Am 13. März 1920 besetzte der Reichswehrgeneral Walther von Lüttwitz, Kommandant der Marinebrigade Ehrhardt, die laut Regierungsbeschluss vom 29. Februar 1920 aufgelöst werden sollte, das Berliner Regierungsviertel und ernannte den deutschnational gesonnenen Beamten Wolfgang Kapp zum Reichskanzler. Die Regierung (eine Koalition aus SPD, den konservativen Zentrum und der liberalen DDP) floh zunächst aus Berlin nach Süddeutschland. Die Unterstützung war trotz der zum Teil frustrierten Reichswehr nicht breit genug. So schreibt Golo Mann beispielsweise über die »ironisch-neutrale« Stellung General von Seeckts: »…man würde sehen, wie weit Kapp käme«. Der Putsch scheiterte nach fünf Tagen. Zum einen verweigerte die Berliner Ministerialbürokratie den Putschisten ihre Unterstützung. Noch hielt also eine gewisse Loyalität der fragilen Weimarer Republik gegenüber. Zum anderen rief der SPD-Vorsitzende Otto Wels zu einem Generalstreik aus, dessen Folgen etwaige Sympathisanten der Putschisten zutiefst verunsicherte.
Der Kapp-Putsch ist weniger im Gedächtnis der Deutschen geblieben als der 1923 initiierte Hitler-Putsch, der am 8. November 1923 die bayerische Regierung für abgesetzt erklärte. Auch dieser Putschversuch scheiterte nach wenigen Tagen, die Polizei kämpfte ihn blutig nieder. Auch hier also eine Loyalität den Institutionen des Staates gegenüber. Dies war erstaunlich genug, denn Deutschland drohte bereits damals im Bürgerkrieg zu versinken.
Live-Ticker statt Extrablatt
Es ist nicht Zweck dieses Textes die historischen Implikationen nochmals zu beleuchten; das haben klügere Köpfe schon ausgiebig getan und werden es weiter tun. Und natürlich sind Parallelen oder gar Vergleiche immer mit Vorsicht zu genießen. In Anbetracht der Bilder aus der Ukraine und der Eskalation im Osten des Landes lässt mich aber eine Frage nicht mehr los: Was wäre eigentlich gewesen, wenn es zu Zeiten des Kapp-Putsches (oder auch des Hitler-Putsches) schon die heutige mediale Begleitung gegeben hätte? Wären diese Staatsstreiche dann vielleicht anders verlaufen? Gar erfolgreich?
Natürlich gab es auch 1920 und 1923 schon Medien. In Berlin erschien 1920 ein »Extrablatt«. Zeitungen waren aber neben Verlautbarungen an Litfaßsäulen und Flugblättern die einzigen Massenmedien damals. Sie lieferten zwar Bilder, aber naturgemäß in gewissem zeitlichem Abstand. Und heute? Man stelle sich vor, Kapp ernannte sich zum Reichskanzler und hätte dies in einer Pressekonferenz der in- und ausländischen Presse verkündet und sich danach den Fragen von Journalisten gestellt. Bereits die Zulassung der Journalisten zu dieser Pressekonferenz hätte der Genehmigung durch die Administration der neuen Regierung bedurft. Die bloße Zeitungsmeldung des Putschs wäre durch Bilder des neuen Kanzlers und womöglich des designierten Kabinetts unterstützt worden. Quasi in Echtzeit wären die neuen Verhältnisse für alle präsent gewesen. Man wagt es nicht zu denken, wie Medien »Live-Ticker« eingerichtet hätten, um die Vorgänge in Berlin von Minute zu Minute zu »kommentieren«.
Erst die Kameras, dann die Erstürmung
Und heute? Praktisch zeitnah werden beispielsweise die Stürmungen von Verwaltungs- und Regierungsgebäuden in ostukrainischen Städten in Bild und Ton übertragen. Beispielsweise von der 400.000 Einwohner Stadt Lugansk. In einem Beitrag für die »heute«-Sendung des ZDF vom 29.04. kommentierte die Korrespondentin Anne Gellinek: »Die Kameras sind schon da. Erst dann stürmen sie das Rathaus…« In einem nächsten Schnitt werden ukrainische Polizisten gezeigt, die ein Gebäude widerstandslos verlassen: Die »Polizei geht still nach Hause«. Details bleiben unklar, zum Beispiel die Frage, wie die Reporter in das Gebäude gekommen sind, um die sich absetzenden Polizisten zu filmen. Waren sie schon vorher dort? Oder »stürmten« sie sozusagen mit den »Separatisten«, also dem Mob? Der Eindruck, der in der Welt entsteht, ist fatal und eindeutig: Die Loyalität der Polizei der der Staatsmacht gegenüber existiert nicht. Ein paar Hundert schwer bewaffnete Aktivisten (woher haben sie die Waffen?) bestimmen jetzt in einer Großstadt. Eine Suche im Netz zeigt: In Lugansk wurden anscheinend mehrere Gebäude parallel gestürmt: Die Bezirksverwaltung, die Polizeizentrale, ein Fernsehsender. Und es sind überall regionale Putsche, die in diversen Städten in der Ostukraine fast gleichzeitig stattfinden und willig von den Journalisten aufgenommen werden. Man berichtet ja nur. Nur?
