Ornamentale Wortkunst reicht nicht. »Der Plurimi-Faktor« von Botho Strauß schwächelt an seinem eigenen Anspruch
Im Herbst 2007, ein Jahr nach den Turbulenzen um den Heine-Preis der Stadt Düsseldorf und sein Jugoslawien-Engagement, sagte Peter Handke in einem Interview André Müller er wolle sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen und bekannte in einer Mischung aus Resignation und Trotz: »Ich bin ein Idiot im griechischen Sinne, ein Nicht-Dazugehöriger.« Umgangssprachlich steht Idiot synonym für Dummkopf. Handke benutzte den Ausdruck jedoch nicht in diesem Sinne, sondern nimmt ihn sozusagen wörtlich. Für ihn ist der Idiot ein Privatmann, jemand, der sich der Öffentlichkeit entzieht, weil er nicht dazu gehört. Der »Privatmann« Handke hatte sich jenseits des ihm (von anderen) zugewiesenen literarischen Refugiums in die Öffentlichkeit begeben – und blieb unverstanden. Das Wittgenstein-Wort aus dem Tractatus (6.43) paraphrasierend könnte man sagen: Die Welt des Idioten ist eine andere als die desjenigen, der in der Öffentlichkeit steht.
Botho Strauß’ vor einigen Wochen im »Spiegel« abgedruckter Essay heißt »Der Plurimi-Faktor«. Den Begriff »Plurimi« erklärt Strauß nicht direkt. Er steht für »die vielen«, »die meisten«. Der sagt nicht »Masse«, obwohl dies gemeint ist. Strauß’ beginnt seinen Essay mit Definitionen des Idioten. Er sei »der Unverbundene, der anderen Unbegreifliches spricht.« Botho Strauß verwendet den Idiotenbegriff, aber er lässt ihn kurz darauf wieder fallen; er taucht dann nur am Ende wieder auf. »Anmerkungen zum Außenseiter« ist sein Text untertitelt. Folgt man dem Anspruch des Autors ist bereits der Begriff des »Außenseiters« ein Zugeständnis. Er ist eigentlich zu ungenau, zu milde. Der Außenseiter befindet sich immer noch in einer Gemeinschaft – er steht nur »außen«. Das Außenseitersein ist durchaus Bestandteil eines Gemeinschaftslebens. Erst der Idiot ist der Verstossene, der Verbannte, der nicht Satisfaktionsfähige.
Strauß und das Außenseitertum
1993 war Botho Strauß nach der Publikation seines Textes »Anschwellender Bocksgesang« mindestens vorübergehend verbannt worden. Die Aufregung um den Aufsatz wirkt heute merkwürdig. Die eher schüchterne Anspielung, dass »Gesellschaften, bei denen der Ökonomismus nicht im Zentrum aller Antriebe steht, aufgrund ihrer geregelten, glaubensgestützten Bedürfnisbeschränkung im Konfliktfall eine beachtliche Stärke oder gar Überlegenheit zeigen werden« galt in den sich zügig zum Wirtschaftsliberalismus wandelnden westlichen Gesellschaften der 90er Jahre als nahezu blasphemisch. (Heute kommt aus allen iPhones Kapitalismuskritik herangetwittert.) Und dass »jemand in Tadschikistan es als politischen Auftrag begreift, seine Sprache zu erhalten, wie wir unsere Gewässer« wurde in Anbetracht intellektueller Kosmopolitismus-Entwürfe kopfschüttelnd kommentiert. Dabei saß man damals inmitten brodelnder Kriege im zerfallenden Jugoslawien.
Mit Wonne stürzte man sich auf Strauß’ Bekenntnis »rechts zu sein« – ohne seinen Abgrenzungen und Auslegungen zu folgen. »Rechts sein« habe nichts mit Neonazitum zu tun, antizipierte Strauß mögliche Einwände. Es sei ein Akt der Auflehnung, »gegen die Totalherrschaft der Gegenwart« zu sein. Dazu bedarf es »keiner Utopie«. Der Rechte »sucht den Wiederanschluß an die lange Zeit, die unbewegte, ist ihrem Wesen nach Tiefenerinnerung und insofern eine religiöse oder protopolitische Initiation.« Schon damals bekennt er sich zum »Außenseiter«: »Das, was ihn [den Außenseiter] zutiefst von der problematischen Welt trennt, ist ihr Mangel an Passion, ihre frevelhafte Selbstbezogenheit, ihre ebenso lächerliche wie widerwärtige Vergesellschaftung des Leidens und des Glückens.« Mit anderen Worten: Der Außenseiter ist leidenschaftlich und zurückhaltend und steht damit im Gegensatz zum lauten, polternden Mitmacher.
Strauß plädiert zwar für den »Wechsel der Mentalität«, spricht sich dabei jedoch gegen den kulturpessimistischen Hang zur unvermeidlichen Zerstörung des Bestehenden aus. Andererseits verkneift sich Strauß nicht bleischwer-dunkler Zukunftsvisionen. Die Moderne werde nicht durch »sanfte postmoderne Ausläufer« beendet, sondern »mit einem Kulturschock«. Gar von einem Krieg ist die Rede. Aber so war sie, die Zeit. Im gleichen Jahr verfasste Enzensberger seine »Aussichten auf einen Bürgerkrieg«.
In seinem Essay »Der Konflikt« von 2006, der erstaunlich wenig diskutiert wurde, beschäftigte sich Strauß mit den zunehmend spirituellen wie auch sozialen Herausforderungen, den sich liberale Staaten gegenüber dem Islam zu stellen haben, der durch Migrationsbewegungen in die säkulare Gesellschaft immer mehr an Boden gewinnt. Der Islam beziehe, so Strauß damals, »seine stärkste Wirkung aus seiner sozialen Integrationskraft.« Der Westen hätte, so die These, seine Säkularität nicht fruchtbar ausgestaltet, sondern weitgehend »Weltmärkte[n], technische[n] Innovationen« und »Sitten und Moden« dagegen gehalten – kurzum also ökonomischen Zielen geopfert, die unser Sozialverhalten radikal verändert haben. Es sei eine »geistlose Gesellschaft« entstanden, die keine Attraktivität für maßgebende Teile der islamischen Gemeinschaft bilden könne, da ihr die Empathie für transzendentale (sakrale) Erlebniswelten fehlen. Strauß verteufelte damals die als »Parallelgesellschaft« denunzierte islamische Lebensform ausdrücklich nicht. Im Gegenteil: »Sie lehrt uns andere, die wir von Staat, Gesellschaft, Öffentlichkeit abhängiger sind als von der eigenen Familie, den Nicht-Zerfall, die Nicht-Gleich-Gültigkeit, die Regulierung der Worte, die Hierarchien der sozialen Verantwortung, den Zusammenhalt in Not und Bedrängnis. Selbstverständlich ist es für den aufgeklärten Westeuropäer der Born der Finsternis, der dies Leben in der Gemeinschaftunterhält und gut organisiert.«
Der Reaktionär
Strauß’ aktueller Aufsatz nun ist ein kultur- und zivilisationskritisches Textgewebe, dass sich im Gegensatz zu 1993 weitgehend Prognosen enthält und die 2006 beklagte Ent-Sozialisierung der Gesellschaft weitgehend als gegeben hinzunehmen scheint. Strauß spinnt den Faden weiter. Er ist mit der Vermassung von Wissen, Information und Kommunikation nicht einverstanden. Ihn stört es, wenn die »Breite zur Spitze« erklärt werde. Unklar bleibt, ob er einem streng hierarchischen (Kultur-)Apparat das Wort redet oder eher mit Sloterdijks Vertikalitätsthese sympathisiert, die »eine ethisch kompetentere und empirisch adäquatere Alternative zu der grobschlächtigen Herleitung aller Hierarchie-Effekte und Stufenphänomene aus der Matrix von Herrschaft und Unterwerfung« sein möchte (»Du mußt dein Leben ändern«, 2009).
Die Vokabel »rechts« verwendet Strauß nicht mehr. Er kokettiert stattdessen mit dem Begriff des Reaktionärs, der, so wird bedauert, leider mit dem »Bierschaum des politischen Stammtischs assoziiert« werde. Dabei sei der Reaktionär »Phantast« und »Erfinder«, der bereits re-agiere wenn »andere noch stumm und willfährig bleiben«. Der Reaktionär »blickt skeptisch auf die Eigendynamik von Liberalisierungen und Egalisierungen«. Er ist damit mehr als ein Konservativer, der »eher ein Krämer des angeblich Bewährten« sei.
Nichts findet Gnade vor Strauß’ Blick. Windräder sind »Schänder der Landschaftsseele«, Dichter nur noch Präsentatoren ihrer selbst (eine Feststellung, die an Jochen Jungs Wort vom »Autorendarsteller« erinnert, der die Aura abgelegt habe um »über die Politik oder das Internet, die Rolle des Mannes in der Küche, den Klimawandel, Migranten und so weiter« zu fabulieren), Elektronikmärkte und Apple-Stores »die wahren Kult- und Feierstätten«. Überall herrscht der »Fanatismus des Guten«, der »Gläubigen und Andersgläubigen« ohne Unterschied »unsere Freiheiten« aufdrängt, wobei sorgfältig darauf geachtet wird, dass das »Abfärben…nur einseitig« geschieht.
