Man nennt es »Miranda-Urteil« oder einfach nur »die Rechte«. In Hunderten von Krimis wurden sie dem scheinbar oder tatsächlich überführten Mörder vorgelesen. Sie beginnen mit »Sie haben das Recht zu schweigen…«. Das Recht, die Aussage zu verweigern, ist ein essentielles Recht eines Verdächtigen oder Angeklagten. Mit dem Schweigen verhindert er unter anderem, sich in Widersprüche zu verwickeln, die dann als Hebel der Beweisführung gegen ihn dienen könnten, was sich im zweiten Satz zeigt: »Alles was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden«. Da das Recht zu schweigen auch bedeutet, dass man auf Aussagen zur Entlastung verzichtet, gehen Laien zumeist davon aus, dass Schweigen einem Tat-Eingeständnis gleich- oder mindestens nahekommt.
Auch Christian Wulff muss dieser Meinung sein. Nicht, dass er bei seinem Prozess geschwiegen hat. Aber im Prozess ging es nicht um das, was ihn nach wie vor umtreibt: Die Medienkampagne gegen ihn und gegen seine damalige Frau Bettina. Christian Wulff schweigt dazu nicht. Er schreibt darüber ein Buch. Dabei hat er womöglich den zweiten Satz seiner Rechte nicht bedacht.
Der Elder Statesman
Wulff tastet sich in dem Buch an die Kampagne um seinen Rücktritt als Bundespräsident heran. Dabei wechselt er ständig zwischen der Betrachtung der diversen Phasen des Skandalons und seiner politischer Biographie. Bei letzterem verfällt er schnell in einen salbungsvoll-pastoralen Elder-Statesman-Ton. Politik mache ihm »Freude« liest man da und wir erfahren, er führe seine Herde lieber von hinten (wie er es von Nelson Mandela gehört habe). »Ich habe schon immer gern unterschiedliche Menschen zusammengeführt und motiviert« steht da und der Käse ist dann endgültig geschmolzen. Von seiner Zeit als Ministerpräsident schwelgt Wulff in den höchsten Tönen. Selbstlob ist durchaus seine Sache. Dass aus der geplanten feindlichen Übernahme von VW durch Porsche der Volkswagen-Konzern gestärkt herausging, bucht er großzügig auf seine Seite. Bemerkenswert sein Politikverständnis dieses Amtes. Als demokratisch gewählter Politiker sieht er es als seine Aufgabe an, Unternehmen »Hilfe auf dem Weg zu neuen Absatzmärkten« zu leisten. Vielleicht kann mir jemand diese Stelle in der niedersächsischen Verfassung einmal zeigen? Ich habe nur §37 Absatz 1 gefunden und dort steht unter anderem: »Die Ministerpräsidentin oder der Ministerpräsident bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung.«. Sogar der Bundespräsident ist für Wulff neben seinen repräsentativen und protokollarischen Pflichten hauptsächlich dazu da, »den Zusammenhalt und die Wettbewerbsfähigkeit unserer Gesellschaft« zu fördern. Somit hatte die Bullshit-Phrase »Wettbewerbsfähigkeit« mit Wulff Einzug ins Bellevue und in das Amt des Bundespräsidenten gehalten.
Wahlen als Folklore
Erstaunlich auch Wulffs Verständnis von Demokratie. Geschlossenheit ist für ihn eine Tugend und »vollkommen selbstverständlich«. Und er rechtfertigt offen den Fraktionszwang. Wo käme man sonst hin, wird rhetorisch gefragt. In nur zwei Fällen sei die geheime Wahl in der Verfassung vorgeschrieben, so Wulff. In allen anderen Fällen legen die Geschäftsordnungen der Parlamente, dass öffentlich abgestimmt wird, damit der Fraktionszwang überprüft werden kann [Hervorhebung von mir]. Mit dieser selbstgefälligen Sicht geht er schließlich auch in die Bundesversammlung. Dort standen die Mehrheiten »de facto von vornherein fest«, wie er mit großer Selbstverständlichkeit formuliert. Gegenkandidaten gingen zwar ins Rennen, hätten aber eigentlich nie eine Chance. Daher spreche man, so Wulff, von »Zählkandidaten«. Gauck sei 2010 nur nominiert worden, um die Reihen in der schwarzgelben Regierungskoalition zu verunsichern. Die Wahl zwischen Kandidaten ist für Wulff also eine Verunsicherungskampagne; bestenfalls eine Art Demokratiefolklore. Die Appelle von Biedenkopf und von Weizsäcker, die beide mit Gauck sympathisierten, den »Fraktionszwang« für die Wahl zum Bundespräsidenten aufzuheben, begegnet Wulff mit einer interessanten Volte: Es gebe gar keinen Fraktionszwang, so Wulff, weil – und das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen – in der »geschlossenen Wahlkabine« eine solcher Zwang »gar nicht durchsetzbar« sei. Er spricht also nicht davon, dass es Fraktionszwang de jure gar nicht gibt, sondern nur, dass er nicht durchsetzbar ist. Wulff hat das informelle Verbiegen demokratischer Grundrechte bereits derart internalisiert, dass er gar nicht merkt, mit welcher Verachtung er frei gewählten Abgeordneten damit begegnet. Wenn er sich dann später für mehr Diskussionsprozesse in Parteien stark macht und nicht jeden Disput gleich als »Streit« in den Medien denunziert sehen möchte, ist das kaum noch glaubwürdig.