Wer betreibt eigentlich die »Vorführung« der Gefangenen?
Zwar gilt der Bürgermeister von Slawiansk in deutschen Massenmedien immer noch pejorativ als »selbsternannt«. Was die Medienvertreter jedoch nicht abhält, ihn regelmässig zu den Gefangenen, die als »OSZE-Delegation« dargestellt werden (was nicht genau stimmt), zu befragen. Die Entrüstung über die »Vorführung« der Gefangenen mag man auch nicht so recht nachvollziehen: Schließlich sind es die Medien, welche die »Vorführung« erst ausführen. Ohne ihre Berichterstattung – natürlich wieder mit Bildern – gäbe es keine »Vorführung«. Schon die Befragung des selbsternannten Bürgermeisters impliziert ein Gemeinmachen mit denen, die die Staatsordnung der Ukraine mit Gewalt destabilisieren, also dem Mob. Denn ohne deren Wohlwollen könnten die Journalisten gar nicht agieren.
Auch diese Journalisten berichten also »embedded«, auch wenn sie nicht in militärische Truppen eingebettet sind wie die amerikanischen Journalisten 2003. Ihre Berichterstattung ist kritisch (manche behaupten, sie sei einseitig, weil ähnliche Mob-Erstürmungen einige Wochen vorher in Kiew als Befreiungsaktionen goutiert worden seien), aber sie basiert auf die Bilder, die sie dem Publikum zeigen.
Um es drastisch zu formulieren: Die Bilder beispielsweise der Erstürmungen von Regierungsgebäuden, dieser inszenierten Anarchie, sind nicht neutral. Sie sind nicht »nur« Abbild der Realität. Da kann die verbale Berichterstattung noch so kritisch sein. Der Subtext ist fatal. Gezeigt wird nämlich, dass die Institutionen der Zentralregierung in den ostukrainischen Städten nicht mehr funktioniert. Mittelfristig werden die Institutionen des Landes auch in den scheinbar loyalen Städten damit bei der Bevölkerung destabilisiert.
Die Pressekonferenz macht den Unterschied
Wir haben also im Vergleich zu 1920 (und 1923) eine neue mediale Situation: Wie haben das bewegte Bild als emotionalen Träger von Botschaften. Und wir haben die Echtzeit-Berichterstattung, die Aktualität, die binnen weniger Minuten in der Lage ist, Bilder in die Nachrichtenredaktionen zu übertragen. Beides wird auf perfide Art und Weise vom putschenden Mob instrumentalisiert. Dieses Phänomen ist natürlich nicht neu – nahezu jede Krisen- bzw. Aufstandssituation wird über Massenmedien in der ein oder anderen Richtung gesteuert. In afrikanischen Ländern erobern Putschisten fast immer zuerst den Rundfunk; dort hat das Radio einen noch sehr hohen Stellenwert.
Kontrafaktische Geschichtsschreibung hat immer den Beigeschmack des Unseriösen. Zumal wenn man die heutigen Voraussetzungen versucht, auf die damalige Zeit zu projizieren. Dennoch meine These: Der Kapp-Putsch von 1920 unter den medialen Bedingungen von 2014 wäre vermutlich nicht nach wenigen Tagen ins Nichts verlaufen. Der Aufruf zum Generalstreik beispielsweise wäre wohl nicht in dieser Vehemenz durchgedrungen: Das offizielle Radio und Fernsehen hätte vermutlich nicht darüber berichtet. Ein Flugblatt hatte damals dieses Kommunikations-Nadelöhr nicht zu überwinden: es stand fast gleichberechtigt neben dem »Extrablatt«. Eine Berichterstattung in Echtzeit über das Fernsehen hätte Gruppen in anderen Städten womöglich motiviert, ebenfalls Aufstände zu initiieren. Dies hätte wieder zu einer sinkenden Loyalität der Nomenklatura in Berlin geführt; wer will schon auf der »falschen Seite« stehen?