Angesichts der ausufernden Transparenz-Forderungen fragt Strauß wie es um die »Kunst der Diskretion« bestellt sei, »die einst die Individuen untereinander vor den gröbsten Unverschämtheiten der Selbstentblößung« bewahrt habe. Die »bisher einzig würdige Form der ‘Kommunikation’ unter Menschen« beruhte »auf der Voraussetzung von Diskretion«, so Strauß. Sicherlich ahnt und fürchtet der Schriftsteller Byung-Chul Hans Diktum, eine Transparenzgesellschaft sei eine »Gesellschaft ohne Dichter, ohne Verführung und Metamorphose«.
Cicero
Kein gutes Wort für diejenigen, die sich »in digitalen Massen« vordrängen, ihre »Sprachlumpen« absondern und »Info-Demente« erzeugen (und auch sind). Erwartbar und wenig originell sein Eintreten für das Buch, welches sich zu »resakralisieren« habe. (Wobei Strauß’ durchaus ironisch wird, in dem er den Verleger Stendhals zitiert, der seinem Autor mitteilte, sein neues Buch sei heilig – niemand rühre es an.) Konsequent die Absage an den »Götzendienst vor dem Populären«. Das Blinzeln auf die Quote verlange geradezu die »Anpassung nach unten«.
»Breite« bedeutet für ihn: »Während Intelligenz zur Massenbegabung wurde, sind Klugheit und Einfalt nahezu ausgestorben«. Strauß’ Beharren auf Strukturen jenseits eines Egalitarismus, der alles und jeden auf den kleinsten gemeinsamen Nenner nivelliert, erinnert an Ciceros »De re publica«, in dem der Römer eine Mischform monarchischer, aristokratischer und demokratischer Strukturen entwirft. Nur so würden die in jeder Herrschaftsform wesenden Extreme (Tyrannis, Oligarchie, Ochlokratie) gebändigt.
Strauß bemerkt natürlich die Konventionen, die im »despotischen Umriß« des »hinkenden Guten«, der zum Wortführer wird, stecken. Diese folgten viel unnachgiebigeren Regeln als jene, die »aus bürgerlicher Zeit« bekannt seien. Man könnte ergänzen, dass die (säkularen) Adepten des Korrekten weder Vergebung noch Gnade kennen. Das Stigma ist unerbittlich und lebenslang. Wen wundert es da noch, dass auch die Reue ausgestorben ist bzw. nur noch zur Worthülse verkommen ist.
Strauß’ Skepsis gegenüber der Partizipation des Bürgers, der nicht mehr nur bürgerlich ist, sitzt tief. Es wäre unzutreffend vereinfacht, würde man Strauß nur schnöden Elitarismus unterstellen. Wer genau liest, sieht auch seine Zweifel, etwa wenn er als ein Kennzeichen des Reaktionärs seine Idiosynkrasien ausmacht. Und der Reaktionär ist eben kein Revolutionär.
Avantgarde und die Verachtung der Massen
All dies ist nicht neu. Es gibt kaum einen Schriftsteller von Rang in den letzten einhundert Jahren, der nicht mindestens Zweifel an der Richtigkeit und Wirksamkeit des politischen Systems der Volksherrschaft gezeigt hat. Schriftsteller sind naturgemäß anfällig für solche Ressentiments. Ihre Kreativität entspringt keinem demokratischen Akt. Sie kommt aus einem starken Selbst-Bewußtsein. Schließlich ist das Schreiben von Literatur immer auch Hybris. Schriftsteller sind Vereinzelte und dadurch per se Außenseiter, wenn nicht sogar Verbannte, also Idioten. Schriftsteller schaffen Neues, Ungewöhnliches. Sie sprengen die bestehenden Normen; nicht unbedingt vorsätzlich politisch-revolutionär, sondern ästhetisch.
Außergewöhnliche Schriftsteller sind immer auch Avantgarde. (Schlechte Schriftsteller, die dennoch kommerziell erfolgreich sind, nur Modeerscheinungen.) Das Wort Avantgarde ist dem Militär entnommen. Es bezeichnet diejenigen, die vor (avant) den anderen in die gegnerischen Stellungen einbrechen. Sie sind ihren Kameraden voraus. Wer Avantgarde ist, ist ausgewählt (vielleicht sogar auserwählt). Spätestens jetzt ist der Strauß’sche Reaktionär, also derjenige der re-agiere wenn »andere noch stumm und willfährig bleiben«, synonym für Avantgarde. Dass inzwischen immer weniger Schriftsteller Avantgarde/Reaktionär sind, sondern sich – wie Strauß richtig schreibt – dem Populären andienen, sich ver-schreiben, steht auf einem anderen Blatt.
Die Masse und ihre festgefügten Regeln sind der Avantgarde mindestens verdächtig. Sie beanspruchen für sich eigene Regeln. Hierin liegt eine der Ursachen, das sich Schriftsteller politischen Systemen, die die Bändigung oder sogar Steuerung der Plurimi, der Masse, in Aussicht stellen, so gerne zugewendet haben und zuwenden. Avantgarde und Demokrat sein ist ein Widerspruch. Viele haben ihm nachgegeben; die Zahl derer, die politisch vermeintlich oder tatsächlich obskur dachten, ist lang. Das es oft die sehr guten waren, irritiert und befremdet denjenigen, der glaubt, ein Schriftsteller sei per se ein besserer Mensch.
Elias Canetti machte die Masse als einzige Gelegenheit des Menschen aus, seine Furcht vor den anderen Menschen zu überwinden. Er nannte es »Umschlagen der Berührungsfurcht«. In der Masse steckt für Canetti die Möglichkeit der Zerstörung des Abseitigen, des Unpassenden. Die Masse droht Spielzeug eines oder mehrerer Befehlsgeber zu werden. Diese aus dem Erleben während des Nationalsozialismus gespeiste Furcht des Dichters wird bis heute fortgeschrieben. Die Verachtung der Masse ist gut beleumundet und vielfältig begründet. Offen bleibt dabei ob diese Aversion nicht auch eine besondere Form der Selbsterhöhung darstellt.
Dabei sind Demokratien nichts anderes als Befragungen der Plurimi, der Masse. Ihre Entscheidung ist Legitimation. Die Mehrheit der Masse bestimmt die politische Ausrichtung. In der Ambivalenz zwischen Verführbarkeit der Masse und ihres Gebrauchtwerdens liegt für viele der Grund für den Argwohn an der Demokratie. Die Skeptiker übersehen oft, dass es in stabilen politischen Demokratien immer auch komplexe Kontrollinstrumente gibt, die die Massenentscheidungen notfalls bändigen bzw. immer wieder neu befragen. Die Vorbehalte gegenüber Entscheidungen der Plurimi sind dabei stets unterschwellig präsent und werden durch Institutionen reguliert.
Der Netzbarbar
Für Strauß ist die schleichende Okkupation des öffentlichen Diskursraumes durch »Autoren«, die weitgehend ohne hierarchische Zulassung daherkommen, mindestens zwiespältig. Er sieht darin den »ästhetischen Urfehler«, die Gefahr, »die meisten zur obersten Interessensphäre zu machen.« Außerdem droht die Gefahr der Massenverführung. Für jemanden, der Avantgarde (bzw. Reaktionär) ist, sind solche Entgegnungen verständlich. Nahezu alle, die in Treibhäusern leben (insbesondere in dem der Kultur), teilen sie. Blicke in Kommentarforen vom »Standard« über »Spiegel Online« bis zur »FAZ« (letzteres immerhin moderiert) geben diesen Bedenken Nahrung. Der entfesselte Forum-Kommentierer ist der Archetyp des Netzbarbaren und das Schreckbild des Avantgardisten. Aber der Netzbarbar ist nur eine Teilmasse, die durch die neuen elektronischen Medien plötzlich grell aufleuchtet. Im Verborgenen existierte der Meinungspöbel immer schon. Jede Leserbriefredaktion kennt dies.
Dabei dürfte die Einführung des Privatfernsehens und die praktisch sofortige und bedingungslose Kapitulation der öffentlich-rechtlichen Medien zu Gunsten des vermeintlichen Massengeschmacks viel mehr zum Niveau-Absturz beigetragen haben als die vom re-aktionären Strauß verdammten digitalen Autoren. Deren Dummheiten und die Dummheiten derer, die ihnen nachäffen, können immerhin noch problemlos ignoriert werden. Die Gefährdung des »Unzeitgemäße[n]« ist nicht durch den virtuellen Strom erzeugt worden. Die Verblödungskaskaden des sich zusammenrottenden Mainstreams werden zwar durch das Netz beschleunigt, aber es dürfte dem Oldtimer-Fahrer doch gleichgültig sein, ob er auf der Autobahn mit Tempo 150 oder 250 überholt wird.
Für Strauß ist ausgemacht, dass »Othello« »nicht mehr faßbar ist für heutige Bühnengesinnung«. Ein »Werk von dieser Größenordnung«, »zum Erschüttern geschrieben«, kitzele nicht einmal mehr. Aber was hat dies bitteschön mit »Othello« zu tun? Es geht, und das vergisst Strauß, womöglich um die 674. Inszenierung dieses Stückes – entweder im Stadttheater von X oder als medial gehypte Regiearbeit auf irgendeinem dieser inflationären Festivals. Aber sind es nicht gerade die Kunstvermittler, die mit ihrer zwanghaften Originalität, die weniger eine Auseinandersetzung mit dem Text als eine Bewältigung ihrer eigenen, persönlichen Ab- und Zuneigungen abbilden und nur noch Flucht in die billige Provokation nehmen, diese mehltauhafte Gleichgültigkeit mit erzeugt haben?
