Jetzt ist es sicherlich nicht opportun, Nazideutschland mit der DDR zu vergleichen. Das Grass-Wort von der »kommoden Diktatur« war ja so ganz falsch nicht. Aber dass man einen derart kontaminierten Titel genommen hatte, befremdete mich doch. Merkwürdig dann, dass ich mich während der Lektüre von Uwe Kolbes neuem Buch »Die Lüge« an dieses »Nicht alles war schlecht« erinnerte. Im Roman erzählt der Komponist Hadubrand Einzweck, genannt Harry, von den ersten rund dreißig Jahren seines Lebens in der DDR. Untrennbar ist dies verbunden mit dem Verhältnis zu seinem Vater Hildebrand, genannt Hinrich, der Anfang der 1950er Jahre mit seiner damaligen Frau Karla als überzeugter Kommunist von Hamburg in die sich formierende, sozialistische deutsche Republik, »dem Morgenrot entgegen«, übersiedelte.
Erzählt wird vom politischen Idealismus des Vaters, der sich früh dem MfS verdingt aber nicht, um die Leute ans Messer zu liefern, sondern weil er tatsächlich an die Institutionen dieses Staates glaubt und damit Verbesserungen bewirken möchte. Hinrich bleibt ein treuer Genosse, spricht Mitte der 1970er von der Macht der DDR, die sich am Fall von Brandt gezeigt habe und natürlich eine vollkommene Verkennung der historischen Realitäten darstellt. Den Unmut der 1980er Jahre notiert er in seinen Berichten in der Hoffnung, dass der Staat die Verhältnisse ändere. Dieser Glaube trotz Biermann (der im Buch anders heißt) und Havemann und all die anderen Weggänger wirkt befremdend, manchmal sogar rührend.
Harry wird früh als musikalisches Talent entdeckt, ist fast ein Wunderkind und erinnert mit seiner »seriellen Musik« aus der Ferne an die verdreht-genialischen Kompositionen des Hermann Simon aus Edgar Reitz’ »Zweiter Heimat«. Zunächst verdingt sich Harry ebenfalls als Stasi-Mitarbeiter, löst dann aber kurz darauf den Vertrag wieder auf. Dies und gelegentliche Provokationen, die heute eher lächerlich wirken, bremsen die sich anbahnende Karriere als Staatskünstler zu reüssieren sanft aber wirkungsvoll aus. Er wird zum »freien« Komponisten, es gibt keine öffentlichen Aufträge mehr; es bleiben nur die Kirchen. Auch sein Mentor kann nicht viel ausrichten. Immer wieder berühren sich die Wege zwischen Vater und Sohn. Sogar in der Künstler- und Intellektuellenszene taucht der als Spitzel bekannte Vater auf. Dort herrscht in zum Teil unter konspirativen Umständen veranstalteten, meist harmlosen Partys eine seltsame Mischung aus Skepsis, Lebenslust und alkoholgeschwängertem Weltschmerz, weit weg von und doch nah von Tellkamps Refugienbürgertum aus dem »Turm«. Kolbe gelingt es Mief und Tristesse kongenial einzufangen: »Um die vierzig Leute saßen in einem staubigen Raum, auf den Hockern bei dem abgewetzten Harmonium, in den abgeschabten tiefen Lederpolstern, auf irgendwelchen schlecht gehobelten Böcken und Latten und Balken, auf den geweißten Ziegelfensterbänken. Getaucht war das Bild in gedämpftes Hinterhoflicht, das durch die kleinteiligen Fenster mit den eisernen Sprossen sickerte. […] Aber dieses Licht wurde gedämpft, fast verdunkelt durch Davorsitzende, Herumstehende, durch spürbare Passivität, die mich mit jeder halben Stunde, die ich zuhörte, mehr aufbrachte.« Die Erregung bleibt dann meist aus; die Aktivitäten gerieten auch eher leidenschaftslos, fast apathisch: »Fast alle, die gekommen waren, zückten irgendwann ein Konvolut Papiere und spielten etwas vor oder führten es vor, erklärten auch lang und breit, lasen oft mit monotoner Stimme, dass unklar blieb, was gemeint war.«
Erholung gönnte man sich im Sommer auf Reisen im Land oder in die Slowakei, nach Ungarn; Rückzugsgebiete. »Wir wanderten Richtung Süden auf dem schmalen Pfad am Ufer, auf dem knorrigen, trockenen Wurzelwerk der Laubbäume, und staunten zur Seeseite hinaus. Am Rand des kreisrunden Lochs in der Welt, eines Stück Himmels, das sich auf die Erde gesenkt hatte, tummelten sich Molche.« Es sind starke Szenen, die Kolbe hier evoziert und seine Figuren in eine Judith-Hermann-Sommerhaus-später-ähnliche Melancholie hineinsetzt, die sich jenseits des bleiernen DDR-Alltags bewegt (wobei man dachte, das Bleierne sei, nach Margarethe von Trotta, ein Synonym für die 1970er Jahre der Bundesrepublik).
