Jetzt erst durch einen Hinweis entdeckt: Befragt über die Sinnhaftigkeit des Literaturkritikers reagierte Ijoma Mangold mit einem hässlichen, aber gleichzeitig erhellen Wort:
»Die Stärke einer Zeitung sei ihre Selektionsautorität. Das Netz hingegen sei die Wüste der Selektion, in der es nur Sand gäbe«, so fasst Wolfgang Tischer von literaturcafe.de Mangolds Äußerung zusammen. (Als Ausnahme sieht Mangold dann wieder den Blog eines arrivierten FAZ/FAS-Journalisten.)
Die Allegorie ist auf verräterische Weise erhellend. Zum einen illustriert sie die Hybris der Parallelwelt, in der Mangold und seine Kollegen augenscheinlich existieren. Das Wort »Selektionsautorität« hat im übrigen einen sehr unangenehmen Beigeschmack, aber vielleicht war Mangold als er dies sagte noch mit der Lektüre von »Mein Kampf« beschäftigt.
Geradezu unglücklich gewählt ist die denunziatorische Formulierung der Wüste und des Sandes. Auch wenn man nicht zum Pathos neigt, so fällt einem nämlich sofort Günter Eich ein, der 1950 »forderte«: »Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!«
Wenigstens ist es klar: Mangold et. al. sind das Öl. Noch braucht man es vielleicht. Aber bald ist es ersetzt. Gruß aus der Wüste. Vom Sandkorn.
Mangold erläutert ja wie der Betrieb funktioniert und sprich damit auch ein Urteil über ihn (und sich selbst). Interessant, das einmal von jemandem so deutlich zu hören, der – sozusagen – aus seinem Herz kommt.
Dass Autorität (erworbene hoffentlich!), eine Rolle, etwa: wo lese ich, spielt, ist klar, Mangold vergisst darüber aber völlig die Ebene des Textes (Argumentation, Aufbau, Stimmigkeit, Stil, usw.), die viele Leser natürlich bewerten und analysieren und dann erst (spezifisch) urteilen (die Marke alleine entscheidet eben nicht).
Es stimmt freilich, dass man im Netz noch stärker gefordert ist, sich ein eigenes Urteil zu bilden, weil oft gar keine Autoritäten existieren (und die gewohnten so oft enttäuschen; wie oft besteht die Selektion im Abschreiben von Agenturmeldungen?).
Und dass das Infragestellen von Autoritäten mit Aufklärung zu tun hat, nun ja ... will man überhaupt mündige Leser?
Eigentlich erzählt Mangold ja mit einer verblüffenden Offenheit all das, was man längst schon weiß. Das von ihm geschilderte Verfahren war ja nie anders, es ist einfach nur noch verfeinerter geworden. Manches ist tautologisch, d. h. weil ein Autor wie Walser bekannt ist, ist er bekannt – und kann dann nicht mehr übersehen werden. Seine Äußerungen zu »Form«-Fragen sind auch eher kleingeistig. – Mangold et. al. kommt es längst nicht mehr auf die Literatur an; es ist alles nur noch »Betrieb«. Vermutlich hegt jeder Handwerker mehr Inbrunst in seine Arbeit als er. Sein »leidenschaftliches Interesse für Literatur« ist ein Lippenbekenntnis (bzw.: es kommt so rüber).
Genau. Und irgendwie scheint er trotzdem daran zu glauben, dass er damit seinen Lesern dient und seinen »Auftrag erfüllt« (jedenfalls kling es so). Eigenartig, eigentlich.
Betriebsblindheit?
(Keine spezifische Krankheit dieses Betriebs.)
Aus einem Esel wird kein Rennpferd, egal wie stark man die Sporen gibt.
Die Aussagen von Mangold kann man ebenso gut als läppische Schutzbehauptung lesen. Was soll er denn sagen?! Die Routine und die Mittelklasse-Blindheit lassen die Literatur-Verwaltung via Feuilleton doch ziemlich billig aussehen.