Strauß’ Aufsatz könnte als schöne Folie für eine Verteidigungsrede der Askese dienen. Für ein Beharren des Übenden auf das Besondere inmitten der Ströme der Banalitäten. Für ein Widerstehen; wenn notwendig ein trotziges. Sloterdijks erwähntes Übungsbuch tendierte in diese Richtung.
So bedarf es beispielsweise doch besonderer Übung um inmitten von 80.000 Neuerscheinungen pro Jahr das Buch an sich zu sakralisieren und nicht zum profanen Handelsgegenstand verkommen zu lassen. Aber wie? Mit einem dystopischen Kulturlamento, zugegebenermaßen in schönen Wortornamenten daherkommend, welches lieber »eine rauschende Ballnacht des Geistes« statt einer weiteren Klimakonferenz als Ziel entwickelt, begibt sich Strauß nur in die längst behaglich ausgestattete Ecke der Nörgler. Man attestiert diesen Nörglern zwar gerne, dass sie recht haben – aber nur, um sie loszuwerden. Die andere Gefahr ist in den so verführerisch ausgestatteten Hafen des Zynismus einzulaufen (das ist für Strauß natürlich unmöglich).
Möge das Unbehagen an und in der Kultur für einen Moment vergegenwärtigt und konkretisiert werden. Und dann: Schluss damit! Ich möchte davon mindestens ein Jahr nichts mehr lesen, sehen und hören. Für einen Schriftsteller gehört es sich, zu erzählen. »Was bleibt von Peter Handke?« fragte Botho Strauß in einem Artikel in der FAZ im Jahr 2006 zur Verteidigung desjenigen, der gemäß den Gesinnungsrichtern des Feuilletons »Unbegreifliches« ausgesprochen haben soll. Strauß antwortete, es bliebe »eine Wegscheide des Sehens, Fühlens und Wissens.« Und damit weit mehr als das von jenen, die scheinbar wissen, was und wie zu sprechen ist. Gute Schriftsteller schaffen die Evokation von Möglichkeitsräumen jenseits üblicher Wahrnehmungen. Das ist die originäre Aufgabe von Literatur (wenn diese überhaupt eine »Aufgabe« hat). In diesem Sinne ist sie vielleicht notwendiger denn je. Und zu schade, um sich mit Phänomenen herumzuplagen, deren Lächerlichkeit jeder Fühlende, Lesende, Hörende irgendwann selber bemerkt.
Sehr guter Artikel von Gregor,
ich bin auch der Meinung, dass der zeitgeist-analytische Nebenerwerb nicht mehr das Gewicht hat, das man ihm noch vor 20 Jahren beigemessen hat.
Autoren wie Strauss scheinen in dieser Hinsicht fast unfreiwillig zu handeln, als Avantgarde einer Kulturwehrpflicht, die letztlich ein Klassen»geschmäckle« hat. Dass die ästhetisch anspruchsvollen Schriftsteller auch Demokratie-Anhänger sein sollen, habe ich nie begriffen. Es kann sich nur um einen Erziehungsfehler handeln.
Das Gegenteil ist (siehe Artikel) ist wahrscheinlich.
Ich finde es richtig, dass Keuschnig immer wieder eine Grenzlinie zieht zwischen den alten und den neuen Verantwortlichkeiten. Vorallem angesichts der spätmodernen Chaos-Sichtverhältnisse ist das nicht eben leicht.
Le Surrealisme au service de la revolution.
Ja, aber warum nicht Kultur-Wehrpflicht? Wie viele läppische Pflichten hat man denn sonst gegenüber einer Mir-Egal-Gesellschaft außer „Du sollst arbeiten und konsumieren“, in der es Egalität zuletzt doch niemals gibt? (Und wäre das überhaupt gut? Braucht es nicht jemand, der sich erhebt, um den anderen ein Anderes aufzuzeigen? Irgendjemand wird immer unter der Mehrzahl leiden. )
Eigentlich bin ich so weit einverstanden mit der Analyse. Allerdings muss es, das Idiotische, einer also doch aussprechen. Und die (anscheinend mittlerweile auch unter Künstlern ungeliebte) Avant – Garde braucht es auch: Jemand muss doch vorausgehen. Oder etwas vorauszusehen versuchen. (Bloß weil alle nur noch in Jobs denken, in ihren eigenen, sie täglich kleinmütiger machenden „Steve“-Jobs, spricht das ja nicht per se gegen Berufungen.)
Zwar weiß der „Idiot“ im Strauß’schen Sinne ja schon, wie es um die Wirkung seiner Wortmeldungen bestellt ist – aber wer lebt, kann sich eben auch nicht einfach abfinden. Und die stille, die überlegene Klugheit stärkt doch allzu oft noch die falschen oder auch nur die resignativen Kräfte. Der Status quo ist ja selbst mit das Unbehagen, an der die Verhältnisse kranken.
(Wenn etwa Sascha Lobo seinen „Ekel“ angesichts einer lähmungsstarren Regierung artikuliert, hat das Resonanz. Ich wunderte mich, wie viele diese doch eher sonst verworfene bis stigmatisierte Regung teilten. Der Dauer-Humor und die stille Verachtung der anderen, marginalisierten Vielen reichen als Haltung eben auch manchmal nicht mehr aus.)
Ansonsten lernt auch der Idiot – wie er ja auch seine Vorteile darin finden kann -, von diesen unguten Massen links (oder eben rechts) liegen gelassen zu werden.
Und umgekehrt ist ja auch der Elitarismus für den klickend und zappend tagträumend sein Größenselbst umkreisenden Mitläufer immer wieder interessant, gar verführerisch – ist er doch das, was der „Star“, und sei es der grinsende Zweieinhalb-Minuten Lückenbüßer auf dem Fernsehschirm, eigentlich bedeutet: Ein Quäntchen Glamour durch Erhebung und Distanz. Es werden diese je besonderen Momente einer also minimal geistigen Einsicht eben nur nie konsequent gemacht.
Ich wundere mich durchaus noch manchmal, dass es nicht mehr Terrorismus etwa gegen die Fernsehdreck gibt, oder die Vehemenz, die ja durchaus existiert (Polit-Dreck, Umwelt-Dreck, Konsum-Dreck …) nie in konkrete Handlungen übersetzt werden.
(Eine Zeit lang konnte man ja die paradoxe Hoffnung haben, dass der Feind von der anderen Seite, etwa in Form dubiosester bayrischer Landespolitiker auf einmal zum Verbündeten würde und endlich mal was gegen diese rundum-faule ARD passierte. Und es wird wohl noch passieren: Wer hätte etwa bis vor Kurzem geglaubt, dass selbst diese monolithischen Energiekonzerne einmal vor Umwälzungen stünden!)
Zynisch gesprochen: So wie es in der arbeitsteiligen Gesellschaft die Unterschicht und die Auszubeutenden und die sozialverträglich Früh-Ablebenden braucht, gäbe es in einer Gesellschaft von zu vielen Selber-Denkern womöglich kaum genug Zusammenhalt? Und andere vermuten, dass in den „sozialen Netzwerken“ sich so etwas wie ein Selbstverwirklichungstraum der alten Avantgarden verwirklicht, sozusagen als im Basal-Gesellschaftlichen aufgegangenes Künstlertum: im „Publiszismus“ von jedermann ein „Exponismus“ als Demokratie-Erweiterung.
Ich denke noch darüber nach, aber kann es schon nicht mehr ganz abtun als bloß weit genug auf den Kopf gestellte Kritik. Irgendwann muss die ganze Kunst ja auch mal gesellschaftsverändernd wirken.
Was jedenfalls tragisch wäre: Wenn der (ja auch historisch immer in irgendwelchen Formen geduldete) Idiot – der Seher, der Prophet, der Narr am Hofe etc. – irgendwann mit seinen Hervorbringungen überhaupt nicht mehr durchdringt: Sooo offen scheint der Meinungsmarkt in Wirklichkeit nämlich nicht: Die Nischen, die jedermann erlaubt sind, um alle gegeneinander abzufedern, sind zugleich die, die alles mögliche an Einfluss neutralisieren bzw. wiederum einem Markt zur Regulierung überantworten. (Es soll ja Leute geben, die die Finanzkrise vorausgesehen haben; und es sei ja der Künstler als Detektionist des Kommenden erwünscht. Usw.)
Es braucht anscheinend nur eine Art andere Mechanik des Öffentlichen (früher eine singuläre Denk- oder Gestaltungsleistung, heute etwa Skandale) um auch mit wesentlichen Dingen gehört zu werden.
Seit je aber sortieren die Wissenschaften in nahezu sämtlichen Disziplinen vor allem diejenigen aus, die etwas ihren Generationen (weit) vorausgesehen haben. Nur ist der Ruhm der Vorläufer eben fast immer ein nachträglicher – und womöglich ist das bei der Seinsüberhobenheit der Gegenwärtler eine Art Gesetz? Und das wirklich schlimmere Fazit ist, dass auch oft später so gar nichts draus erfolgt. Warum sollte das in der Literatur (der Kunst) anders sein als in der Wissenschaft? Dass etwa Klimamodelle mittlerweile beängstigend zutreffend sind, hält niemandem vom Autofahren ab, der zu seinem Job oder seiner Verabredung muss. Es geht da womöglich um Sättigungsgrade oder andere Massefaktoren bis zu relevant werden Einflüssen.