Aber da gibt es etwas, was diesen Roman prägt und gleichzeitig vergällt. Es sind die nahezu unübersichtlich zahlreichen Frauengeschichten – und zwar sowohl vom Vater wie auch später vom Sohn. Vater Hinrich vögelt sich durch so manches Bett, Ehe hin oder her. Mit vier Jahren ist Harry Scheidungskind, vorübergehend Aufenthalt bei der ideologisch abbauenden Mutter, dem überforderten Stiefvater, dann wieder zum Vater mit seinen diversen Freundinnen, Ehefrauen, Geliebten. Harry hält das nicht davon ab, sich schon recht früh ähnlich zu verhalten. Aber worin liegt die (sexuelle) Attraktivität der Figuren? Sie werden geschildert als charmante Casanovas mit schlechten Zähnen und ohne Skrupel. Dass Frauen fast immer eine passive Rolle zukommt – sie werden geschwängert und dann meist schnell alleine gelassen – hat man als Westdeutscher auch nicht so von der DDR im Kopf. Die Ausnahme ist eine jahrelange Geliebte Hinrichs, die alle seine Ehen übersteht – und sich dann später auch Harry widmet.
Spätestens hier muss die Erzählkonstruktion besprochen werden. Kolbe hat seinen Roman in 64 Kapitel unterteilt. Der Leser hat nun die Aufgabe, die nicht chronologisch geordneten Kapitel zu sortieren. Das ist durchaus ein Stilelement der Moderne. Kolbe übertreibt jedoch maßlos, weil er die diversen unterschiedlichen Zeitebenen auch noch in sich unchronologisch erzählt und eine Art Memory-Spiel daraus macht. Hinzu kommt, dass sich manche Zeitebenen auch leicht überlappen. Zwar ist immer an kleinen Details der ungefähre Zeitraum erkennbar (auch wenn dafür zuweilen genaue Kenntnisse aus der DDR-Geschichte erforderlich sind), aber es ist schon arg ermüdend herauszufinden ob das Kapitel nun im Frühjahr 1981 oder ein paar Monate später spielt und welches der anderen gerade gelesenen Kapitel diesem eventuell noch vorsteht. So gibt man irgendwann auf, eine Chronologie zu erstellen, was auch dazu führt, dass sich das Interesse für die Figuren und damit für die Geschichte abkühlt.
Man liest weiter, weil scheinbar alles auf eine Art Höhepunkt zusteuert. Erzählt wird, wie an zwei Stellen bemerkt wird, aus der Sicht des Jahres 2000, d. h. der Erzähler Harry weiss alles. Er nutzt diese Kenntnisse jedoch selten, was den Leser umso neugieriger macht. Ist die titelgebende Lüge das ibsenhafte Klammern Hinrichs an die Lebenslüge des vermeintlich besseren Deutschlands? Oder ist die Lüge die DDR an sich? Wäre das nicht zu profan? Zumal den Protagonisten nichts passiert (außer, dass einige an Krebs sterben). Aber es gibt mehr als einmal angedeutet Ausreisewellen, wobei, wenn man es nicht irgendwie wüsste, aus dem Erzählten unklar bleibt, warum die Leute das Land verlassen. Die Berichte des Vaters und seiner diversen Frauen, die zum Teil auch eifrige Berichteschreiber sind, bleiben scheinbar weitgehend folgenlos. Geschädigte gibt es somit keine; es war dann wirklich nicht alles schlecht. So plätschert es ein bisschen in diesem Buch. Und die »Lüge« war dann tatsächlich nicht politisch oder metaphorisch gemeint. Aber das ahnt man dann schon. In den letzten Kapiteln kommt es zur Aufklärung.
Uwe Kolbe, der, wenn man sich seine Vita anschaut, so etwas wie ein »Opfer« des DDR-Regimes war, hat mit »Die Lüge« einen hoch ambitionierten, letztlich jedoch aber verwirrenden, sprachlich disparaten und irgendwie harmlosen Roman verfasst, der auch durch die schönen stimmungsvollen Momente nicht gerettet wird.