Mit seiner eigenen Beckmesserhaftigkeit weist Wulff daraufhin, dass er im 3. Wahlgang mit der absoluten Mehrheit gewählt wurde, die im 1. Wahlgang angestrebt war. Er sei damit nicht durch die Enthaltung der Linkspartei gegenüber Gauck gewählt worden. In Bezug auf den 3. Wahlgang hat er natürlich Recht: Wäre das Ergebnis im 3. Wahlgang schon im 1. Wahlgang erreicht worden, wäre Wulff sofort Bundespräsident geworden. Gleichzeitig ist es aber auch nur die halbe Wahrheit: Hätte nämlich – rein theoretisch – die Linke im 1. Wahlgang für Gauck (statt für ihre Kandidatin Luc Jochimsen) gestimmt, wäre es gar nicht zum 3. Wahlgang gekommen und Gauck wäre schon im 1. Wahlgang mit 625 Stimmen Bundespräsident geworden. Der Zählkandidat hätte reüssiert – für Wulff ein nahezu undenkbarer Vorgang, ein Unglück.
Die Sache klingt banal, offenbart aber Wulffs Verankerung im Politbetrieb. Im Kapitel über seine Bundespräsidentschaft beklagt er sich dann über die protokollarischen Regeln, die ihn gefesselt hätten. Beispielsweise darf ein Bundespräsident seine Gesprächspartner nicht aufsuchen – die Personen müssen zu ihm kommen. Daher hätte er sich am Ende nicht ausreichend beraten können, so der Tenor. Tatsächlich hatte es Wulff doch nicht zuletzt durch die virtuose Choreographie dieser Regularien nach »ganz oben« in der politischen Hierarchie geschafft.
Keine Geschäftsbeziehung?
Auch wo Wulff im weitesten Sinn Recht hat, schleichen sich Ungereimtheiten ein. »Von einer aktiven Zusammenarbeit, gar einer Geschäftsbeziehung« mit dem Springer Verlag bzw. »Bild« »kann…keine Rede sein«, so Wulff wuchtig. Er, der in seiner Mailbox-Nachricht an Kai Diekmann vom »Bruch« spricht – was droht dort denn zu brechen? – redet von »kontrollierte[r] Freigabe« des Privatlebens und legt noch nach: »Home-Stories gab es mit uns nicht«. Natürlich ist »Home-Story« ein dehnbarer Begriff, aber wie anders sollte man das und das bezeichnen?
Und wenn es denn keine »Geschäftsbeziehung« gab, wie nennt man das, wenn Kai Diekmann am 30. September 2010, drei Tage vor der Rede zum Tag der Deutschen Einheit mit dem später kontrovers diskutierten Statement, mit Wulff und seiner Frau beim Frühstück in Schloß Bellevue sitzt? Hastig beeilt sich Wulff darauf hinzuweisen, dass er Ende Juni 2010, »also noch vor meiner Wahl«, eine Einladung in Diekmanns Haus in Potsdam angenommen hatte. Dies war nun sozusagen die »Gegeneinladung«, die »seit längerem« verabredet gewesen sei. Was leicht unterzugehen droht: Wulff war seit 3. Juni Regierungskandidat für das Amt des Bundespräsidenten. Die Wahl fand am 30. Juni statt. »Ende Juni« war Wulff bei Diekmann – also unmittelbar bevor er zum Bundespräsidenten gewählt werden sollte. Wulff konnte Ende Juni trotz der Diskussion davon ausgehen, dass er Bundespräsident wird (siehe »Zählkandidat«!). Diekmann bekommt also eine Gegeneinladung, wenn Wulff im Amt sein würde. Soviel zum Thema, es gebe einen »Abstand« zu den »Springer«-Medien und das Verhältnis sei schwierig gewesen, wie er an anderer Stelle schreibt. Worin die Schwierigkeiten bestanden haben, schreibt er nicht. Denn immerhin: Diekmann bekam an diesem 30.9. Wulffs Rede zum 3.10. zu lesen. Alleine dies verbietet sich. Dann glaubte er noch Wulff korrigieren zu müssen und meinte, der Satz, der Islam gehöre zu Deutschland, »ginge in keinem Fall«. Wulff bemerkte Diekmanns »Missfallen«, aber seine Entscheidung war gefallen, wie er leicht kokett anfügt. Er sei heute noch stolz, diesen Satz gesagt haben.