Der Idiot scheint also sehr wohl nötig, er hat immer auch seine Frequenz im Chor der Vielen. Nur ist das Wesen seiner Wirkung eben stets ein unendlich verzögertes, und sein eigenes Leiden daran – der sich also zuletzt doch für die anderen erregt (und das oft sogar als seien Aufgabe begreift) – ist ihm persönlich auferlegt. Was ihn seiner winzigen Einspruchsmöglichkeit aber nicht enthebt.
Womöglich also hat das im Sinne eines angenommenen oder einer sogar un/ausdrücklich funktionalen Gesellschafts-Systems (à la Luhmann) selber eine Aufgabe, mittels seiner je individuellen Gaben im Dienste der Gesellschaft das Avant vorauszusehen. Nur muss die Frage offen bleiben, was man als nicht eigens dazu Berufener dafür verlangen kann. Vielleicht ist „Öffentlichkeit“ als solche dafür schon viel.
@herr.jedermann
Interessante Aspekte.
Natürlich muss es jemand aussprechen. Aber das der Kaiser (das Netz) nackt ist, ist doch längst keine Neuigkeit mehr. Zudem ist Strauß’ Partei; er re-agiert aus eigenen Interessen, die nicht ästhetisch, sondern auch machtstrukturell sind. Hochtrabend gesprochen: Er verliert an Deutungshoheit. In der Polyphonie (die er als Kakophonie sieht) verliert die einzelne Stimme ihren Anteil.
Erinnert das nicht an die Verbreitung des Buches im 19. Jahrhundert? Auch dies wurde als »verderbend« angesehen. Man bedenke, wie lange das gedauert hat – ich erinnere mich noch an meine Großmutter, die Büchern und dem Lesehunger des Enkels skeptisch gegenüber stand. Das Buch galt als »unzuverlässig«. Daher nahm man sich die schlechtesten Beispiele, um es zu denunzieren. Heute wird es sakralisiert bzw. re-sakralisiert.
Vieles von dem, was Strauß da aufführt, ist im übrigen immanent im Medium vorhanden, dass er als Forum benutzt: Spiegel bzw. Spiegel-Online. Schon klar, dass das kein Argument gegen ihn ist, aber es ist zumindest ein bisschen bigott.
Die Pose werfe ich dem Idioten nicht vor; es ist (s)eine rhetorische Figur (oder eine seiner rhetorischen Figuren). Von einem solchen Schriftsteller erwarte ich mehr als nur ein bisschen Dampf ablassen, bevor man sich dann wieder zurückzieht. Bei Handke gab es mit seinem Jugoslawien ein Anliegen, das – es mochte richtig oder falsch sein – ihn gefunden hatte und ihn fast aufzehrte. Dagegen wirkt Strauß’ Unbehagen aristokratisch. Schade, dass ein Ernst Jünger nichts mehr zum Netz schreiben kann. Er war nicht unbedingt ein großer Schriftsteller, aber seine Zeitdiagnosen waren nicht immer schlecht. Er hätte pointierter und weniger larmoyant geschrieben – behaupte ich einfach einmal.
(Zu Lobo, seinem eher apolitischen Ekel-Verdikt und dieses zeremoniell daherkommende Empören über das Nicht-Empören sage ich mal nichts.)
@ herr.jedermann
Ein Riesen-Kommentar, der das Problem des Engagements aus den Sechziger, Siebziger Jahren wiederholt. Das ist statthaft, keine Frage, so manches Problem wiederholt sich, weil es keiner verbindlichen Lösung zugeführt werden kann.
Von mir nur ein Aspekt:
es ist von einer Haltung die Rede, die halb verpflichtend, eine Angriffs‑, Beispiels- und Verteidigungsfunktions wahrnimmt. Also die ganz große Nummer. Und mit dieser Haltung soll auch schon geschrieben, gemalt und getanzt werden, weil der Mensch ja gerne ein Ganzer sein möchte, und jede Einteilung der Existenz ziemlich (Zitat:) »läppisch« ist.
Ich kann nur sagen: diese Haltung ist für mich nicht erstrebenswert, das ist nicht ökonomisch. Der Traum, keinerlei Ökonomie »anzugehören«, sondern nur sich selbst und seinem Gewissen verpflichtet zu sein, reduziert die große weite Welt (Markt, Politik, Kunst, Privatleben) wieder auf die bürgerliche Identität.
Diese Identität, um es deutlich zusagen, halte ich für eine Missgeburt der Moderne.
@ Gregor Keuschnig
Ich wollte Strauß’ „Anliegen“ gar nicht verkürzt sehen auf Netz oder Buch oder sonst was Mediales (oder Fragen dazu). Das Netz ist ja eher nur das Paradigma, auf dem / gegen das sich das alles abspielt. Aber es steckt ja viel mehr dahinter. Die berühmte Konversion jetzt auch noch der letzten Steckdose mit IP-Nummer und Radikal-Vernetzung in einem Netz-„Panoptismus“ ist bedenklich genug. Und Perversionen wie dem vorbeieilenden Smartphone-Träger übermittelte Informationen (= noch mehr Reklamedreck) lassen Schlimmeres ahnen.
(Als Abschweifung: Überhaupt wird ja neuerdings immer öfter erst wieder interessant, was sich nicht einfach anstelle setzen lässt. Womöglich bräuchte es eben da längst eine entschiedenere Gegenbewegung? Keine nostalgische, sondern eben eine ausdrücklich terroristische. Schon klar, was nicht im Netz existiert, gibt es nicht – aber es kann auch nicht seiner Eigenrealität entzogen werden. Eine Zeitung aber etwa ausschließlich im Netz ist eben keine Zeitung mehr, sondern etwas anderes, und sie bedeutet auch etwas anderes. In großformatigem Papier blättern aber ist dadurch nicht obsolet, obwohl ignorante und interessierte Kreise das gern so sehen wollen. Und so weiter.)
Ich sehe Strauß auch durchaus als uneigennützig, seine Bedenken, sein Ernst lassen sich mit Aspekten um seine bedrohten Eigeninteressen nicht abtun. Vielleicht könnte es ihm sogar längst egal sein? Auch eine Pose sehe ich da nicht – und für die Widersprüche, in der er sich ohne Zutun befindet kann er nichts. In dem ihm unterstellten Sinne müssten wir dann alle macht-strukturelle Interessen haben (und wir haben sie ja wohl auch).
Ich verstehe ihn also auch so, dass es um den medialen Träger letztlich gar nicht entscheidend geht (das wäre nur das Dispositiv, in dem sich alles abspielt, die berüchtigte Konversion, oder jetzt der Ort von Hoheiten, um die gestritten wird), sondern um das viel größere Unbehagen einer „Kultur“ vieler Kräfte auf dem Rückzug zugunsten einer nun drohenden Ausschließlichkeit an Kultur. Es geht um diesen totalitären Zug, um die große Vereinheitlichung, die sich als Spielweise für alle ausgibt und tatsächlich immer mehr „auf Linie“ bringt (so oder so). Es geht jedenfalls nicht nur ein paar Unterscheidungs‑, sondern auch ein paar Grundvermögen, die man im Falle ihres definitiven Verlusts womöglich nur noch archäologisch bergen kann.
Mehr als um die Ermächtigungen der Vielzahl der Stimmen (die, das zeigt sich ja gerade, tendenziell ihre eigene Neutralisierung oder Einhegung als leicht überwachbare Objekte besorgen), mehr als um neue Geschäftsmodelle für alte Hoheiten, geht es doch um Besinnungen, um die Möglichkeit der Einsprüche, die Vernunft (manchmal eben erst eine, die sich außerhalb stellen muss) oder eben ein „Idiot“ vielleicht noch geben kann. (Oder eben muss, als seine ihm zufallende Funktion).
Ich denke jedenfalls nicht, dass man diese Dinge – und auch Botho Strauß selbst – mit Verdächtigungen auf ein zu belächelndes Gutmenschentum oder eine verjährte politische Verortung erledigen kann. Wie „ideologisch“ verdächtig das nun wieder ist, weiß ich nicht, aber was wäre heute nicht auch ideologisch verdächtig?
Mich stört an dem Plurimi-Text alles mögliche, aber dass so jemand wie Strauß, aus seiner Position bald gar nicht mehr gehört werden könnte, fände ich an sich bedenklich. Es bedeutete letztlich, dass all die schöne neue bunte Vielfalt der Massenermächtigung schon zerstörerischer ist als das, was sie einmal – wie immer auch selbstverkennend – aufbauen wollte. Und wenn demnächst tatsächlich „kritische“ nur noch sich selbst stärkende Massen oder „Schwärme“ entstünden, fände ich das seinerseits, gewissermaßen „biologistisch“, höchst verdächtig. Eine aus Ignoranz passierende Auslöschung ganzer Arten, eine Verarmung an allem möglichen erleben wie täglich und sowieso.
(Auch ein Nachsatz zu Lobo: Ich finde Ekel und ihn auch noch zu äußern überhaupt keine apolitische Regung, im Gegenteil. Die Pseudo-Vernunft unseres Innenministers und die Pragmatik anderer Ohnmächtiger sind eigentlich apolitisch: Sie sind in der Konsequenz eine Selbst-Delegitimierung. Lobo artikuliert das, und er hat in der real existierenden Öffentlichkeit ein mindestes Gewicht. Das ist immerhin was.)
@ die_kalte_Sophie
Bin mir nicht sicher, ob sich mir der eingewandte Gedanke ganz erschließt: Kann Engagement überhaupt irgendwie verjähren? Bloß weil alles ein bisschen komplizierter und unübersichtlicher geworden ist?