Wenn Medien das Zerbröseln einer Staatsautorität derart »hautnah« wie im Moment in der Ukraine dokumentieren, können sie Zerfallsprozesse beschleunigen. Damit ist ausdrücklich nicht gesagt, dass der Überbringer schlechten Nachricht für diese verantwortlich ist. Aber es gibt Situationen, in denen schon die scheinbar neutrale Berichterstattung zur Propaganda wird. Wenn dann die Erstürmung eines Gebäudes verschoben wird, damit Journalisten dies abfilmen können – dann ist die Grenze überschritten.
Im Beitrag von Anne Gellinek kommt auch ein Vermummter zu Wort. Seltsam, dass Leute, die ihr Gesicht nicht zeigen, satisfaktionsfähig sind. Welches »Amt« bekleidete der Vermummte? Für wen spricht er, wenn er »wir« sagt? Überschreitet ein Journalismus nicht die Grenze zur Propaganda, in dem er vermummte Personen als »reguläre« Interviewpartner akzeptiert?
Schon klar: Die ZDF-Korrespondentin hätte mit dem Verzichten auf die Bilder wenig bis nichts ausgerichtet. Auch hier wäre also – wie in der Politik – ein »globales« Handeln erforderlich. Ein journalistischer Ehrenkodex. Dieser ist vermutlich noch schwieriger zu erreichen als eine Selbstverpflichtung von Bankern, ihren Kunden keine spekulativen Anleihen als sicher zu verkaufen. Aber ich muss wissen, dass ich, wenn ich einem Putschisten das Mikrofon vor die Nase halte, ein Zeichen setze: Ich akzeptiere ihn; unabhängig davon, wie ich ihn dann im Kommentar nenne oder was ich über ihn sage. Dieses Dilemma für den Journalismus ist schwer zu lösen; vielleicht gar nicht.
Entwicklungen wie in der Ostukraine sind durch journalistische Distanz nicht aufzuhalten, weil sie von außen beeinflusst, wenn nicht gar gesteuert werden. Und Staatsstreiche finden auch dort statt, wo die Weltöffentlichkeit nicht medial derart präsent ist wie im Moment in der Ukraine. Aber wie es eine Illusion ist zu glauben, dass man mit journalistischer Abstinenz Entwicklungen und Prozesse verhindern kann, so ist es auch eine Illusion zu glauben mit exzessiver Berichterstattung diese abbremsen zu können.
Meine These ist, dass sich Medien und anarchistische Zustände, die von diesen in Echtzeit abgefilmt und kommentiert werden können, in einen Teufelskreis immer weiter hochschaukeln. Es ist eine Art Symbiose, eine vorübergehende perverse Zweckgemeinschaft. Ein fast faustischer Pakt. Diese Erkenntnis ist wahrlich nicht neu; Joris Luyendijk hatte darüber vor einigen Jahren ein sehr gutes Buch geschrieben. Aber es ist eine immerwährende Aufgabe des mündigen Rezipienten, sich dieser Interdependenzen immer wieder neu zu versichern. Schon, damit man nicht wahnsinnig wird.
Sehr interessante Überlegungen, die zeigen, dass Fernsehbilder oder Videos unabhängig von der unterlegten Sprache (legitimierend) wirken. Der Freiheit der Presse und das Verlangen nach Berichterstattung (bzw. die Notwendigkeit der Information der Bürger), verliert ihre Unschuld, wie der neutrale oder auch der konstruierend verstandene Betrachter, weil sie gegen das Eigenleben der Bilder gar nichts tun können. — Lösbar ist das Dilemma in letzter Konsequenz wohl nicht.
Alle Vorhaben, die in knappen Zeitspannen Massen an Menschen mobilisieren oder zumindest erreichen müssen, um an ihr Ziel zu gelangen, profitieren von dieser Art der Berichterstattung durch die Legitimation ihres Unterfangen einerseits und die Verbreitung (und damit Motivation mitzumachen), andererseits (was Du ohnehin festgestellt hast). — Medien übertragen Teilrealitäten (in Echtzeit), sofern Videoaufnahmen dies tun, setzen diese aber durch ihre (journalistische) Autorität in ein, ihnen (vielleicht) gar nicht zustehendes, neues Verhältnis zu Wirklichkeit des Einzelnen. Ohne Medien hätte kaum jemand etwas von der ersten Besetzung gewusst und möglicher Weise wäre alles verpufft (wie bei Kapp), so aber wurde es für die Meisten nicht nur präsent, sondern autoritativ vermittelt (einerseits weil überhaupt davon berichtet wird, andererseits durch den Stellenwert des entsprechenden Mediums).
[Die kontrafaktische Geschichtsbetrachtung ermöglicht etwa die Untersuchung von Handlungsspielräumen politischer Protagonisten (hätten sie anders handeln könne und wenn ja wie), solange man sie als das wahrnimmt, ist das sicher sehr hilfreich.]