Dass überhaupt noch nachgefragt wird, ist schon erstaunlich.
Läuft!, sagt der Zeitgeist.
Manchmal kann es aber heilsam sein, jemanden einfach reden zu lassen. Das hat Mangold getan. Wir haben eine Menge »erfahren«: 140 Bücher in der »Zeit«/Jahr, die besprochen werden. Kriterien: Bekanntheit des Autors; man bekommt Besuch von Verlagen (Debut!); Etablierung von »Marken« (sowohl auf Kritiker- als auch Schriftstellerseite). Damit ist eindeutig beschrieben, dass es in der »Zeit« niemals mehr Avantgarde geben wird – nur das bekannte, stromlinienförmige, von Verlagen als solches vorgekaute wird repliziert. Erinnert doch stark an den Journalismus, der Presseagenturmeldungen umschreibt. Wem das ausreicht, der ist da gut aufgehoben. Aber so ehrlich hatte ich das noch nicht öffentlich gehört.
Gestern habe ich, nachdem sie lange ungelesen an meinem Bett gelegen ist, die letzte Zeit-Literaturbeilage in den Papiermüll gegeben: Das hätte ich schon vor Wochen tun sollen. Mein Problem damit: Keine wirkliche Überraschung bei den vorgestellten Büchern, aber das auch noch in einem dermaßen vorhersehbaren selbstgefällig, bräsigem Stil – und dann natürlich der visuelle Schwerpunkt auf der apart, klischeehübschen Osteuropäerin (»Vielleicht Esther«). Das kann eigentlich nur noch die Funktion haben, dem nächsten Small Talk mit der Frau Oberstudienrat und dem Herrn Kulturdezernent eine schön ebene Standfläche zu verpassen. Mit Interesse für Literatur und dem, was die Leute tatsächlich lesen, hat das eigentlich garnix mehr zu tun.
Äh, ich hab mich wohl verlesen: »Avantgarde« waren die stromlinienförmigen Bürokarrieristen aus Hamburg noch nie. Ich weiß nicht, woher diese Zuweisung stammt. Sagen das die ZEITler von sich selbst?
Nee, ich glaube, was Du meinst, ist die »Erwartung Literatur«. Ganz ideologiefrei, das künftige Buch. Vom Buch, vom großen Buch erwartet man das Neue, das Unvorhersehbare, glorreich Zwingende, etc. Das haben alle Literatur-Liebhaber, selbst die Spießer, gemeinsam. Dass sich auch hier die Geschmäcker scheiden, mal beiseite.
Du behauptest, wenn meine Vermutung zutrifft: Nie im Leben finden die noch eines von diesen faszinierenden Büchern. Schon aufgrund der korrupten Methode! Und das scheint mir ziemlich aus der Luft gegriffen. Finden ist Glücksache, und wer weiß schon, ob es diese Bücher im Moment gibt. Hab ich so meine Zweifel!
@die_kalte_Sophie
»Avantgarde« sagt er nicht, aber es klingt im Gespräch doch an: Debuts entdecken. Leider wurden die Kriterien nicht bekannt – außer die üblichen: Prominenz, Verlagswerbung, etc. Ein Debut eines Schauspielers, Malers oder Künstlers ist ja nicht »entdeckt«, sondern nur Vermarktung. – Raddatz hatte seinerzeit schon den Anspruch mehr als nur Promi-Feuilleton zu sein (ohne das geht es freilich auch nicht).
Vielleicht ist meine These aus der Luft gegriffen, dass man heute Kafka, Shakespeare oder auch einen Handke oder Grass nicht mehr »entdecken« würde. Sie würden natürlich alle ihren Verlag finden, keine Frage. Aber vielleicht nicht die Publikumsverlage, von denen man sich becircen lässt. Legt man Mangold streng aus, hätte der »Self-Publisher« Proust heute keine Chance mehr. Dass man sich als Autor, als Autorin vielleicht nicht den zuweilen strengen Vorschriften von Verlagen beugen möchte – das kommt ihm nicht in den Sinn.
