TAGEBUCHEINTRAGUNGEN ZWISCHEN 23. AUGUST 1983 UND 11. SEPTEMBER 1983 – 2. Teil [hier Teil 1]
26.8., Freitag
(...) Meine erste Nacht im »Mobile Home«, der Nachbar Barney hat seinen Wohnwagen zur Verfügung gestellt, kenne den Mann nicht, jedenfalls Annas Idee, mich dort nur schlafen zu lassen, aber in ihrem Haus das Duschen, Essen, Sprechen. Bin natürlich einverstanden – obwohl mir das Schlafen auf der Wellencouch beinahe lieber war. Im Wohnwagen Lärm von der Straße – und er steht abschüssig: Füße um Einiges tiefer als der Kopf. Lese noch kurz, es gibt Licht im Wagen – fühle mich eigenartig einsam.
30.8., Dienstag
(...) Abends zu meinen Alten – bekomme Champagner, der mich todmüde macht. Als es besser wird, sitze ich mit Anna allein, Albrecht J. nicht bei uns. Wir trinken Rotwein. Und Anna erzählt ad Werfel, Alma, Ernst Křenek1, etc., mache Notizen, wieder kein Taperecorder, sie will das nicht...ich versteh’s. Alice Herdan-Zuckmayers Angaben ad Werfel-Haus auf der Hohen Warte waren falsch. So wird Geschichte geschrieben – auf NICHTS ist Verlaß. Alle Quellen DOUBTFUL. Daran werden Film- und Ton- und Photodokumente nicht viel ändern können. Nur das äußere Bild wird präziser, keineswegs das INNERE.
1.9., Donnerstag
Morgens durch die Nachrichten erfahren: UdSSR hat südkoreanisches Jetflugzeug abgeschossen, 269 Tote – in meinem Leben die unfassbarste Nachrichten-Geschichte...ein Düsenjäger-Pilot, der zweieinhalb Stunden ein Passagier-Flugzeug verfolgt und dann die alltödliche Rakete abfeuert, ein solcher Pilot ist auch fähig, über New York, Köln, Glasgow Die Bombe fallenzulassen oder per Raketenkopf hinzukatapultieren. Aber auch das »Katapultieren« muß ja von Menschenhand bedient werden. Und die Russen haben solche Hände zur Verfügung, ganz offenbar. Bin überrascht, wie MILD der Westen zunächst reagiert. (...) Abends sagt mir Anna, sie habe in den letzten Tagen zu viel über ihre Mutter und Werfel gesprochen, sie müsse zur RUHE kommen, vor ihrer Reise, sie denke ununterbrochen an all das Wieder-Aufgebrochene und habe Nachts Alpträume, heftig, komme nicht zum Abschalten. Verstehe sie GANZ, habe vielleicht auch übertrieben mit meinem Immer-Weiter-Bohren – sie sollte jetzt eine Zeit lang von mir in Ruhe gelassen werden. Wir vereinbaren Samstag Vormittag für ein Tonband-»Interview«.
5.9., Montag, Labor Day
Abschied von Anna, ihr Abflug nach China. Albrecht J. bleibt allein zurück, sein trauriger Hundeblick. Und ich bleibe nicht bei ihm, was ihm sicher lieb gewesen wäre, sondern fahre nach Santa Barbara. Besichtige den Park, in dem das El Mirasol Hotel2 einst stand, heute nur Park, kein Gebäude, keine Bungalows mehr. Bin um 15h bei Stephan Lackner3 und seiner Frau, in ihrem Privat-Tusculum – herrlicher Garten, paradiesisch ist es hier. Erzähle ad Werfel-Projekt, Gretl Lackner kannte ihn damals, im El Mirasol, sprach öfters mit ihm. Die phantastischen Beckmann-Gemälde im Hause Lackner, u.a. »Selbstbildnis mit Horn«; jetzt erst, als 30-Jähriger, begreife ich die Besonderheit dieser Bilder, spüre jetzt erst, was von ihnen ausstrahlt, war früher nicht »entjungfert« in Bezug auf mein Malerei-Verständnis. Aber das Munch-Erlebnis in Bergen, vor drei Wochen, hat mir gezeigt, daß sich da viel verändert hat. (...) Zäher Freeway-Verkehr, dann Besserung, bin um ca. 8h zurück bei meinem Albrecht Joseph – wir essen gemeinsam – habe in meinem Leben noch nie einen Menschen so entsetzlich hässlich essen gesehen, wie A.J. – wie ein verwahrlostes Tier. Und Mammutbissen, obwohl ihm die obere Reihe seines künstlichen Gebisses fehlt. Und dazu sein Sanftmut, sein verwandtschaftliches Verhältnis mir gegenüber. Ich schlafe in Annas Bett!
6.9., Dienstag
Abends beginnt Rosch Haschanah4, fahre nach Westwood, zu einem Lubavitscher5-Bethaus, das noch Rohbau ist. Holzplanken, Betonböden, ohne Fenster, ohne Türen, die Zugluft als »Aircondition«, improvisierte Stühle, Trennung Männer/Frauen mit einer improvisierten Spanischen Wand, alles sehr rührend und irgendwie schön. (...) Als Beiwohner an diesem Geschehen: Bob Dylan, eigenartigerweise – mit seinem jüdischen Producer? Schiele natürlich immer zu B.D. hinüber, wie er reagiert, ich glaube, es erkennt ihn hier gar niemand. Dylan blickt betreten zu Boden – erinnert mich an Handke, in seiner Art, irgendwie. Seinen Jesus-Trip scheint er ganz aufgegeben zu haben? Und die dümmliche Ansprache des Rabbiners! Er spricht ad PRÜFUNGEN, alles sei Prüfung – auch die Reborn-Christian-Bewegung. Ich blicke zu Dylan – ein ganzer Abschnitt ad Juden, die vom Christentum eingefangen werden. Glaube aber nicht, daß der Rabbiner von Dylan weiß! Ich möchte mit D. sprechen und tue es nicht – und als die Gemeinde Wein und Kuchen zu sich nimmt, verschwindet Dyl. mit seinem Begleiter – sehe ihm noch nach, als er die Stufen hinunter geht – seine krummen Beine fallen mir auf.
© Peter Stephan Jungk
Wird fortgesetzt!
Der Komponist Ernst Křenek (1900 – 1991) war Anna Mahlers zweiter Ehemann ↩
In den letzten drei Jahren seines Lebens, 1942 – 1945, pendelte Franz Werfel zwischen Los Angeles und Santa Barbara. Bewohnte einen Bungalow des Hotels, schrieb hier, u.a. sein letztes Werk, den bemerkenswerten Science-Fiction-Roman "Der Stern der Ungeborenen" ↩
Stephan Lackner, 1910 – 2000, war ein deutschamerikanischer Schriftsteller und Kunstsammler, einer der engsten Freunde des Malers Max Beckmann ↩
Das jüdische Neujahrsfest ↩
Eine chassidische Gruppierung innerhalb des orthodoxen Judentums ↩