Ich vermute, noch bevor die heutigen (Echtzeit-)Medien die Gelegenheit hätten, über einen militärischen Putschversuch in einem Land mit einer halbwegs entwickelten technischen Infrastruktur zu berichten, würde dieser von der Regierung (vulgo: Geheimdienst) so rechtzeitig entdeckt werden, dass geeignete Gegenmaßnahmen ergriffen werden könnten, die letztlich zur Verhinderung des Putschversuches führen würden, die moderne Technik macht’s möglich: z.B. Echtzeittracking von Mobiltelefonen, wobei selbst anonym erworbene Gerätschaften (Prepaidtelefone) nach ein paar geführten Gesprächen bereits auffällige Muster aufweisen und bestimmten Personen problemlos zugeordnet werden dürften (als Beispiel sei hier der bekannte Fall der Verschleppung von Abu Omar durch CIA-Agenten in Mailand 2003 genannt, denen man ‑im Nachhinein, aber so etwas ließe sich mittlerweile bestimmt auch realtime machen- durch eine Metadatenanalyse ihrer Prepaidmobiltelefone auf die Schliche kam), so dass entsprechende automatische Warnmelder anschlagen dürften. Oder beispielsweise auch das Erfassen von plötzlichen militärischen Fahrzeugkolonnen auf der Autobahn durch die Mautbrückenkameras oder durch Satellitenbilder. Beispiele dieser Art könnte man wahrscheinlich noch viele aufzählen. Also, wenn’s die Medien spitz kriegen und ihre Berichte starten, kann man davon ausgehen, dass die Regierung bereits Kenntnis davon hat.
@Wolfgang B
Ihr Szenario ist aber eine Zukunftsvision, oder? Tatsächlich geschehen ja trotz diverser Geheimdienste und deren Möglichkeiten an allen Enden der Welt immer wieder Aufstände, Rebellionen und Staatsstreiche.
Ausgehend von den Putschen würde ich sagen: ja und nein. Einerseits war die Infrastruktur in den Ländern, in denen es in den letzten zehn Jahren einen militärischen Putsch gab, wohl bei weitem nicht so ausgeprägt wie in der westlichen Hemisphäre bzw. überwiegend in den Händen der Militärs: 2005 Mauretanien, Thailand, Fidschi, Guinea, Honduras, Niger, Mali, und zuletzt 2013 Ägypten. (https://de.wikipedia.org/wiki/Putsch#Putsche_in_der_Geschichte) Andererseits gab es sowas wie einen Putsch im »Westen« in diesem Zeitraum gar nicht, in einer Zeit, in der massiv technischen Möglichkeiten installiert und rasant zugenommen haben. Insofern glaube ich tatsächlich, dass das in Europa oder in den USA mehr oder weniger kein Zukunftsszenario mehr ist, aber wohl in den oben aufgeführten Ländern, die da bei ihrer Infrastruktur noch Luft nach oben haben. Und Rebellionen und Aufstände würde ich nicht unbedingt mit Putschen gleichsetzen.
Interessante Frage: Sind die Rebellionen wie in der Ukraine 2004 (»Orange Revolution« und 2013/14 auf dem Maidan keine »Staatsstreiche«, obwohl sie am Ende zu einer Veränderung in der Regierungsführung führten? Im klassischen Sinn nicht; insofern ist mein Beitrag vielleicht ungenau. (Die Wikipedia-Liste ist übrigens recht unvollständig; beispielsweise ist die Entwicklung in Algerien 1992f, als das Militär die Fäden wieder aufnahm, mit keinem Wort erwähnt.)
Die »Arebellionen« kommen dann natürlich ebenfalls nicht vor – das waren aber die Bewegungen, an die ich dachte. Staatsstreiche (Putsche) sind im Unterschied wohl zumeist von einzelnen Gruppen initiiert (meistens dem Militär), während Rebellionen mindestens vordergründig von Massenbewegungen ausgehen. Die Frage bleibt aber: Wäre es ohne die Präsenz der Medien zu den Veränderungen in einigen Staaten gekommen (Tunesien, Libyen, Ägypten). Und was bedeutet es, dass die geänderten Verhältnisse in Ägypten dann wieder durch einen Putsch des Militärs korrigiert wurden (Parallelen zu Algerien in den 1990ern)? Medien spielen doch da längst eine beschleunigende Rolle, greifen ungewollt(?) aktiv in die jeweiligen Prozesse ein.