Die Verpflichtung, und sei es nur die der „Zeitgenossenschaft“, bleibt eh – schon im geringsten sozialen Umgang miteinander, Manieren, Gesetze, Kategorischer Imperativ. Und wenn man dann noch die Nachrichten verfolgt, wird es einen nicht auslassen können. Auch die Zynismen von Dauerunterhaltung oder Sport etc. reichen letztlich nicht, seinen Kopf in den Sand stecken zu können.
Und das „Bürgerliche“ und daraus folgende Identitätszwänge sehe ich auch nicht: Das, was ich anspreche, ist jedenfalls nicht gleichgedacht mit irgendeinem früherem bildungs-bürgerlichen Anspruch auf Verbesserung der Welt. Allerdings: Verbesserung an sich – woher soll sie kommen, wenn nicht aus besserem Wissen und wenn sich nicht irgendwer noch ein mögliches Gemeinsames zu formulieren traut?
Es ist aber auch längst eine Sache des Empfindens bzw. wird irgendwann schlicht fundamental(-ontologisch). Die damit einhergehende, neuere Art „Weltschmerz“ nehme ich jemandem wie Strauß rundweg ab. Und sehe seinen Anspruch doch vor allem als Künstler (wo er eben auch für eine gewisse, sich dort auch verlachen lassen müssende Höhe steht – die anderen sind dann eben wieder im Unterhaltungssektor).
Auch wenn man meine unter Pathosverdacht stehenden Zuschreibungen weglässt, ist er, der Künstler (also ausdrücklich auch der „nicht-schamanische“, der schlicht etwas genauer denkende), de facto der Vorausgehende – und da ist ein bisschen Bewusstsein für Verantwortung nicht schlecht. (Solche Kinder wie Meese u. ä. bleiben dagegen doch eher Narren und sind, so sie nicht aus ihren verstiegenen Winkeln finden, zurecht irrelevant.)
Ich würde mich selber scheuen, mich da irgendwelchen neuen Bewegungen zuzuordnen (und nenne sie erst gar nicht). Aber dieser Verantwortungssache entkommt sogar so einer wie ich letztlich nicht. (Ich definiere mich nicht als Außenseiter sondern als Randgänger.) Und die Verantwortung ist ganz sicher eine andere als in den 68er oder 89er Zeiten und folgenden: Das Gefühl ist doch immer öfter drängende, schwarz sehen lassende Gewissheit geworden (aber doch kein Pessimismus): Es steht schlicht immer mehr auf dem Spiel.
Da etwas drängender und zugleich präziser zu formulieren und Befindlichkeiten und Seins-Genauigkeiten mit Handlungsmöglichkeiten und auch Verantwortlichkeiten zusammenzubringen ist in jedem Falle weiterführender.
zu #5
Ich find schon, dass du eine bürgerliche Position einnimmst. Das passt doch wunderbar zusammen: randständiger Mensch, keine Macht, kein Anschluss an eine politische Bewegung, aber hellwach und äußerungsbereit...
Ich glaub, man muss kein Nietzscheaner sein, um bei Rechten wie der »freien Meinung« eine Falschgeldmünze zu erkennen. Du kennst ja die Polemik: wenn die Meinung gefährlich wäre, wäre sie bestimmt verboten. Du bist vielleicht 3x so klug wie der Durchschnittsmensch, aber nur mit Äußerungen kann man keine Veränderungen herbeiführen.
Deswegen habe ich von Zwang gesprochen: man zwingt uns daran zu glauben, Meinungen wären wirksam. Deshalb glauben wir, dass ein »rhetorisches Engagement« möglich ist. Nichts für ungut, ich glaube das ist Humbug.
Das Bürgerliche – geschenkt. (Gibt es heute irgendwas Nicht-Bügerliches? Ich empfinde es nicht mal mehr als denunzierend.)
Das »Randgängertum« nur, um mich in diesem Gespräch selber zu verorten, auch in meinen Widersprüchen. (Und als also, letztliche, politische Impotenz. „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms.“ Übrigens nehme ich mir schon länger vor, öfter mal den Mund zu halten und es gelingt auch.)
Auf „Links-Rechts“ lass ich mich nicht mehr ein: Allzu oft ist das Linke das neue Rechte (und umgekehrt). Mit „Meinung-Deinung-Seinung … wär sie verboten“ hast Du vielleicht sogar Recht – es kommt kaum noch drauf an. Aber Du versäumst die Alternative zu nennen. Und ohne Äußerungen könntest Du nicht mal die Deiner Gesinnung Ähnlichen verorten, die, die Dich in Deinem Alleinsein dann trösten.
(Außerdem äußern sich Menschen unentwegt, das ist schlicht die hauptsächliche Weise ihres Weltbezugs.)
Wofür ich plädiere, ist ja nur, dass bitte auch „der Idiot“ noch vorkommen muss gegen die Lauen und die Besser- und Immer-schon-alles-Wisser und die Besitzstandswahrer und die vielen konturlosen Vielen. „Rhetorisches Engagement“ klingt da für mich eher wie vorsätzliche Verharmlosung. (Wenn meine Meinung auch niemand interessieren braucht.)
Der Punkt ist, dass es heute noch genug Raum gibt (medialen, nicht völlig eindimensionalen, von der Mainstream-Zensur-überformten Raum), der aber durch Effekte, die ob des rasenden Wandels (oder Stillstands) kaum durchschaut sind, schon eingeschränkt wirken. Der Raum ist also bedroht, darauf könnte man Strauß – unzulässig – reduzieren. (Und ist das nicht eigentlich eine linke Position? Die Rechten schreien immer Freiheit, schränken sie aber auch immer bedenkenloser ein.)
Der Punkt ist, dass der Idiot mehr und mehr gebraucht wird.
Dass ob unserer Scheinfreiheiten und 1‑Klick-Bequemlichkeiten immer dringender vor Einförmigkeiten gewarnt werden muss.
Dass es noch Leute mit Distanz zu der Raserei braucht, dass sie zu Gedanken kommen.
Dass es Menschen gibt, die die Ungeheuerlichkeiten aussprechen: Das Ungeheuerliche, das eine bei allem Chaos um sie herum geistig oft zunehmend undurchlässig erscheinende Gesellschaft wie diese vielleicht braucht.
Natürlich betriebt die »Massenermächtigung« auf ihre Art eine andere Einebnung von Pluralität. Das kann ja gar nicht anders sein. Und auch hier bilden sich Strukturen, die wiederum Türhüterfunktionen zur Folge haben. Also Hierarchien. Das geht nicht anders. Ich bin ziemlich sicher, dass Strauß dies ahnt, aber nicht weiss. Sein Unbehagen an und in der (Netz-)Kultur ist nicht aus eigener Anschauung (Anlesung), sondern eher ein diffuses Ressentiment. Hierin sehe ich die Gefahr, eben weil auch ich Sympathien für den Idioten Strauß und seine reaktionäre Sicht habe: Wenn er denn gehört, gelesen, kommentiert wird dann irgendwann nur noch als Exot, als Alibi, Feigenblatt für eine sich pluralistisch gebende Gesellschaft, die in Wirklichkeit den Dirigismus nur mit Pseudo-Toleranz (und Pseudo-Transparenz – aber das wäre ein anderes Thema [Byung-Chul Han]) camoufliert.
Ich habe gestern Strauß’ Buch »Lichter des Toren« erhalten. Zunächst beeindruckt einmal das Cover – der Effekt, der um den Titel erzeugt wird, ist beabsichtigt:
Das Buch selber umfasst rd. 175 Seiten. Es sind aphoristische Sentenzen, die irgendwie zusammengehören – und auch wieder nicht. Einzelne Absätze aus dem »Plurimi-Faktor« tauchen auf; sind manchmal variiert oder ausführlicher. Sie durchziehen das ganze Buch. Es gibt natürlich größere Diversifikationen zu den einzelnen Themenfeldern. So beschäftigt sich Strauß ausgiebig mit Dostojewskis Myschkin (dem »Idioten«).
Wie bei allen aphoristischen Büchern ist man geneigt, die Schönheiten der Sätze herauszustellen, sie sozusagen dem Buch zu entreißen. Das fällt umso leichter, als es scheinbar keine stringente essayistische Form gibt. Strauß bemüht sich aber, sich nicht in Schönheit zu erschöpfen. Ein Beispiel steht auf Seite 11: Die Blöße, die sich der Idiot gibt, erschreckt wie jede Epiphanie durch Unverständlichkeit. Ein wunderbarer Satz. Aber es gibt sofort einen, zwei Widerhaken: Eigentlich wollte er nur den Saum des anderen küssen, sobald er sprach. Seine Gegenwart wollte er ehren. Dabei kam Unverständliches über seine Lippen, und der andere wich zurück. Strauß mystifiziert seine Bemerkungen immer wieder. Er kann nicht widerstehen, sie mit enigmatischen Ausführungen eine gewisse Schwere zu geben.
Nur selten wir er deutlich: Wer sich an technischen Neuerungen berauscht, ist ein Schwachkopf. Wer sich ihrer zu bedienen versteht, iat ein Alltagsmensch, aus dem noch einmal etwas Besonderes werden könnte wie zu allen Zeiten. (Unklar bleibt, was »Besonderes« sein könnte.) Es geht weiter mit einem Lob des Anachronisten. Leute wie Hölderlin, Keller, Heidegger, Jünger – die, in Zeitwidrigkeit gefaßt, zu überzeitlich großen Entwürfen gelangten. Keller?
