TAGEBUCHAUFZEICHNUNGEN NOVEMBER 1983
11. November 1983, Freitag, Köln, Stuttgart
Um 13h Treffen mit Cramer1 – wir beide sind mit Johann Kamps, dem Hörspiel-Redakteur des WDR, verabredet. Gemeinsames Mittagessen bei einem Chinesen. Keine wirklich gute Stimmung, und Kamps ist mir keineswegs sympathisch, vielleicht auch ich ihm nicht. Er kommt mir eigentlich wie ein DDR-Kulturfunktionär vor. Sehr andere Wellenlänge und »Baustelle«. Seine kritische Haltung mir gegenüber – er möchte wissen, woran ich zur Zeit arbeite. Erwähne das Stück2. Daraufhin seine (berechtigte) Frage: wie kann Ihr Protagonist (Wohnaut) sich eine Schiffsreise leisten? Kamps bohrt – das ist ja gut, an sich, aber er macht’s irgendwie HÄMISCH, will mir scheinen. Cramer und er hacken dann gemeinsam auf meinem Hörspiel-Text herum, ich wehre mich ungenügend. Als Kamps über den geplanten Roman3 etwas wissen will, refüsiere ich die Antwort; erzähle stattdessen ein wenig ad Franz-Werfel-Projekt4 und wie ich’s mir vorstelle.
Nachmittags mit Cramer allein in einem Café-Drugstore, bis 17h. Wir sprechen. Erzähle ihm die letzten Jahre, Berlin, Salzburg, Schweiz, L.A., Schreiben. Von meinen Büchern weiß er nichts. Über Handke sagt er: »Alles unoriginell. Nur ein Populärmachen bereits bestehender Trends.« Als ich von Handkes »Kaspar« schwärme, meint C. bloß: das sei eigentlich Queneau-Kopie…Cramer sagt, er sei bezüglich der Abwendbarkeit des 3. Kriegs5 vollkommen hoffnungslos – habe jeden Funken Hoffnung aufgegeben, dass der 3. Krieg noch zu verhindern sei. Ausserdem wünschten die Menschen ihn ja herbei. »Die Völker wollen Krieg.« Seine Haltung gegen die Friedensbewegung, vor allem, weil sie gewaltfrei agiere. Er selbst könnte nicht schießen oder Bomben werfen, aber Terror und Gewalt vermögen etwas auszurichten: seine Achtung vor der Baader-Meinhof-Gruppe. Ensslin und Meinhof kannte er sehr gut, mochte beide sehr. Baader nicht, da dieser extrem KALT und unmenschlich war. Ensslin und Meinhof verhalf er in Rom zu Unterschlupf, sie wohnten bei Freunden von ihm. Er behauptet, die Ermordung Aldo Moros6 sei mit CIA-Hilfe geschehen, da A.M. einen Kompromiß zwischen Democrazia Christiana und den KPI-Kräften durchsetzen wollte. (…) Wir sprechen davon, daß ich so naiv und in Watte eingepackt blieb, durch das Elternhaus. Er sagt, jetzt verstehe er, wieso der Text »Suchkraft« so zerbrechlich und realitätsfern sei. Und alles in »Suchkraft« spiele in der »gehobenen Gesellschaft«; er eröffnet mir, das Hörspiel im Grunde nur gemacht zu haben, um mich vor dem Zugriff eines anderen Regisseurs zu schützen, zu verhindern, daß ein anderer das ganz falsch und hart und dumm inszeniert und dadurch vernichtet. »Oktave« gefiel ihm weit besser, auch so ZERBRECHLICH, aber einfach ehrlicher und bescheidener sei das gewesen. Er schreibe keine Bücher mehr, er wolle nicht Marktobjekt sein – Bücher seien nur noch Produkt; und Futter für scheußliche, dumme Kritiker. Cramer hat etwas Distanziert-Zärtliches an sich – eigenartige Figur. Gemeinsam zum Funkhaus, bleibe noch 1 ¼ Stunden im Studio, Mischung, Schneiden, etc. Verabschiede mich von den 4 Menschen, die die letzten und nächsten Tage mit