Womit ich bei der Ukraine / Ostukraine-Situation bin. Fast alle Bilder von Besetzungen von Rathäusern oder anderen Verwaltungsgebäuden zeigen eigentlich nur eine sehr überschaubare Menge, lauter, aggressiver Männer. Die umstehenden »Massen« sind auch nur verhältnismässig wenig; einen Zoom, der zeigen würde, wie viele es sind, gibt es kaum. Der Betrachter, der diese Bilder unkritisch betrachtet glaubt tatsächlich an revolutionäre Massen. Die Realität sieht womöglich anders aus; es kommt mir vor wie im Western, in dem eine Handvoll schwer bewaffneter Gangster eine ganze Stadt terrorisieren. Medien sind nun in der Falle: Einerseits wollen sie berichten, andererseits zeigen sie Bilder, die gezwungenermaßen nur einen Ausschnitt wiedergeben (und oft »eingekauft« sind, d. h. nicht selber abgefilmt wurden).
Mein Beitrag sollte übrigens nicht suggerieren, dass man in Westeuropa oder gar in den USA staatsstreichgefährdet ist. Aber der Ukraine-Fall zeigt, dass fragile politische Systeme in Osteuropa (und davon gibt es durchaus einige) immer gefährdet sind, durch innere und/oder äußere Eingriffe anderer Staaten zu »kippen«. Dann kommen sofort die Medien ins Spiel – und die Fragen beginnen.
Ihre Fragestellung ist geradezu elektrisierend spannend. Auch wenn ich dabei nur unqualifiziert spekulieren kann, unterstütze ich Ihre These, dass mediale Verarbeitung den Putsch damals am Leben erhalten hätte können.
Allerdings meine ich, dass nicht die Übertragung der Vorgänge in Bild und Ton die Energie des Putsches genährt hätte, sondern die aus den Redaktionsstuben heraus süffisant vorgetragenen Kommentare einiger weniger »Starjournalisten«, welche sich durch eine Abscheu erregende Mischung aus Ignoranz und Zynismus auszeichnen. Beachtlich dabei ist der Umstand, dass markige Redakteurseinschätzungen erst mit einigen Tagen Verzögerung nach den jeweiligen Ereignissen zu vernehmen sind. Dann aber einheitlich – als ob eine Verabredung stattgefunden hätte.
Zu bedenken gebe ich mir indes selbst, dass wir über die Ausprägung und Qualität der Berichterstattung innerhalb z.B. der Ukraine oder etwa Syrien recht wenig wissen. Insofern ist der Umgang mit Ihrer These nicht ganz einfach und insofern überbrückt Ihre These eine Kluft, deren Tiefe ich nicht im geringsten auszumessen vermögen. Die Übertragung der Wirkmechanismen medialer [Außen]Beobachtung (im Falle der Ukraine zum Beispiel) auf innere Vorgänge – den Kapp-Putsch – ist mE höchst unsicher. Soviel ist mir bewusst.
Das bringt mich aber nicht dazu, Ihre These mangels fundierter Nachvollziehbarkeit zu verwerfen, sondern sie weiterzuentwickeln. Welche Auswirkung hätte die heutige konzentrierte Medienmacht auf die damalige Außenpolitik Frankreichs, Englands und der Sowjetunion (resp. Russland damals) haben können? Wie hätte sich beispielsweise Chamberlain unter dem Eindruck eines medialen Trommelfeuers verhalten? Wäre ein Münchner Abkommen zustande gekommen?
Meine Spekulation geht in die Richtung, dass der Druck von außen wesentlich entschiedener hätte ausfallen können, was zum vorzeitigen Ende Hitlers geführt haben könnte. Diese Spekulation greife ich nicht aus der Luft, sondern begründe sie mit den aktuellen [Er]Regungen der NATO hinsichtlich Russland. Rasmussen hat eben erst zur allgemeinen Aufrüstung aufgerufen und wir werden, das prophezeie ich, innerhalb der nächsten zwei Jahre die Verlegung kritischer Truppenbestände nach Osteuropa sehen. Von der Bevölkerung wird das unter dem Eindruck der medialen Vorbereitungsarbeit mehrheitlich gutgeheißen werden.
Ihre These lässt sich aber auch in der Gegenrichtung befahren. Dabei überlege ich mir, ob eine stark eingeschränkte Medienberichterstattung innenpolitische Eskalationen zu dämpfen vermag. Wenn ich an die gescheiterten Arbeiterkämpfe im Februar 1934 in Österreich denke, kommt mir bei diesem Gedanken das Schaudern.
Danke für diesen ausführlichen Kommentar. Ich bin ja auch nicht ganz schlüssig, inwiefern Medien bestimmte Vorgänge beschleunigen oder auch hemmen können. Zwischenzeitlich gerate ich auch ins Schaudern, dann wieder in Verzückung. Dabei waren es übrigens gerade die Nazis, die perfekt das neue Medium Radio für ihre Propaganda instrumentalisierten.