Natürlich ist Suche immer anstrengend. Sich die Häppchen servieren zu lassen ist leichter als sie zuzubereiten oder gar beim Einkauf die Zutaten zu gewichten. Mangolds Selektionsthese argumentiert rein ökonomisch. Er reduziert – ohne Not! – das Buch als Handelsware. Dass Verleger und Buchhändler dies machen müssen, ist logisch. Dass sich aber ein Literaturchef derart der Kommerz-Hure ergibt und dies auch noch zugibt – das ist schon...kühn.
@Doktor D
Ich frage mich ja, ob jemand wie Mangold nicht so denken muss. Ansonsten kommt er gar nicht in eine solche Position.
Eine Bachmannpreisgewinnerin kann man natürlich nicht übergehen. Sie ist Migrantin, was die Kritiker derzeit geradezu entzückt (warum, weiss ich nicht) und zu allerlei komischen Lobeshymnen veranlasst (im Fall von Stanišić etwa). Dann ist da was über den Nazismus drin; davon kann man ja nie genug kriegen. Und so ganz schlecht geschrieben ist das auch nicht. All das reicht dann für einen mittleren Hype (SWR- und ORF-»Bestenliste«). Mangold und die anderen sind froh. Vermutlich lautet die dritte Frage, über was ihr nächstes Buch so handle.
@Gregor Keuschnig:
Das fasst es ganz gut zusammen. Weil sie aus der Ukraine kommt, gab’s dazu noch ein paar obligatorische Fragen.
Mittlerweile reagiere ich quasi kontrazyklisch auf diese Hypes: »Vielleicht Esther« ist erstmal von meiner Lese- und Anschaffungsliste gestrichen.
Ich lese gerade eine Biographie von Penelope Fitzgerald, die erst mit 60 überhaupt einen Fuß in den britischen Literaturbetrieb bekommen hat – und ca. bis zu ihrem Tod mit 80 von vielen Betriebsnudeln als eine Art Betriebsunfall angesehen wurde. Unter anderem wegen ihres hohen Alters und weil sie überhaupt nicht fotogen und repräsentabel war. Durch Zufälle aller Art (unter anderem Übernahmechaos bei den führenden Verlagen, so dass keine konzentrierte Lobby-Arbeit möglich war) bekam sie völlig überraschend den Booker Prize – die beleidigte Reaktion der Literaturkritiker spricht dann Bände. Und das war noch in den goldenen Zeiten des Feuilletons. Wenn ich durch bin, schreibe ich vlt. noch was darüber.
@Doktor D
Nie gehört von der Dame. Klingt sehr interessant.
Würde mich freuen...
»Aber so ehrlich hatte ich das noch nicht öffentlich gehört.« Man kann es gar nicht oft genug betonen (vielleicht hat ja ein Anflug von Selbstgefälligkeit den Ausschlag zur Plauderei gegeben).
Die Betriebsblindheit und die Zwänge oder auch der Rahmen des Betriebs bedingen einander: Wenn es so ist, dass man betriebsblind werden muss oder nicht mehr anders kann, als ihn weiter am Laufen zu halten, dann wäre Mangold allerdings der falsche Adressat unserer Kritik, er wäre nicht (mit)verantwortlich: Die Systembedingungen wären zu ändern.
Mangold ist kein Praktikant, sondern »Literaturchef« der »ZEIT«. ich erwarte von ihm kein avantgardistisches Programm mit Lyrik aus Burkina Faso und die Besprechung einer Sonettensammlung eines isländischen Dichters aus dem 12. Jahrhundert. Es gibt immer Mittelwege. Niemand zwingt ihn dazu, alles so zu machen, wie die anderen.
Immerhin schriebst Du oben: »Ich frage mich ja, ob jemand wie Mangold nicht so denken muss. Ansonsten kommt er gar nicht in eine solche Position.«
Stimmt. Aber es gibt doch Grautöne. Die NZZ findet sie doch auch.
