­ti­sie­ren, ist das Sprach- bzw. Po­li­tik­spiel des­sen, was man Plu­ra­lis­mus nennt. Min­der­hei­ten kön­nen Mehr­hei­ten bzw. der Mehr­heit nur durch Zu­sam­men­schluss po­li­tisch und so­zi­al be­geg­nen. Schon, da­mit sie nicht von der Mehr­heit be­vor­mun­det (wenn nicht Schlim­me­res) wer­den.

    Ich möch­te an den gu­ten Kö­nig glau­ben. Aber es ge­lingt mir nicht.

  18. zu #18
    Ja, das stimmt. Ich be­daue­re die Min­der­hei­ten, wel­che dem Plu­ra­lis­mus in die Fal­le ge­hen. Sie müs­sen sich or­ga­ni­sie­ren, »uniformisieren»und so­gar ih­ren Sta­tus als be­droh­te Grup­pe lang­fri­stig ak­zep­tie­ren. Aus der Num­mer kom­men sie dann nicht mehr raus, sie­he U.S.A.
    Ich glau­be, grup­pen­dy­na­misch ist der sog. Plu­ra­lis­mus weit­aus ver­häng­nis­vol­ler als sein »gu­ter Ruf« ver­rät. In mei­nen schlimm­sten Alp­träu­men se­he ich die gan­ze Mensch­heit ganz plu­ra­li­stisch in den je ei­ge­nen Ghet­tos ver­elen­den. Gei­stig ver­elen­den. Dar­auf zielt auch mei­ne Un­etrschei­dung ab, –schwa­che Identität=pluralistisch kon­form, –star­ke Identität=pluralistisch non-kon­form, se­zes­sio­ni­stisch, »ter­ro­ri­stisch«

  19. zu #16
    Den Hin­weis auf Girard, den ich nicht kann­te, fin­de ich span­nend. Dem­nach müss­te Strauss in der po­st­ar­chai­schen Ära den Me­cha­nis­mus des so­zia­len Blitz­ab­lei­ters ver­än­dert ha­ben. Statt sei­ner Per­son be­nennt er ein Pseud­onym »Idi­ot« und stat­tet die­ses mit den Ei­gen­schaf­ten aus, die er be­schreibt, in der Hoff­nung, dass ein kol­lek­ti­ver mime­ti­scher Pro­zess, den wir al­le (zum Teil) als de­struk­tiv er­le­ben, da­mit still­ge­legt wer­den kann.
    Die Ent­fal­tung die­ser Wir­kung fin­det na­tür­lich auf der me­ta­phy­si­schen Ebe­ne statt, d.h. Strauss pas­siert nichts, und uns al­len geht es schließ­lich bes­ser, weil wir et­was klü­ger und auf­merk­sa­mer ge­wor­den sind in un­se­rem kom­mu­ni­ka­ti­ven All­tag, nach­dem wir das Buch ge­le­sen ha­ben.
    Ja, das ist was dran. Das ist un­ge­fähr das Wir­kungs­sche­ma, das dem Strauss’schen In­ter­ven­ti­ons­ver­such zu­grun­de liegt.
    Ob das rea­li­stisch ist, braucht man nicht zu fra­gen, –Me­ta­phy­sik ist nie rea­li­stisch. Ir­ri­tie­rend ist für mich das schi­zo­ide Mo­ment: es han­delt sich um ein recht hoch­wer­ti­ges Op­fer (Strauss per­sön­lich, wenn man die Mas­ke ab­zieht!!), und die­ses soll so­gar ver­ehrt wer­den, und nicht ge­schlach­tet.
    Es ist klar: gro­ße Ge­fah­ren wer­den durch hoch­wer­ti­ge Op­fer ab­ge­wen­det, aber der zwei­te Teil ist un­stim­mig... Das Op­fer kann nicht zu­gleich das Mo­dell sein.

  20. @ die_kalte_Sophie

    Leuch­tet mir nicht ganz ein, Dein skiz­zier­tes Wir­kungs­sche­ma.

    Wie­so soll der „Idi­ot“ (der mir so­wohl als Be­schrei­bung wie als Ter­mi­nus tech­ni­kus einer‑, als an­ti­ki­sie­ren­de Rück­bin­dung auf ei­ne äl­te­re Ge­sell­schafts­ord­nung an­de­rer­seits er­scheint und ein­leuch­tet) ein „Pseud­onym“ sein? Dann wä­re er ja wie­der­um je­mand an­de­res und müss­te erst iden­ti­fi­ziert oder her­aus­ge­ar­bei­tet wer­den. Er ist aber doch ge­ra­de erst be­nannt wor­den. Das ver­ste­he ich nicht.

    Und ich se­he sei­ne Wir­kung auch nicht auf me­ta­phy­si­scher Ebe­ne, son­dern so­gar sehr kon­kret, so­zi­al, da sich an ihm und das, was er von sich gibt, ja al­les mög­li­che ent­zün­det. Das wä­re al­so auch – und nicht erst lang­fri­stig – eher kon­struk­tiv als de­struk­tiv.