meinen Worten, meinen Ideen lebten und leben werden. »Fiebere« meinem ersten Theaterstück entgegen, wünsche mir eigentlich nichts sehnlicher, als ein Stück zu schreiben, was für ein Rauschgefühl das wäre! (…) Um 18h57 mein Zug nach Stuttgart – früher undenkbar: Schabbat7 auf Reisen! Lese, schreibe aber auch Tagebuch. Speisewagen, scheußliche Gesichter ringsum, vier Stunden Fahrt, um 22h51 in Stuttgart. Und Vater8 überraschend am Bahnsteig! Wirkliche Freude darüber. Bin sein (geheimer) Gast in Zimmer 301, Steigenberger Hotel »Graf Zeppelin«, vis à vis des Bahnhofs. Wir spazieren die Fußgängerstraße hinauf, reden, erzählen einander. Z. B. Vater ad einem Polizisten, der sich bei ihm ausweinte, er wolle nicht Polizist bleiben, nachdem er erlebt hat, wie 20 Kollegen jubelten + klatschten, während einer Diskussion über Gehorsam + Befehle-Ausführen, da rief jemand: »Und vergasen würden wir auch!« Daraufhin der Applaus. / Um ca. 12h in »unserem« Zimmer, wir Luxus-Bums9, liege auf einer Couch am anderen Raum-Ende. Guter Schlaf.
13. November 1983, Sonntag, Salzburg
Mein Rendezvous mit Peter Handke. Kein Bus, will nicht mit dem Taxi dort ankommen, Leopoldskroner Weiher, ehemaliger Seegasthof, jetzt Mafia-Lokal, Pizzeria »Milano«... / Eile zu Fuß, durch die kalte Dunkelheit – bin nur 5 Minuten zu spät – durchschwitzt – P. schon da. Sieht besonders lieb und traurig aus, habe ihn wirklich sehr gerne. Wir sprechen recht intensiv, nach etwas Orvieto bin ich auch entschüchtert, erzähle ad L.A.10, Anna, Mobile Home, UCLA – aber der schiefe Wohnwagen, das gefällt ihm am besten. (…) Frage ihn à propos Marie11, sie gefällt ihm eigentlich ganz gut, in ihrer Unverdorbenheit + Natürlichkeit + Frechheit. Das »Normale« an ihr. Gut schlafen kann er nachts nur dann, wenn eine Frau neben ihm liege -. /
Alle Hausarbeit macht er übrigens allein – die Böden, die Fenster, die Wäsche, das Bügeln – gibt zu, daß es ihm manchmal zu viel wird. / Wir trinken + trinken – er geht einmal telephonieren, als er zurück ist, gesteht er: Marie. Und mitten im Sprechen, ca. ¾ Stunde später, krabbelt eine Hand in meinen Haaren herum, erschrecke, da steht Marie, in voller Ledermontur, sehe, wie peinlich das dem P. ist, aber er hatte ihr ja gesagt, wo wir sitzen. Das Ganze entgleitet zur Farce – hätte ja auch gut gehen können, entartete aber dank meiner Trunkenheit + der Schwierigkeit zu DRITT, in Frieden miteinander umzugehen – noch dazu zwei Männer, eine Frau. Marie extrem geschminkt + sehr artifiziell, ich attackiere sie sofort à propos Feuerwerk-Sendung12, Samstag Abend. Und Marie holt zum Gegenschlag aus – die nächste halbe Stunde besteht aus ihrem Verteidigungs-Gebrüll, und einer Mich-Beschimpfung, deren Wortlaut ich erfreulicherweise vergessen habe. P. hatte die Sendung nicht gesehen, da zu gleicher Zeit eine Geburtstagssendung für Loriot lief, die sah er mit Amina – aber er hält dennoch zu mir, und je mehr wir zusammenhalten, desto wilder wird die Schauspielerin. Sage nochmals, die Feuerwerkssendung sei schlecht gewesen, bringe Marie damit endgültig in Rage. Sofort werde sie das in Wien melden – und ich möge mich dann vorsehen, würde meines Lebens nicht mehr