Die Literaturseiten der NZZ kenne ich nicht so gut, aber ich habe dort (NZZ) eigentlich immer unaufgeregte, abwägende Artikel gelesen, insofern stimme ich zu.
Mir fällt noch eine Bemerkung von Heiner Müller ein, der ja gerne über Ost und West, Kunst und Kultur philosophiert hat. Er meinte in den Neunzigern,
die Kultur, resp. der Kulturbetrieb im Westen wäre nur eine Art Feigenblatt, dass die Scham versteckt, die wiederum vom ökonomischen System erzeugt wird.
Eine böse stalinistische Bemerkung, aber nach 20 Jahren muss ich sagen: da iss was dran. Gerade die »Ideologie« rund um die Literatur, sprich die Distinktion, die Aufwertung des Gewöhnlichen, die repräsentativen Besprechungen gestützt auf die (Mangold) Selektionskompetenz...
Wenn man die dünne Decke der Hochkultur wegzieht, dann erscheint die Angst vor einer völlig dekulturalisierten Umwelt, der Unterwicklung der Persönlichkeiten, der Ungleichheit der Chancen, etc.
Man muss kein Stalinist sein, aber »Hochkultur« (selbst die korrupte) hat eine Verdrängungsfunktion, oder?! Je korrupter, desto offensichtlicher, würd ich sagen, dass es um was ganz anderes geht als LITERATUR.
Hochkultur und Hochliteratur sind entbehrliche Begriffe: Kultur, Kunst, Handwerk reichen doch, oder (zumindest wenn Literatur unter den Kunstbegriff subsumiert wird, was ich tue)?
Aber ist es nicht eher so, dass der Kulturbetrieb nichts versteckt, sondern Resultat der Ökonomisierung von fast allem ist? Kunst und Kultur werden instrumentalisiert und vermögen dann, den einen oder anderen, (noch) zu täuschen. — Die Kunst (wenn der Begriff »Hochkultur« diese meint) war von jeher (nicht immer, aber häufig) ein Gegenstück zu sozialen und anderen Realitäten, ihr Wert liegt ja gerade in dieser (moralischen) Unzulänglichkeit (und auch in ihrer doch immer wieder auftretenden Bezüglichkeit auf eben diese Zustände).
»Selektionskompetenz« – nun ist der Begriff gefallen, der eigentlich viel näher liegt als »Selektionsautorität«. Aber Mangold hat »Selektionsautorität« gesagt. »Selektionskompetenz« beschreibt die (woher auch immer genommene) Fähigkeit, zu unterscheiden. »Selektionsautorität«, Mangolds Begriff, erzählt von dem Vertrauen, das der Unterscheidung entgegengebracht wird, vom Vertrauen in die Autorität des Unterscheidenden. Es vertrauen ihm eine ganze Menge Leser dieser Wochenzeitung fürs Gemüt, könnte man ihm antworten, und das ist eigentlich alles, müsste man hinzufügen.
@Josef Bloch
Danke für den Hinweis und die Differenzierung, die natürlich wichtig ist. Wenn jemand für sich Autorität beansprucht (zumal derart offensiv und eindeutig), setzt er sich damit ja implizit kompetent.
Ein Muss für Mangold sind wohl Formalqualifikationen. Im Verriss des wahrlich
scheußlichen Pirinçci-Buches steht ein kleiner, vielleicht Aufschluss gebender Satz: »Dieses Buch ist das Produkt eines wild gewordenen Autodidakten.« Damit ist unterschwellig der Autodidakt per se verdächtig. Was zählt ist die »ordentliche« Ausbildung (also Studium), egal wie.
@ metepsilomena
Ja und Nein, der Kulturbetrieb ist vollständig ökonomisiert, aber das zwingt ihn nicht, seine ökon. Bedingungen zu reflektieren. Das Problem geistert jetzt schon seit Bourdieu’s Analysen zum kulturellen Kapital herum. Im Spätkapitalismus ist jede arbeitsteilige Unternehmung monetarisiert, sogar die Hilfaktionen für Syrien. Das Selbstverständnis ist damit aber nur teilweise definiert.
