Da ist sie wieder: Die Sehnsucht nach der »sauberen Kunst«. Moralisch einwandfrei. Kein Stäubchen des Zweifels. Alles andere soll in den Orkus. Jochen Hieber möchte die »Deutschstunde« von Siegfried Lenz dorthin befördern. Das sagt er nicht direkt, aber es schimmert zwischen den Zeilen deutlich hervor. Der Maler Emil Nolde war kein Widerständler während der NS-Zeit, sondern ein Nazi, ein NSDAP-Mitglied. Die Nazis konnten aber mit seiner Kunst nichts anfangen; sie galt als »entartet«. Und Emil Nolde ist das Vorbild für Max Ludwig Nansen im Roman »Deutschstunde«.
Jetzt, da sich Noldes Legende als solche entlarvt, muss daher, so die These, die »Wirkungsgeschichte des Romans« umgeschrieben werden. Das ist mit Verlaub Unsinn. Das einzige, was umgeschrieben werden muss, ist die Gleichsetzung Nolde : Nansen.
Hieber geht aber weiter: Er wirft Siegfried Lenz vor, er habe von Noldes Selbststilisierung wissen können. Durch einen Vortrag von Walter Jens vor Erscheinen des Buches hätte Lenz wissen können, »was zu wissen war«. Dass Lenz es vielleicht nicht gewusst hat, wird ihm nun, 47 Jahre später, von Hieber zum Vorwurf gemacht.
Wahrlich eine Deutschstunde. Eine Deutschstunde über die Ur-Sehnsucht des deutschen Reinlichkeitswahns, der sich auch vor Kunst und Literatur nicht Halt macht. Reinlichkeit ist auch in der Biographie des Künstlers zwingend erforderlich. »Stimmt« diese nicht, wird auch die Kunst sofort mit diskreditiert. All dies zeigt ein zutiefst totalitäres Bild von Kunst, die sich vollständig unter moralischen Imperativen (von wem auch immer diese formuliert werden) unterzuordnen habe. Einer der Kommentatoren unter dem Artikel von Hieber fragt sarkastisch, wann es denn zur Bücherverbrennung komme. Er trifft den Geist dieser »Entdecker« sehr gut.
Typo: »hätte Linz wissen können« – recte: Lenz.
Fehler korrigiert. Pardon. Danke.
Famose Replik von Michael Schikowski: Misreading Deutschstunde.
Hieber hält seine Leser offenbar für dumm, anders kann man die Argumentation nicht erklären (er fragt nicht einmal, ob die Figur Nansen und ihr Charakter für die Konzeption des Romans und die Untersuchung der »Psychologie der Befehlskette« so notwendig waren).
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