    (Ich ha­be mich heu­te kurz ge­fragt, ob nicht Ed­ward Snow­den ein Idi­ot ist – in al­so nicht dem vor­der­grün­di­gen Sin­ne, sich in die Nes­seln zu set­zen, son­dern in dem bes­se­ren Sin­ne, zu­gun­sten des bis­her Un­wis­sen­den von sei­ner In­si­der- in ei­ne Au­ßen­sei­ter­po­si­ti­on zu ge­lan­gen: Als War­ner, als „Se­her“ usw. Denn nicht weit weg von da, vom Künst­ler, Dich­ter oder In­tel­li­genz­ler, lo­ka­li­sie­re ich auch ihn.)

    Ich se­he da ei­ne Ver­schie­bung, weg von sei­ner Per­son zu ei­ner (re­kla­mier­ten oder er­hoff­ten oder von mir aus an­ge­maß­ten) Funk­ti­on. Oder ei­ner Rol­le. Aber doch im­mer noch zum Vor­teil für an­de­re, so­gar noch in der Selbst­ver­ken­nung, die in je­der Rol­le steckt. Die aber auch im­mer nö­tig scheint. Nach mei­ner Les­art – auf die ich ihn hier al­so ein wei­te­res Mal ver­en­ge – ver­sucht Strauß eben das her­aus­zu­ar­bei­ten, wie die Be­din­gun­gen an­ge­sichts der un­über­blick­ba­ren Vie­len lie­gen und wie die Rol­le wo­mög­lich trotz­dem aus­zu­fül­len ist. Die neue, al­te Un­über­sicht­lich­keit.

    Ich se­he da für Strauß (er „lei­det“ ja un­ter den be­schrie­be­nen Zu­stän­den, wie auch Mysch­kin et­wa lei­det) we­ni­ger ein vor­ran­gig ei­ge­nes In­ter­es­se (et­wa nach Ruhm) als so et­was wie ei­nen Gel­tungs­an­spruch für sei­nes­glei­chen, für ei­nen Kreis (oder eben, den An­spruch kann man nicht weg­re­den) die als not­wen­dig ge­se­he­ne Funk­ti­on ei­ner Eli­te. (Der Be­griff wird oft als an­rü­chig ver­stan­den, was er meint, wird aber in je­der Ge­sell­schaft ge­braucht.)

    An­son­sten muss / will der Idi­ot re­al her­vor­tre­ten (oder sei­ne Funk­ti­on wahr­neh­men), er muss Laut ge­ben. Wäh­rend das Op­fer sei­nen Sta­tus (oder sein Er­wählt­sein) zu­ge­wie­sen be­kommt, im Pas­siv­mo­dus ist (und die Ge­sell­schaft zu­letzt auch in „Zer­knir­schun­gen“ stürzt).

    Und das „Mo­dell“ ist über­haupt der grö­ße­re Zu­sam­men­hang, in dem bei­de (al­le) fun­gie­ren.

  21. zu #21
    Hmmm, ich seh schon, wir stecken jetzt in ernst zu neh­men­den Schwie­rig­kei­ten. Als Re­ak­ti­on dar­auf ha­be ich mir die vor­ge­schla­ge­nen li­te­ra­ri­schen Ka­te­go­rien für »Lich­ter des To­ren« an­ge­se­hen.
    Das sind: Es­say, Auf­satz, Text­ge­we­be, »Buch«, Ver­tei­di­gungs­re­de
    Ich den­ke, die Ein­ord­nung des Idio­ten als Pseud­onym, Fi­gur, Rol­le, »Op­fer«, und die dar­aus er­zeug­ten Ab­wei­chun­gen un­se­rer bei­der Ana­ly­sen kom­men von dort her.
    Ich wür­de den Text gern ein­ge­hend ana­ly­sie­ren, weil ich glau­be, dass hier ein Ver­schnitt aus Pa­ra­bel und Sen­ten­zen-Samm­lung vor­liegt. Gre­gor ist dar­auf lei­der nicht ein­ge­gan­gen.
    Von ei­ner rein er­zäh­le­ri­schen Fi­gu­ra­ti­on (da­von bin ich in #20 aus­ge­gan­gen) kann man wohl nicht spre­chen. Des­halb ver­ste­he ich dei­nen Ein­wand und die Ar­gu­men­te, die den Idio­ten von Strauss’ens Per­son ab­rücken. Es ist, wenn ich mei­nen und dei­nen Fa­den zu­sam­men spin­ne, even­tu­ell so­gar der Ver­such, ei­nen Text und ei­ne Fi­gur se­pa­rat an­zu­ord­nen. Li­te­ra­ri­scher Se­pa­ra­tis­mus. Die Fi­gur selbst sagt über­haupt nichts, und der Text selbst wirkt ent­sub­jek­ti­viert als hät­te man es mit ei­nem Lacan’schen Spre­cher zu tun. ES spricht, und ER lacht, blö­delt, tor­kelt, stürzt...