Immer wieder Anklänge an das Netz (Seite 33): 600 Millionen Netz-Autoren brauchen kein Buch – sie füllen Rückstände von Schon-Geschriebenem in ein Unbuch. Das ist – mit Verlaub – in dieser Pauschalisierung ein vollkommener Blödsinn. Es geht aber weiter: Von Massenbewegungen fasziniert, unterschlägt der intellektuelle Götzendienst vor dem Populären die banale Erfahrung, daß diese Anrufung, immer der Quote nach, stets Anpassung nach unten verlangt. Stillschweigend wird der Netz-Autor als Quotenjunkie gleichgesetzt – nur weil er auf Leserschaft aus ist.
Abgesetzt unter diesem Kapitel steht dann (immer noch Seite 33): Wir anderen müssen neue unzugängliche Gärten bauen! Zurück zur Avantgarde! Das klang schon im Spiegel-Text an. Strauß denkt kurz über das Führer-Prinzip und den George-Kreis nach, kommt dann aber zu dem Schluß: Den Führer gibt es nur noch als schräge Figur – in einem abwegigen Staat oder einer paranoiden religiösen Sekte. Ein geistiges Myzel indessen, eine untergründige Verbundenheit, ein ausschließendes Prinzip wäre wohl dienlich der Abwehr anmaßender Dürftigkeit.
Wie gesagt, es gibt eine Füllen von Erhellendem (ich habe das Buch erst angelesen) – zum Beispiel: Der Einzelnen und sein poetisches Reich – gegründet im neunzehnten Jahrhundert, niedergegangen im zwanzigsten, nur noch ein Märchen in unseren Tage. (Wirklich? Ach!) Weiter: Weder der Einzelnen noch letztlich die hohe Konzentration im exklusiven Kreis scheinen geeignet für kraftvolle und herrische Unzeitgemäßheit, abseits der digitalen Millionenscharen, die den Ad-hoc-Souverän generieren. Dafür geschieht jedem seine Unzeitgemäßheit Tag für Tag beinah unfreiwillig. Etwas in seinem Handeln, Denken, Empfinden und Sprachgebrauch ist mit Sicherheit h e u t e von gestern. (Seite 41)
Nein, es geht nicht darum, Strauß diese Möglichkeit zu nehmen. Das wird es auch in Zukunft nicht geben; seine Wortgewandtheit wird immer ein Magazin finden. Dass es Essayisten wie Strauß bzw. in der Sprache von Strauß nicht mehr geben wird – ist dies die Schuld der »digitalen Millionenscharen«? Vielleicht kommen ja seine Angriffe noch gegen die Nivellierung von etwas wie Bildung…
Ja, auch ich glaube, dass der Idiot gebraucht wird. Aber er muss mehr können als der Netzschwärmer, er muss sich nicht als Nörgler positionieren, der schön ornamental schreiben kann. Mir fehlt da – um es platt zu sagen – ein bisschen die Substanz.
zu #7
Ich bin mit allem einverstanden, die wichtigste Funktion der Kommunikation ist wohl die Auskundschaftung von Ähnlichen und die Feststellung von Schnittmengen.
Dies funktioniert nur auf direkten Kanälen, führt zu kleinen Gruppen und Freundschaften, Verbindungen konstruktiver und (ethisch) stärkender Art.
Was lehrt die schwüle Wolken einfältiger Botschaften über unseren Köpfen?!
GENAUSO funktioniert die Gesellschaft, die Politik, die öffentliche Beteiligung!
GENAUSO lautet ihre/unsere Utopie!
Das ist eine Frechheit, die wohl nur durch »unbarmherzige Genauigkeit« und ein »übermenschliches Maß« von Geduld abgebaut werden kann, denn: genauso funktioniert sie nicht, und zwar schon eine ganze Weile lang...
Indes bin ich ganz auf deiner Seite, die Rechte von Elfenbeinturm-Bewohnern müssen gestärkt werden. Das könnte z.Bsp. ein Slogan sein!
P.S.: das Geseiher derjenigen Minderheiten, die regelmäßig ihre Lobby lärmen lassen, geht mir inzwischen so was von auf den Senkel, das ich es auf kultivierte Weise nicht auszudrücken vermag. Auch da würde ich »unerschrocken« nachfragen. –Was genau habt ihr zu verlieren, außer der Tatsache, dass ihr »anders« seid?! Ich habe das scharfe Wort vom »Identitätsterror« geprägt. Und ich träume davon, den Spieß umzudrehen. Schwache Identitäten terrorisieren, das ist mein Ding.
Ach, ja! Vergessen: der Idiot ist fast schon eine logische Konsequenz. Beispiel, mein Nachfragen bei Machtspielchen. Das ist weder links noch rechts zu verorten. Da muss ein Idiot die Fragen stellen!
zu #8
Danke für die weiterführende Betrachtung. Es stimmt, Strauss kommt leicht altbacken daher, so elephantig. Er scheint nicht genau zu wissen, wo er hinwill. Man erkennt immer das Abstandsbedürfnis, die Groß-Geister-Verehrung, raffinierte exotische Wendungen, etc. Ich werf mal den Begriff der Gruppe in den Raum: dass Er, Du, Ich, etc. einer eigenen Spezies angehören und nicht-trivialen existenziellen Bedingungen unterliegen, scheint ihm nicht über die Lippen zu kommen. Anders: Abgrenzen macht Spaß, Intelligent-Sein, Geist-Sein, etc. ist das hohe Ziel. Der Weg kann aber keinen Heroismus beinhalten, weil Einsamkeit Scheiße ist, und niemand nur für sich alleine lebt. Dieses ursprüngliche Vergeben-Sein an die Menschheit, die Gesellschaft, oder sonst so’n Verein, ist ein masochistisches Topos, das abgeschafft gehört. Flott ausgedrückt: WIR gehören UNS!
@die_kalte_Sophie
Naja, mit WIR gehören UNS! kann ich rein gar nichts anfangen. Das ist derart plakativ, dass ich Magenschmerzen bekomme.
@ G. K.
Mir kommt es manchmal so vor, als ob Strauß’ Ehrgeiz als Sprachkünstler einerseits und als eigener „Kreis“-Begründer andererseits seiner Intelligenz in die Quere kommen. Er kann die gute formulierte Einsicht dann nicht einfach stehen lassen, und er hängt ihr noch einen Schlenker dran, der seine Analyse wohl ins Weite öffnen soll, deren Wirkkraft aber unterminiert.
Dass er nicht weiß, was er tut, glaube ich aber nicht. So jemand kennt sich selber sehr gut und wird da auch nicht bestechlich sein. (Der Rest, das Raunen – das mediale Klappern – gehörte dann in mehrerer Hinsicht eben zum Handwerk.)
Als „Reaktionär“ sehe ich ihn eigentlich überhaupt nicht (mehr) – das hieße auch Vokabular von Leuten aufzunehmen, von denen sonst nichts mehr kommt und denen ich mich längst auch noch ferner fühle. Dass Strauß als Dichter Zeitdiagnostik aber auch nicht genügen kann, verstehe ich auch.
Ja, und worauf der mit den „Lichter des Toren“ aus ist, geht mir jetzt auch nicht gleich auf. Ich habe seine Metamorphosen ja über die Jahre ein bisschen begleitet – und meist mit- wenn auch nicht immer nachvollziehen können. Das Ansinnen steht mir nicht zu, aber mir ist, ihm täte mal wieder eine andere Art „Rückbindung“, nämlich an ganz durchgängig gearbeitete, klassisch erzählerische Prosa gut. Vielleicht ist das Sentenziöse, das ihm mittlerweile ja auch abverlangte Zeitdiagnostische mittlerweile irgendwie auch zu sehr ein easy-way-out – eine künstlerische Falle?
(Der Vergleich ist ganz sicher unverantwortlich und ich entschuldige mich auch sofort dafür, aber so wie ein Böll irgendwann die Anträge zu seiner moralischen Instanzenhaftigkeit leid war und sich im – leider dann eher misslungenem – Schreiben wieder finden wollte, würde Strauß ein Roman auf einer gewissen Höhe vielleicht gut stehen: Alle wieder mit einem kraftvollen Buch überraschen, in der er seine Fragmentierungen gestaltet zusammenfügt? Ich verstehe, dass er weiter wollte, empfinde es aber doch so, dass sein Vermögen ohne die Hürde einer großen Form leidet und verliert.)
ALLERDINGS: Mit „epiphanischer Unverständlichkeit“ ist er da natürlich auch in ganz anderen Regionen, beim Erhabenen, beim Numinosen, Neo-Religiösen. (Vielleicht bei Martin Mosebach? In dem Beispiel aber: „mystifiziert“ Strauß da vielleicht weniger, wie Sie es nennen, als dass er – Theaterautor – sie szenisch-gestisch zu erweitern sucht?)
In jedem Fall berührt er, der sich umwidmende Anachronist, da Dinge, für die es außer den überlieferten oder von dort inspirierten Formen nur schwerlich oder gar keine modernen gibt. (Oder vielleicht doch? In der bildenden Kunst gibt es sie immerhin. Bei Anselm Kiefer und Barnett Newman, diese Richtung etwa – und die wurde auch oft umschrieben. Und außerdem nicht auch in, wenn nicht „avantgardistischer“ dann aber in der Dichtung? Deshalb der Rückgriff – oder die Rückbindung – auf Hölderlin und den „vom Grunde“ her sprechenden Heidegger.)