Die Truppenverlegungen der NATO nach Osteuropa sind nur Affekte. Man weiß nicht so genau, was man tun soll, also macht man eben das. Putin würde niemals ein NATO-Land angreifen; das haben die Sowjets auch nie erwogen. Das ist schon wieder so eine Demonstration der Stärke (die in Wahrheit eine der Ohnmacht ist), die medial entsprechend aufgepeppt wird.
Vordergründig haben Sie damit wohl recht, wenn Sie die zu erwartenden Truppenverlegungen als Affekte bezeichnen. Im Hintergrund leuchtet aber die »ökonomische Vernunft« hervor – in Zeiten angestrengten Ringens um Wirtschaftswachstum. Das freut nicht nur die Rüstungsindustrie, sondern kommt auch der Politik zupass.
Aber genug davon von meiner Seite, da ich dieser Tage ziemlich aufgewühlt bin wegen meines ausgeuferten Engagements in der Onlineausgabe einer hiesigen »Qualitätszeitung« gegen maliziöse Stimmungsmache und Dämonisierung Russlands. Von Redakteursseite, wohlgemerkt.
Nachtragen möchte ich gleichwohl die vorhin verabsäumte Anerkennung Ihres impliziten Vorschlages, den Transport vermummter Stellungnahmen zu unterlassen. Das setzte allerdings ein Mindestmaß an journalistischer Ethik voraus, welche ich als im schwinden begriffen erlebe.
(Meine Wertschätzung für Ihre anregenden und politisch bedeutsamen Betrachtungen. Ich würde sie neben Ihren profunden Buchbesprechungen nicht missen wollen.)
@h.z.
Ob das Reduzieren der Berichterstattung Vorgänge zu dämpfen vermag, hängt von der Verfügbarkeit anderer Kanäle ab (wenn ich an 1934 denke und den Stand heutiger Technik voraussetze, dann glaube ich doch, dass einige Möglichkeiten bleiben und dass man sicherlich auch Gleichgesinnte in den Redaktionsstuben kennt).
Darf ich fragen, um welche »Qualitätszeitung« es sich gehandelt hat (so viele gibt es hierzulande – wenn ich das richtig deute – ja nicht)?
@metepsilonema
Den Standard betrifft’s.
Ihrem Hinweis auf »Gleichgesinnte in den Redaktionsstuben« vermag ich gerade nicht zu folgen. Ich lasse gedanklich offensichtlich eine implizite Prämisse aus. Das mag daher rühren, dass ich von der Denkfähigkeit in den Redaktionsstuben nicht überzeugt bin, um’s mal auf konversationsfähigem Niveau zu formulieren. Als aktuelles Beispiel dafür eignet sich die journalistische Rezeption einer jüngst vorgestellten SORA-Studie, wonach 29% der befragten Österreicher der Aussage zustimmen, [die abgefragte Aussage im Wortlaut:] »man sollte einen starken Führer haben, der sich nicht um Parlament und Wahlen kümmern muss«. Alleine schon aus der frei zugänglichen Presseunterlage zur Studie geht aber hervor, dass der Prozentsatz der Befürworter etwas höher liegt – bei 58% nämlich. Dieser Sachverhalt bekommt nicht nur keine angemessene, sondern überhaupt keine Öffentlichkeit.
Bedauerlicherweise ist seit Ihren Überlegungen zum Begriff »Öffentlichkeit« schon soviel Zeit verstrichen, dass meine verbindenden Gedanken zu dem von Keuschnig hier aufgegriffenen Thema als überstreckt erscheinen müssen.
Ich habe gerade einen Band über Leserbriefen von und über Thomas Bernhard gelesen, der naturgemäß (sic!) schon etwas älter ist. In einem Brief ist dort die »Führer«-Neigung der Österreicher ebenfalls schon thematisiert; er ist, wenn ich das richtig erinnere, von 1988.
Ein altes Thema also und ganz sicher nicht auf Österreich alleine anzuwenden. Dahinter steckt natürlich die Furcht und an das Unbehagen an der Komplexität der Welt und der Demokratie.
Zustimmung.
Nicht die Tatsache an sich ist besonders aufregend, wohl aber die (ebenfalls dokumentierte) ausgeprägte Zunahme. Furcht spielt selbstverständlich eine Rolle. Die Verbindung zum Bildungsnieveau wurde in der Studie hergestellt. Bedauerlicherweise fragt niemand danach, wie das erhobene Ergebnis mit der sich verändernden Gestaltung von »Öffentlichkeit« durch Medien korreliert. Das halte ich für eine schwerwiegende Auslassung.