Die »cooperated identity« wird (ich fürchte, die Marxisten haben Recht!) von den Geldgebern vorgegeben. Grob gesagt: Wer zahlt, definiert!
Ich weiß, das klingt alles sehr unfrei, deshalb werden diese Analysen immer gleich verworfen, es stimmt aber, denn die Individuen entscheiden sich frei für diese Aufgabe und werden nicht gezwungen. Eine der Stärken des Kapitalimus besteht darin seine »Selektionskompetenz« als Freiheit zu kommunizieren.
Ja und Nein, der Kulturbetrieb ist vollständig ökonomisiert, aber das zwingt ihn nicht, seine ökon. Bedingungen zu reflektieren.
Soweit einverstanden, auch, dass die »cooperated identity« meist eine dienende Funktion gegenüber dem wirtschaftlichen Erfolg hat. Die nächsten Sätze erscheinen mir widersprüchlich: Können sich die Individuen nun frei entscheiden oder wird diese Freiheit bloß kommuniziert (was nicht ihre reale Existenz bedeuten muss)?
Zuletzt, dieser Satz aus dem vorigen Kommentar: »Er meinte in den Neunzigern,
die Kultur, resp. der Kulturbetrieb im Westen wäre nur eine Art Feigenblatt, dass die Scham versteckt, die wiederum vom ökonomischen System erzeugt wird.« Dass Kultur als Feigenblatt gebraucht werden kann, einverstanden, aber der Kulturbetrieb, auch noch dann, wenn er als solcher erkannt wurde? Doch eher nein, oder?
Man kann ökonomischen Zwängen sicherlich begegnen, die Frage wäre: Wie weit? (Oder: Wie wenig weit?)
Äh, stimmt, da ist die Argumentation ist schräg. Ich meine, die Individuen haben die Wahlfreiheit, und sie sind relativ frei, aber die Öffentlichkeit wird »normativ übercodiert«, d.h. das »selektierte Personal« bekommt einen Status, der allgemeingültige Interessen bedient. Will sagen, die »freie Presse« ist weder frei, noch unabhängig, noch repräsentativ. Alle drei Kriterien treffen streng genommen nicht zu, werden aber dennoch in Anspruch genommen. Will sagen, der Westen ist aufgrund seines sozio-ökonomischen Bauplans von Anfang an zur Heuchelei verurteilt. Er beschreibt sich selbst als eine Forderung, die er nicht einhält. Er unterliegt dem Zwang zu idealisieren. Er »kommuniziert« seine Ideale, ohne an seine Strukturen zu rühren.
Das ist tatsächlich ein moralisches Problem, denn von außen wird das ohne weiteres erkannt. Sogar von innen, daraus resultiert aber keinerlei Wirkung. Der endo-kritische Prozess ist völlig ineffektiv.
Gefragt, ob ich die westliche Gesellschaft als moralisch einwandfreie Konstruktion betrachten würde, würde ich antworten: Nein, bestimmt nicht!
Gefragt, ob ich eine wertfreie Beschreibung der Gesellschaft für objektiv erachten würde, würde ich antworten: Nein, bestimmt nicht! Sobald die Beschreibung wertfrei ist, ist sie schon abwegig.
[N.b. Daher rührt auch unser »Kriegsproblem«. Wenn wir moralisch im Reinen wären, dann würden wir den Westen bis zum letzten Mann verteidigen. Aber niemand glaubt mehr so recht an »unsere Sache«.]
Kurz gesagt: Die Öffentlichkeit wird durch entsprechendes Personal in ihrem Handeln zu lenken versucht (beinahe verschwörungstheoretisch).
Wenn »der endo-kritische Prozess [...] völlig ineffektiv« ist, spricht das dafür, dass wir unser System nicht ändern können, entweder weil es an breiter Willenskraft mangelt oder es von innen nicht (oder kaum) möglich ist.