Letztlich verläuft da – und anscheinend will er sich ja eben dort aufhalten – seine von ihm anvisierte und erreichte, aus seiner Sicht schlüssige ästhetische Front. Um die Nachhut kann er sich da nicht mehr groß kümmern. Und auch Myschkin ist ja da konsequent.
Das wären also meine zwei Haltungen zu Strauß, zwischen denen ich schwanke.
Wer mir auch immer öfter einfällt – und er wurde ja genannt, es würde ja auch außersprachlich, in der Selbststilisierung des großen Schweigenden, der vom Rand her manchmal hereinruft passen – ist eben Stefan George und sein „Kreis“.
(Ich wüsste es gerade nicht, aber genau dieses Wort müsste Strauß eigentlich akzeptieren können, inkl. »Zeitwidrigkeit«, »große Entwürfe« – das ist nichts für alle. Womöglich sieht er sich da sogar in einer Erbfolge? Und ich meine das nicht unterstellend. Gestern gelesen, es gibt mehr und mehr, als Strömung eines ausdrücklichen Feminismus, moderne Hexen. Im Rollenrepertoire ist der Kreis und seine eingeweihten Jünger so gut wie die anderen an den Haaren herbeigezogenen Rollen auch.)
Und Führer? Ziemlich kontaminiertes Gelände. Ich würde Strauß gerne Mut attestieren gewissermaßen als einer der Wenigen noch solche geistig-intellektuellen no-go-areas zu betreten. Aber es scheint, er kommt nicht mehr in jedem Fall von dort mit Gewinnen zurück. („Je mehr Heiligkeit, desto mehr Gelächter“ um Lacan etwas abzuwandeln.)
Ich merke an solchen Stellen auch, wie fremd Strauß mir doch zuletzt ist, obwohl er eben einer der letzten Herausfordernden auf dem speziell das Deutsche umkreisenden ist. Das sind Dinge, vor denen ich mich sehr lange gedrückt habe, weil da alles nur noch hohl klang, selbst das, was ich hätte für mich akzeptieren können.
600-Millionen etwas abzusprechen ist natürlich auch blanke Chuzpe – oder willentliche Verkennung? Dass den neuen Geist (oder einen neuen Hölderlin) da niemand suchen kann, heißt ja nicht, dass es ihn nicht gibt. Allein die Unabsehbarkeit des Netzes ist in einer dichter und enger verstellten Welt eben für viele auch ein Horizont, ein Weltzugang, der sich unaufhörlich öffnet. Dass sich da auch immer was finden lässt müsste eigentlich auch ein Botho Strauß sehen. (Der sich ja sicher im Netz bewegt und entsprechende Erfahrungen macht, selbst wenn er die Hürden höher legt als alle anderen.)
Ja, und von der „Anpassung nach unten“, der bekannten „Herunterdemokratisierung“, kann er nicht lassen – Strauß ist eben auch eine Marke. Aber mit dem Reflex ist er ja nun längst nicht mehr allein.
Ja, Strauß findet wohl weiter seine Zeitungsseiten – aber er spricht ja hier auch für andere, gegen eine Tendenz. Was ich ihm ankreide, ist, dass er die vielen Gegenbeispiele, die Ausnahmen, die Gegentrends, die Arbeit der ja auch vielenvielen Einzelnen unter den Teppich kehrt. Der Quotenterror wird hoffentlich bald seine Kinder fressen. Die anderen „Idioten“, die Herde in der Gesellschaftsmitte, die es als „kritische Masse“ für den Konsum und Stabilität der Verhältnisse die braucht, sind ja heute auch schon als Hindernis für fällige Veränderungen benannt. Wenn es dann tausende Unterhaltungsprogramme gibt, ist auch die Quote vielleicht irgendwann hinfällig. Nicht umsonst gehen die Reklameattacken ja heute schon von den Mülltonnen aus. (Das ist als aktuelles Beispiel wie aus einer P.K. Dick Story doch zu bezeichnend.)
(Sorry für die ganze Suada – es fiele mir sogar noch viel mehr ein! Was das wohl bedeutet… )
@die_kalte_Sophie
Ich glaube, das mit der Utopie habe ich nicht verstanden.
Und hattest Du Dich nicht gegen Identitäten ausgesprochen? (»Identitätsterror« und »Diese Identität, um es deutlich zusagen, halte ich für eine Missgeburt der Moderne.«)
Was ist der Punkt daran, »schwache Identitäten zu terrorisieren«?
Mit welcher Zielrichtung? Mit welchen Waffen gegen wen?
(Sind keine rhetorischen Fragen – ich kapier’s wirklich nicht.)
zu #13
Richtig, habe mich gegen Identitäten ausgesprochen. Längere Geschichte, kann ich hier nur kurz erklären.
Der sozialpsychologische Begriff der Identität gründet auf der Zugehörigkeit zu Gruppen. Die Identität steht synonym für alle virulenten Anteile der Identität.
Es gibt auch aber Pseudo-Anteile, die reinen Rollencharakter haben, an die also streng genommen niemand glaubt. Es sind Obstruktionen der Zivilisation, Zumutungen, Verpflichtungen...
Ich zähl mal auf so ein paar Pseudo-Identitäten auf, dann wird es rasch klar:
—Arbeiter, Bürger, Vater, Deutscher, Liberaler, etc.
Echte Identitäten bzw. Identitätsanteile:
—Künstler, Wissenschaftler, Sportler, Christ, SPD-ler, Familienvater, etc.
Interessant die Reaktion von Gregor, als ich ihn und Botho Strauss zusammen mit mir selbst in ein Künstler-Boot gesetzt habe: (s.o.) Magenschmerzen.
Soll keiner behaupten, das wäre nur ne Theorie, oder?!
Zurück zum Thema: die Altvorderen sind Meister in der Verschleierung ihrer »Identität«, ein geistreiches aber wenig fortschrittliches Spiel mit Rollen und Zugehörigkeiten im nominellen Stil der Abstraktion. Oh, Sprache, oh Dunkelheit! Nichts gegen Spiele, aber die wissen oft nicht so ganz genau, was sie zwickt und treibt.
zu #13, die zweite
Entschuldige mich für meine kleine sadistische Phantasie, in der Tat hätte ich Mühe, konkrete Terrorprojekte vorzuschlagen.
Habe versucht, zum Ausdruck zu bringen, wie sehr mich der liberale Fetisch des Minderheitenschutzes stört, da Minderheiten entweder ethnischen, sexuellen oder religiösen Charakter haben, in jedem Fall also nur ein schmaler Teil, ein meist schwach konturierter Teil des Ensembles »Identität« sind.
Umgekehrt kommt mir eine kulturpolitische Vertretung etwa von »Homosexuellen«, von »Romas« oder von »Muslimen« fast unrechtmäßig vor. Ich glaube an kein Expertentum, an keine Neo-Ritterlichkeit bei diesen Fürsprechern, ich bin geneigt, das für eine Usurpation zu halten, sagen wir, so wie die CSU die bayerische Christenheit vertritt.
Zurück zum Thema: allmählich wird das schwarze Loch deutlich, hoffe ich, das ich in einem »Funktionär«, einem singulären Fürsprecher namens Idiot zu entdecken meine. Wer tritt hier für wieviele Leute ein, und was genau haben die zu verlieren?!
Strauss kann man mit meinem Soziogramm nicht analysieren, das wird hoffentlich klar. Er schreibt traditionell »...von Botho alias Der-IDIOT, für alle und keinen...«.
Die Kritik, die ich damit verbinde?!–Fehlt jede Menge Welt, wenn man so schreibt. Kritik des Stils. Kritik an seiner Mache.
@ die_kalte_Sophie
Obwohl ich mit einigen Deiner Aussagen sympathisieren könnte, wäre es hier wohl der falsche Platz, das herauszuarbeiten und zu präzisieren.
Der „Idiot“ aber, in dem bislang behandelten Strauß’schen Sinne, hat ja, obwohl er mit dem Anspruch antritt für alle zu sprechen, eben die Würde – oder sogar den Status – dass er das erst einmal nur für sich tut, von seiner oft bewussten Außenposition her. Erst das macht ihn auch für mich singulär und darin so verteidigungswert. Er muss sich niemandem ab- oder angleichen.
Ich sehe ihn in Deinem Sinne auch nicht als schwache Identität – er wäre eine, die diesen ganzen Charakterisierungen eher weniger unterliegt.
Noch einmal stark (und also falsch) vereinfacht: Der Narr sagt in jedem Fall die Wahrheit und hat das Recht dazu, auch wenn diese mit keiner anderen Wahrheit in keiner anderen „Identität“ zusammen fällt. Und genau das wäre seine a-/soziale Kraft, die wieder Gemeinschaft schafft.
Was mir gestern noch eingefallen ist, ich aber nicht ausgeführt habe, obwohl es mich dazu drängte, ist seine strukturelle Verwandtschaft mit dem Sündenbock – bitte hier nachlesen.
Dazu passte dann auch die leieb Gewohnheit unter Menschen den Boten für die Nachricht zu köpfen, wie es in unserer famosen Öffentlichkeit andauernd von minder bemittelten Geistern passiert. Der Narr hat dne kleinen Schutz seiner vermeintlichen Unernsthaftigkeit. Und doch hängt an ihm die größere Sprengkraft.