so sicher sein! P. versucht zu schlichten, scheint verwundert, daß wir zwei uns so heftig streiten – wie ein zumindest ehemaliges Liebespaar. Immer noch mehr Wein. 1 ½ Liter hat dann am Schluß jeder von uns beiden getrunken. Marie unverändert – die Rolle der Bachmeier13, die sie jetzt in einem Film spielte, scheint auf sie abgefärbt zu haben – daher dieses wild-irre, harte Wesen. Dieser Fanatismus für Heller, den sie P. gegenüber im Sommer ganz klar und distanziert beschrieben hatte. Aber seit sie mit Heller wieder versöhnt ist, ist sie wie ausgewechselt [...] / M. chauffiert uns, ich merke, sie will mit P. noch allein sprechen und mich zuerst absetzen, aber wir protestieren, P. will am Fuß des Mönchsbergs abgesetzt werden, sie fährt daran vorbei, wir brüllen: Stop! Endlich bleibt sie stehen, »spring’ raus!« rufe ich ihm zu. (…) Während sie P. Adieu sagt, setze ich mich aus Übermut ans Steuer, Marie protestiert, in volltrunkenem Zustand chauffiere ich den Wagen, einen herrlichen Peugeot in Luxusausführung, zum Mozartsteg, steige dort ziemlich grußlos aus. (…) Komme betrunken zu den Eltern – erzähle ein wenig. Vater entsetzt, daß ich Heller im Beisein PH’s beschimpft habe. (…) Rufen Marie an – besetzt. Rufe PH – besetzt auch bei ihm – ca. 20 Minuten geht das so. Dann endlich Marie erreicht, Vater will ihr Adressen für ihre Reise mit Heller nach Hawaii nennen. Spreche kurz mit ihr, sie sei so verwirrt, flötet sie. Und Vater spricht dann mit ihr, gibt ihr die Adressen. Mir dreht sich der Kopf – Vater »entschuldigt« sich, daß sein Sohn schlecht über André Heller gesprochen hat! Bin zu müde + trunken, ihm zu widersprechen. Liege im Bett, schlafe sofort – mit Schwindelgefühl – ein.
© Peter Stephan Jungk
Heinz von Cramer, 1924 – 2009, Autor und Hörspielregisseur. Er hatte 1979 mein Hörspiel »Oktave« für den WDR inszeniert (Hörspiel des Monats Dezember 1979) und arbeitete 1983 an der Realisierung des Hörspiels »Suchkraft«, ebenfalls für den WDR ↩
Ich plante damals ein Theaterstück zu schreiben, das Fragment blieb ↩
Franz Werfel – Eine Lebensgeschichte, erschien 1987 im S.Fischer Verlag ↩
In Europa herrschte insbesondere 1983 akute Angst vor einem atomaren Schlagabtausch ↩
Christdemokratischer italienischer Politiker, 1916 -1978, von den Roten Brigaden ermordet ↩
Ich versuchte, ab 1981 jüdisch religiös zu leben, von Freitag bis Samstag Abend (Schabbat) ist das Reisen verboten, aber auch alle Formen von Arbeit, darunter auch das Schreiben. ↩
Robert Jungk, Schriftsteller, Journalist, Zukunftsforscher, 1913 – 1994; s. u. a.: Siebzig Kugelschreiber" ↩
Englisches Wort für Landstreicher, Penner ↩
Vergleiche »Auf der Wellencouch 2«, 3. September 2013 ↩
Marie Colbin, geb. 1957, später Peter Handkes Freundin, damals noch mit André Heller zusammen ↩
Gemeint ist eine Fernseh-Aufzeichnung des André-Heller-Feuerwerks »Theater des Feuers«, das in Lissabon misslang und in Hallstatt, Österreich, nachgedreht wurde ↩
Marianne Bachmeier, 1950 - 1996, erschoss 1981 im Landgericht Lübeck den Mörder ihrer Tochter in Selbstjustiz. Der Film »Der Fall Bachmeier – Keine Zeit für Tränen«, von Hark Bohm, mit Marie Colbin, kam 1984 in die Kinos. ↩