In dem Peymann-Buch von Hans-Dieter Schütt findet man auch einige schauerliche Geschichten aus dieser Zeit Ende der 80’er, vor allem was rund um die Premiere von »Heldenplatz« an gesellschaftlichem Druck aufgebaut worden ist, auch durch die Zeitungen etc. Thomas Bernhard hat ja dann in letzter Konsequenz auch testamentarisch ein Spielverbot in Österreich für seine Stoffe nach seinem Tod verfügt. Für mich echt schwer vorstellbar, was in diesem Österreich (medial) möglich gewesen ist.
Naja, Bernhard hat natürlich nicht nur Öl sondern zuweilen auch noch Spiritus ins Feuer gegossen; seine Provokationslust war enorm. Als ihm ein Professorentitel von der Grazer Autorenversammlung angeregt verliehen werden sollte, sagte er dem Verein in einem Fünfzeiler ab, den er wie folgt beendet: »Die Grazer Autorenversammlung ist eine Versammlung von untalentierten Arschlöchern«.
»Heldenplatz« ist wirklich nicht sein bestes Stück, aber Peymann hat natürlich durch die Geheimhaltung bis zur Uraufführung und die vermutlich gesteuerte Publikumsbesetzung der Premiere ein gerüttelt Maß Anteil am Skandalon. Im Grunde seines Herzens war Bernhard ein österreichischer Patriot. Seine Ablehnung den politischen Institutionen Österreichs gegenüber, die später in veritablem Hass umschlug, war inkonsequent: Er hätte auf die Aufführungen seiner Stücke auf subventionierten Bühnen verzichten müssen. Nicht wenige der Leserbriefe damals nahmen hieran Anstoss.
Ähnliche Eruptionen gibt es übrigens heute täglich: Politiker, Journalisten, Blogger – sie alle reden zu gerne über Filme und Stücke, die noch nicht aufgeführt wurden, Stellungnahmen von Politikern, die sie gar nicht kennen und Bücher, die sie nicht gelesen haben. Das geschieht inzwischen offen und achselzuckend.
@h.z.
Danke. Mit »Gleichgesinnten in den Redaktionsstuben« war gemeint, dass wohl jede größere Partei (oder politische Bewegung) inoffizielle Wege dorthin kennt oder zumindest Wohlwollen einiger genießt, das man nutzen kann (man kann es auch die Möglichkeit Lobbying zu betreiben, nennen).
Ich habe mir zuerst die Anzahl der Befragten angesehen, das waren etwa 1000 und habe mir das Lesen des Artikels erspart (solche Umfragen gehen mir mittlerweile auf die Nerven, ich habe den Eindruck, ähnliches kommt etwa jedes halbe Jahr; vielleicht bin ich auch abgestumpft, man warnt ja zeitgleich auch vor einem rechten Europa). Aber Sie haben recht, was den Prozentsatz betrifft (in der Presse findet sich sogar eine Grafik neben dem Artikel, die das zeigt).
Die verstrichene Zeit soll kein Hindernis für Überlegungen sein, ich würde mich jedenfalls freuen.
Zu Ihrer Aussage: »Man stelle sich vor, Kapp ernannte sich zum Reichskanzler und hätte dies in einer Pressekonferenz der in- und ausländischen Presse verkündet und sich danach den Fragen von Journalisten gestellt. Bereits die Zulassung der Journalisten zu dieser Pressekonferenz hätte der Genehmigung durch die Administration der neuen Regierung bedurft.«
In der Tat stellte sich „Reichskanzler“ Kapp einer Pressekonferenz und auch seinen Regierungssprecher vor. Das allerdings scheint sich mit einer gehörigen Portion Dilettantismus zugetragen zu haben, und die Putschisten ließen sich von den bockigen Journalisten vorführen.
Kapp kam in den Gartensaal des Palais Leopold am Wilhelmplatz, wo die institutionalisierte „Berliner Pressekonferenz“ (BPK) der Hauptstadtjournalisten – Vorläufer der heutigen Bundespressekonferenz e.V. – stets tagte. Es ist wahrscheinlich, dass sich die Korrespondenten dort bei den ersten Putschnachrichten versammelten und warteten. Das Palais war Sitz der Vereinigten Presseabteilung der Reichsregierung. Im Palais fanden praktisch täglich wechselweise die BPK unter Vorsitz der Journalisten (die auch über die Akkreditierung selbst entschieden) und die „Pressempfänge“ der Regierung unter Vorsitz des Regierungssprechers statt. Das war 1920 bereits eingespielte Routine.
Ob bei der Kapp-PK der Vorsitz von einem Journalisten geführt wurde, ist nicht bekannt. Offenbar war das Zulassungsprocedere kein Thema, und die Putschisten unterwarfen sich weitgehend den Hausregeln. Was vielleicht auch erklärt, warum keine Kameras zugegen waren, das war im Palais unüblich.
