TAGEBUCHEINTRAGUNGEN ZWISCHEN 23. AUGUST 1983 UND 11. SEPTEMBER 1983 – 3. Teil [hier Teil 1 und hier Teil 2]
8.9., Donnerstag
Nach dem Mittagessen mit Albrecht Joseph nach Santa Monica gefahren, im Rücken meines Geburtshospitals St. John’s Hospital liegt ein Sterbeheim, da ist Gina Kaus1 seit ca. 1 Woche untergebracht. (...) Ginas Haushälterin, die als Erbin eingesetzt ist, will schon endlich erben, will den Sterbeprozeß einleiten, nahm eine unwichtige Begebenheit zum Anlaß, Gina in diese Hölle einliefern zu lassen. Ihr Sohn, Otto Kaus, gab sein Ja-Wort, bevor er für 3 Wochen nach Europa flog, auch er will Gina los sein, offenbar. Wie arm sie dort ist, eine Erniedrigung! Herrliche Rosen, wie zu jedem jüdischen Neujahr: von Arthur Cohn2. Und hier, im Sterbeheim, rollt »Hedda« aus Werfels »Barbara«-Roman3 im Rollstuhl umher, rundherum die Skelette mit aufgerissenem Mund, man sieht in alle Räume hinein...Ein Nebenzimmer hat ein Schild an der Tür: ausgestrichene Ohrmuscheln, das soll heißen: die Insassinnen hören kaum bzw. gar nicht...Die Halbtoten sind in einem Musikzimmer versammelt, singen zu Klavierbegleitung »God Bless America!« Ca. 1 Stunde dort, Gina macht mir Liebeserklärungen, fleht gleichzeitig, man möge sie von hier losbekommen, vielleicht kann Friedl Hacker4 helfen? Fahre zu ihm, neues Office, am Wilshire Boulevard, häßliche Gegend. Erzähle ihm ad Gina, er wird nichts machen können – aber sie vielleicht besuchen gehen.
10. 9., Samstag
Rufe Ginas Sohn Peter an (Otto in Europa)...versuche, ihm das »Spital« zu schildern – er behauptet: wenn die Haushälterin Gina zurücknehme, könne Gina (wenn auch ihr Arzt ja sage) am Montag entlassen werden. Mein Packen. Habe extremes Reisefieber. Albrecht J.-Gespräche und Dank, Abschied, unvergeßliche Tage in der Oletha Lane...Fahrt zum Airport bei Dämmerungs-Orange-Licht...Über eine Stunde Zeit nach dem Einchecken – werde von einer Traumfrau angesprochen: Alt-Hippie, lebt auf Maui, Hawaii – handelt mit Schmuck. 37 Jahre alt. Und wohnt im Paradies – auf erhöhtem Punkt, die Dschungelinsel überblickend. Kam mit American Airlines Flug aus Honolulu, L.A. als Zwischenstation. Adrienne Zinner heißt sie. Mein Traumgefühl in L.A., Jumbo-Jet, Nacht, Angst, Lust auf New York, alles gemischt und unwirklich. Adrienne sitzt am hintersten Sitz der Mammut-Maschine. »I’ll walk you home«, sage ich und begleite sie dorthin. (...) Setze mich zu Adrienne – von Schlaf natürlich keine Spur. Sie spricht von ihren verschiedenen Männern, der »wichtigste«, er arbeitet in einem berühmten Observatorium auf Maui und ist Alkoholiker, hat sich von A. vor einigen Monaten zurückgezogen, sie ist seit längerer Zeit mann-los; und jetzt unterwegs nach Jamaica, via New York, um ihre (aus Rußland und Rumänien stammenden) Eltern zu besuchen.
11. 9., Sonntag
Durch die Nacht geflogen – denke dauernd an die sowjetische Rakete, wie sie den Körper des Flugzeugs durchbohrt, das Entsetzen der Reisenden, unfaßbar. Und manche überlebten die Attacke vielleicht, lebten noch bis zum Aufprall auf dem Ozeanwasser, 12 Minuten (!) später...nein, sie müssen ja durch die Winde im Flugzeugkörper herausgerissen worden sein, ins »Freie« – flogen vielleicht bei Bewußtsein in die Tiefe? (...) Ganz sachte, kaum wahrnehmbare Berührungen zwischen Adrienne und mir...am Oberarm, an der Schulter...Und plötzlich Lichtermeer – New-York-Nähe – und erste Dämmerungsstreifen – erstes Licht, langsam, langsam, A. entdeckt es als erste...Landung bei Halblicht (...) Unser gemeinsames Warten auf A.’s Gepäck...wäre ich 10 Jahre älter, oder A. 10 Jahre jünger, wir blieben zusammen, meint A. (...) Zum Abschied küßt sie mich auf die Lippen – und ist verschwunden...
© Peter Stephan Jungk
Gina Kaus, 1893 – 1985, österreichische Schriftstellerin und Drehbuchautorin ↩
Schweizer Filmproduzent und sechsfacher Oscar-Gewinner ↩
Gemeint ist der 1929 erschienene Schlüsselroman "Barbara oder die Frömmigkeit", in dem Gina Kaus eine Protagonistin ist ↩
Friedrich Hacker, Psychoanalytiker aus Wien, 1914 – 1989, hatte seine Praxis in Los Angeles, die sogenannte "Hacker-Clinic" ↩