Das Problem ist m.E. aber nicht moralisch, nicht hauptsächlich jedenfalls, sondern nur in seiner Bewertung; die kann man fallen lassen und das Problem, gebrochenen Rechts etwa, bleibt bestehen, man muss dem Westen keine Doppelmoral vorwerfen, um ihn zu kritisieren.
»Gefragt, ob ich eine wertfreie Beschreibung der Gesellschaft für objektiv erachten würde, würde ich antworten: Nein, bestimmt nicht! Sobald die Beschreibung wertfrei ist, ist sie schon abwegig.« Da möchte ich widersprechen, erstens schließt eine abwegige Beschreibung Objektivität nicht aus, zweitens: Eine funktionale, systemische und systematische Beschreibung alleine kann die Probleme offenlegen, ob man das moralisch bewertet oder nicht ist belanglos, weil das nichts zum Verständnis beiträgt, das nötig für Veränderungen ist (mir scheint das eine ideologisch gefärbte Prämisse zu sein). Der moralische Vorwurf alleine – siehe heute – reicht ja nicht (bringt auch nichts).
Zum »Kriegsproblem«: Das kommt darauf an gegen wen man sich verteidigen muss (rein theoretisch betrachtet, in der Praxis fehlt womöglich der Mut).
Ja, nee. Mein Kopf ist völlig ideologiefrei. Im Gegenteil würd ich behaupten: gesellschaftliche Änderungen können nicht durch Reflexionen und Ursachenforschung eingeleitet werden. Genau dieses »Theorem«, das die westliche Zone u.a. definiert, halte ich für ideologisch i.w.S. Eigentlich dient es nur dazu, eine mögliche Verbindung von Macht und Denken anzuberaumen, die in die Zukunft weist. Eine »schwache Utopie«, die nicht mit Inhalten ausgefüllt wird, aber dazu einlädt.
Ich bin sicher, dass Änderungen, auch künftige Änderungen nur noch durch Mächte und Gegenmächte verursacht werden. Natürlich sind die Mächte nicht unintelligent, aber das macht sie noch nicht zu »moralischen Akteuren«.
Eigentlich bin ich raus aus der Nummer, dass der Westen für den einfachen Mann »interessant« sein könnte. Die Komplexität der Analyse ist eine riesige Herausforderung, das reizt natürlich. Das stimmt.
Ich wollte keinen Ideologievorwurf machen, man kann auch voreingenommen sagen, was ich meinte war, dass man die objektive Beschreibung der Gesellschaft kennen oder mit einiger Konsequenz versucht haben muss, um sie als abwegig bezeichnen zu können, da man ja auf ihr Ergebnis vorgreift (ich bin bei solchen Bemerkungen immer skeptisch).
Die Einleitung der Änderung (die Ursache) sollten wir von der Richtung in die diese gehen soll unterscheiden: Ich möchte zumindest wissen was wie geändert werden soll (und warum), bevor es losgeht. Diese Rechtfertigung halte ich für wesentlich, nicht zuletzt weil, wenn wir zurückblicken, gesellschaftliche Experimente oder Revolutionen oft mit einer Vielzahl an Toten und entsprechendem Leid verbunden waren.
Da sagst Du was... In der Tat setzt eine kritische Auseinandersetzung mit den Beschreibungen der Gesellschaft die Kenntnis der Gesellschaft voraus. Oder wenigstens in Teilen.
Das ist genau der Punkt, warum die Zeitgeist-Redakteure sehr leichtes Spiel haben: niemand weiß es so recht viel besser, genauer... Was haben die schon zu befürchten, ihr Ignoranz- und Sprachniveau macht sie so gut wie unangreifbar. Wann kann man schon sagen: Nein, das ist falsch!
Die Selbstimmunisierung der Öffentlichkeit durch Verdunkelung ist einer der schlimmsten Tatbestände der Gegenwart. Für mich hat die Kritik da ausgedient, es helfen nur noch Boykott und Ächtung.
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