@herr.jedermann
Dass einem dazu so viel einfällt, spricht ja für Strauß. Und er hat natürlich mit seiner Klage über die fortschreitende Nivellierung, Gleichmachung, Herunterdemokratisierung, die in immer anderen Nuancen akzentuiert wird, sicherlich auch recht. Die Verwandtschaft zu Leuten wie Mosebach ist sehr schön gesehen. Und wenn das Wort nicht schon zu sehr kontaminiert wäre, müsste man es doch bringen: Elite.
Das »geistige Myzel«, die »untergründige Verbundenheit« – ist das nicht verwandt mit Handkes früherem Ideal des »Volks der Leser«? Sucht nicht auch Strauß eine neue Form des Zusammenlebens von Gemeinschaften? Im Unterschied beispielsweise zu Handke ist bei Strauß eine solche Gemeinschaft aber nicht inkludierend, sondern ausschließend, d. h. es wird festgelegt, wer nicht dazu gehört. Und sie ist am Ende hierarchisch. Legitimiert würde sie dann durch eine Art »Testverfahren«? (So kommt es mir den Sinn.)
Inwiefern sich Strauß im Netz bewegt – keine Ahnung. Wenn ich sage, er weiss nicht, was er tut, dann ist das dahingehend zu verstehen, das er derart pauschale Urteile entweder nur aus Unkenntnis oder aus Provokation fällen kann. Ich glaube, dass das diffuse Unbehagen weitaus stärker präsent ist als das Wissen um den »Gegner« (der ja überhaupt nicht homogen ist, aber so gemacht werden muss, um ihn in den Orkus zu befördern). Sein Namedropping wirkt mir etwas hilflos; es fehlt ja nur noch Nietzsche, aber dann zwei später irre gewordene dabei (und fast ist es interessanter zu suchen, wer fehlen wird [Goethe? Kafka – sicher: Kafka ist kein »Idiot«]).
Wo das Irdische dann Zuflucht in eine tiefe Vergangenheit nehmen muss, eilt dann zur Assistenz das Numinose herbei (wie Sie richtig schreiben). Die Mischung, die entsteht, ist schwer angreifbar: Wer widerspricht, wird flugs zum Mitschreiber des »Unbuchs«.
Ich glaube, dass die Lektüre ist sehr schön. Man wird vielleicht mit dem Kopf nicken – aber womöglich unter seinem (= Lesers) und seinem (= Strauß’) Niveau. Es lockt mich nicht einmal mehr, dem etwas hinzuzufügen.
@die_kalte_Sophie
Ich glaube an kein Expertentum, an keine Neo-Ritterlichkeit bei diesen Fürsprechern
Was Sie so vehement kritisieren, ist das Sprach- bzw. Politikspiel dessen, was man Pluralismus nennt. Minderheiten können Mehrheiten bzw. der Mehrheit nur durch Zusammenschluss politisch und sozial begegnen. Schon, damit sie nicht von der Mehrheit bevormundet (wenn nicht Schlimmeres) werden.
Ich möchte an den guten König glauben. Aber es gelingt mir nicht.
zu #18
Ja, das stimmt. Ich bedauere die Minderheiten, welche dem Pluralismus in die Falle gehen. Sie müssen sich organisieren, »uniformisieren»und sogar ihren Status als bedrohte Gruppe langfristig akzeptieren. Aus der Nummer kommen sie dann nicht mehr raus, siehe U.S.A.
Ich glaube, gruppendynamisch ist der sog. Pluralismus weitaus verhängnisvoller als sein »guter Ruf« verrät. In meinen schlimmsten Alpträumen sehe ich die ganze Menschheit ganz pluralistisch in den je eigenen Ghettos verelenden. Geistig verelenden. Darauf zielt auch meine Unetrscheidung ab, –schwache Identität=pluralistisch konform, –starke Identität=pluralistisch non-konform, sezessionistisch, »terroristisch«
zu #16
Den Hinweis auf Girard, den ich nicht kannte, finde ich spannend. Demnach müsste Strauss in der postarchaischen Ära den Mechanismus des sozialen Blitzableiters verändert haben. Statt seiner Person benennt er ein Pseudonym »Idiot« und stattet dieses mit den Eigenschaften aus, die er beschreibt, in der Hoffnung, dass ein kollektiver mimetischer Prozess, den wir alle (zum Teil) als destruktiv erleben, damit stillgelegt werden kann.
Die Entfaltung dieser Wirkung findet natürlich auf der metaphysischen Ebene statt, d.h. Strauss passiert nichts, und uns allen geht es schließlich besser, weil wir etwas klüger und aufmerksamer geworden sind in unserem kommunikativen Alltag, nachdem wir das Buch gelesen haben.
Ja, das ist was dran. Das ist ungefähr das Wirkungsschema, das dem Strauss’schen Interventionsversuch zugrunde liegt.
Ob das realistisch ist, braucht man nicht zu fragen, –Metaphysik ist nie realistisch. Irritierend ist für mich das schizoide Moment: es handelt sich um ein recht hochwertiges Opfer (Strauss persönlich, wenn man die Maske abzieht!!), und dieses soll sogar verehrt werden, und nicht geschlachtet.
Es ist klar: große Gefahren werden durch hochwertige Opfer abgewendet, aber der zweite Teil ist unstimmig... Das Opfer kann nicht zugleich das Modell sein.
@ die_kalte_Sophie
Leuchtet mir nicht ganz ein, Dein skizziertes Wirkungsschema.
Wieso soll der „Idiot“ (der mir sowohl als Beschreibung wie als Terminus technikus einer‑, als antikisierende Rückbindung auf eine ältere Gesellschaftsordnung andererseits erscheint und einleuchtet) ein „Pseudonym“ sein? Dann wäre er ja wiederum jemand anderes und müsste erst identifiziert oder herausgearbeitet werden. Er ist aber doch gerade erst benannt worden. Das verstehe ich nicht.
Und ich sehe seine Wirkung auch nicht auf metaphysischer Ebene, sondern sogar sehr konkret, sozial, da sich an ihm und das, was er von sich gibt, ja alles mögliche entzündet. Das wäre also auch – und nicht erst langfristig – eher konstruktiv als destruktiv.
(Ich habe mich heute kurz gefragt, ob nicht Edward Snowden ein Idiot ist – in also nicht dem vordergründigen Sinne, sich in die Nesseln zu setzen, sondern in dem besseren Sinne, zugunsten des bisher Unwissenden von seiner Insider- in eine Außenseiterposition zu gelangen: Als Warner, als „Seher“ usw. Denn nicht weit weg von da, vom Künstler, Dichter oder Intelligenzler, lokalisiere ich auch ihn.)
Ich sehe da eine Verschiebung, weg von seiner Person zu einer (reklamierten oder erhofften oder von mir aus angemaßten) Funktion. Oder einer Rolle. Aber doch immer noch zum Vorteil für andere, sogar noch in der Selbstverkennung, die in jeder Rolle steckt. Die aber auch immer nötig scheint. Nach meiner Lesart – auf die ich ihn hier also ein weiteres Mal verenge – versucht Strauß eben das herauszuarbeiten, wie die Bedingungen angesichts der unüberblickbaren Vielen liegen und wie die Rolle womöglich trotzdem auszufüllen ist. Die neue, alte Unübersichtlichkeit.
Ich sehe da für Strauß (er „leidet“ ja unter den beschriebenen Zuständen, wie auch Myschkin etwa leidet) weniger ein vorrangig eigenes Interesse (etwa nach Ruhm) als so etwas wie einen Geltungsanspruch für seinesgleichen, für einen Kreis (oder eben, den Anspruch kann man nicht wegreden) die als notwendig gesehene Funktion einer Elite. (Der Begriff wird oft als anrüchig verstanden, was er meint, wird aber in jeder Gesellschaft gebraucht.)
Ansonsten muss / will der Idiot real hervortreten (oder seine Funktion wahrnehmen), er muss Laut geben. Während das Opfer seinen Status (oder sein Erwähltsein) zugewiesen bekommt, im Passivmodus ist (und die Gesellschaft zuletzt auch in „Zerknirschungen“ stürzt).
Und das „Modell“ ist überhaupt der größere Zusammenhang, in dem beide (alle) fungieren.
zu #21
Hmmm, ich seh schon, wir stecken jetzt in ernst zu nehmenden Schwierigkeiten. Als Reaktion darauf habe ich mir die vorgeschlagenen literarischen Kategorien für »Lichter des Toren« angesehen.
Das sind: Essay, Aufsatz, Textgewebe, »Buch«, Verteidigungsrede
Ich denke, die Einordnung des Idioten als Pseudonym, Figur, Rolle, »Opfer«, und die daraus erzeugten Abweichungen unserer beider Analysen kommen von dort her.
Ich würde den Text gern eingehend analysieren, weil ich glaube, dass hier ein Verschnitt aus Parabel und Sentenzen-Sammlung vorliegt. Gregor ist darauf leider nicht eingegangen.
Von einer rein erzählerischen Figuration (davon bin ich in #20 ausgegangen) kann man wohl nicht sprechen. Deshalb verstehe ich deinen Einwand und die Argumente, die den Idioten von Strauss’ens Person abrücken. Es ist, wenn ich meinen und deinen Faden zusammen spinne, eventuell sogar der Versuch, einen Text und eine Figur separat anzuordnen. Literarischer Separatismus. Die Figur selbst sagt überhaupt nichts, und der Text selbst wirkt entsubjektiviert als hätte man es mit einem Lacan’schen Sprecher zu tun. ES spricht, und ER lacht, blödelt, torkelt, stürzt...