PK-Mitglied Richard May, ein liberaler Parteigänger und Redakteur des „Süddeutschen Zeitungsdienstes“ und der „Deutschen Einheit“, berichtet in seinen Memoiren „Die Regie war schlecht“ (1963), wie das damals mit Kapp ablief:
„Eine stürmische Pressekonferenz“ (May, 1963, S. 57–59)
Draußen, auf dem Wilhelmsplatz zwischen der Reichskanzlei und dem Ordenspalais, lagerten die Baltikumer Truppen, die unter Ehrhardt gegen Berlin marschiert waren. Am Stahlhelm das Hakenkreuz mit schwarz-weiß-rotem Band. […]
Kapp, von dem der Putsch seinen Namen empfing, war ein sonderbarer Mann. Der Generallandschaftsdirektor wollte nach seinen eigenen Erklärungen sühnen, was sein Vater an Deutschland gesündigt hätte. Nach seiner Beteiligung an der Revolution von 1848 war Friedrich Kapp nach Amerika geflohen. Vermutlich war der Sohn dort geboren worden.
In demselben Saal, in dem bisher die Pressekonferenzen abgehalten worden waren, fand auch die Kapps statt. Seine Ansprache war kurz und nicht grade überwältigend.
Sofort meldete sich Georg Bernhardt, der inzwischen Chefredakteur der Vossischen Zeitung geworden war, zu Wort. Als er aber Kapp Herr Reichskanzler anredete, brach ein solcher Sturm des Unwillens los, dass er sich setzen musste.
Kapp stellte dann den früheren Rechtsanwalt [Paul] Bredereck als Pressechef vor und ein Kollege fragte, ob der Steckbrief gegen Bredereck wegen Unterschlagungen denn aufgehoben wäre? Worauf Kapp mit seinem Schützling verschwand.
Nun erschien als neuer Pressechef der Lizentiat Dr. [Gottfried] Traub, der im Konflikt mit seiner Kirchenbehörde in Westfalen Märtyrer geworden war und etwas überhastet von den Freisinnigen ein Landtagsmandat erhalten hatte. […] Traub versicherte uns in wohlüberlegten Worten „die Regierung Kapp stände auf dem Boden der Weimarer Verfassung. Ich zeigte ihm eine Sonderausgabe der „Regierung Kapp“ die ich auf dem Wege erhalten hatte. Auf ihr wurde das Stehen von Streikposten mit dem Tode bedroht. Auf meine Frage, wo die von der Verfassung vorgeschriebene Unterschrift des Reichspräsidenten geblieben wäre? erwiderte er, er müsste sich erkundigen. Und kam nicht wieder.
Als Ersatz überraschte uns [Johannes W.] Harnisch, Redakteur des Berliner Lokalanzeigers. Er ist später christliches Ehrenmitglied des Vereins nationalgesinnter deutscher Juden gewesen, der Hitler bei seinem Amtsantritt ein Huldigungstelegramm sandte. Was er jetzt sagte, war genauso verworren.
Irgendetwas erregte Zorn. Kapitänleutnant [Hans] Humann forderte uns auf , das Palais zu verlassen.
In einem nahen Ministerium hielten wir eine eigene Konferenz ab. Humann war bei Kriegsausbruch Kommandant der Loreley im Hafen von Konstantinopel und hatte daran mitgewirkt, dass die Großen Kreuzer „Breslau“ und „Goeben“ dort einliefen. Daraus entstand der Beitritt der Türkei zu den Mittelmächten. Jetzt war er Verlagsdirektor der von Stinnes mit entwertetem Geld gekauften Deutschen Allgemeinen Zeitung.
Unsinnig waren die Gerüchte, die verbreitet wurden. Das eine behauptete, England stände hinter Kapp. Ein solcher Übergang auf die andere Seite war selbst für London verfrüht. Ich habe später gelesen, der Kapp-Putsch wäre durch den angekündigten Generalstreik beendet worden. Meines Erinnerns haben die Staatssekretäre, die ihre Minister vertreten mussten, ohne Unterschied der Parteizugehörigkeit den Rebellen die Kredite bei Reichsbank und Preußischer Seehandlung gesperrt, sie also finanziell ausgehungert. Was sicher rascher und gründlicher wirkte.
May, R. (1963). Die Regie war schlecht (Teil 1). Series I: Writings, 1914–1963, Box 1, Folder 14. Richard May Collection 1914–1972 AR 1997 / MF 873 Leo Baeck Institute, Center for Jewish History, New York. Abgerufen am 24.06.2014 von http://www.archive.org/stream/richardmay_01_reel02#page/n1163/mode/1up
[Rechtschreibung behutsam angepasst und korrigiert.]
Das ist sehr interessant. Danke.