Mephisto und Faust?
Für Wulff steht rückblickend fest: Es war diese Rede, die vorher mehrfach getätigten Aussagen zur »bunten Republik« und – da wird es skurril – sein neuer Stil der Weihnachtsansprache stehend und mit Menschen als Zuhörer (hier greift er ausführlich die Kritik des Kölner Kardinals Meisner auf, als wäre dieser für einen Bundespräsidenten satisfaktionsfähig gewesen), die ihn am Ende gestürzt hat. Die im Netz kursierende These, er habe mit seiner Lindauer Rede zur Euro- und Bankenkrise angeeckt, stuft er als »Verschwörungstheorie« ein. Stattdessen wendet er sich dann im Laufe des Buches seiner eigenen Verschwörungstheorie zu.
Da »Bild« und Kai Diekmann von Wulff voll umfänglich zu den Hauptschuldigen erklärt werden, werden alle Indizien in diese Richtung gedeutet. Als bei einem Afghanistan-Besuch Wulffs »Bild« keinen Korrespondenten dabei hatte, was man angeblich vorher mit Glaeseker, Wulffs Pressemann, eingefädelt hatte, bebt der Mephisto des deutschen Journalismus durch beredtes Schweigen in der Redaktionsrunde.
Also war es Rache? Kein »Verweile doch, Du bist so schön…« war Wulff als Bundespräsident gegönnt? Oder nur eine »fatale Abfolge gegenseitiger Irritationen«? Wie kann man sich als Bundespräsident von der »Bild«-Zeitung »irritieren« lassen? Und was könnte daran »fatal« sein?
Die Höhepunkte der sogenannten »Mailbox«-Affäre erklärt Wulff schlüssig – aber es bleibt in seiner Fixierung auf Diekmann nur die halbe Wahrheit. Wenn dem dann so wäre, wenn also eine Figur wie Diekmann die mediale Macht besäße, nicht nur in seiner Postille sondern in der nahezu gesamten Journalistenschaft den wirkungsmächtigen Mephisto abzugeben – was würde das eigentlich für einen Staat wie die Bundesrepublik bedeuten? Wulff kommt nicht einmal auf die Idee, diese Frage zu stellen, sondern zählt stattdessen die in Talkshows und Redaktionsstuben entstandenen Seilschaften auf. Das ist aber längst bekannt und ausgiebig dokumentiert worden.
Würde Wulff die auf ihn angezettelte Jagd auf sich und seine Person beziehen, könnte man ihn womöglich für paranoid erklären. Schon um sich selbst zu schützen nimmt Wulff gesellschaftspolitische Ursachen für diesen medialen Krieg an. Das kann man machen – aber dann darf man sich nicht in Andeutungen ergehen. Wenn es um die »bunte Republik« ging für die Wulff eintrat und die »Springer«-, »Spiegel«- und »FAZ«-Journalisten verhindern wollten, müsste er Belege hierfür bringen. So erinnert er sich an den Disput mit Diekmann beim Frühstück nicht mehr. Das ist schade, denn hier könnte ein grösseres Mosaiksteinchen zu finden sein. Denn bisher waren Leute wie Minkmar, Patrick Bahners, Frank Schirrmacher, Georg Mascolo und Tillack nicht direkt dafür bekannt, Parteigänger Diekmanns und Blomes zu sein. Vor allem Bahners attackiert er (ohne ihn zu nennen) ziemlich unnötig und in Verkennung von dessen Intention. Die grundsätzliche Frage ist also: Warum machten irgendwann (fast) alle mit?
Am 13.12.2011 war ich auch der Meinung, dass es tatsächlich um Wulffs Weltoffenheit ging, die einigen Journalisten nicht gepasst hat. Diese war ja auch (und vor allem) innerhalb der Union nicht ohne Widerspruch. Was mich schon damals – vor der »Mailbox«-Affäre – skeptisch stimmte war die merkwürdige Einigkeit in der Presselandschaft. Plötzlich war – in aller Öffentlichkeit – die »Bild« als investigatives, seriöses Medium mit »Spiegel«, »FAZ« und anderen sozusagen satisfaktionsfähig geworden.
Als die Punkte Häuserkauf, Lüge oder Nichtlüge des niedersächsischen Parlaments mehr oder weniger ins Nichts verpufften, trug Wulff mit seiner ominösen Mailbox-Nachricht selber zur Eskalation der Medienspirale bei. Die genaue Abwicklung dieser Kampagne, während der Kai Diekmann die »Bild« als Banner der Pressefreiheit inszenierte, ist bei Michael Götschenberg nachzulesen. Wulff liefert in seinem Buch den Wortlaut der Mailbox-Nachricht. Sie deckt sich bis auf drei von ihm vorgenommene Ergänzungen mit dem Text, der am 14.12.2012, also fast genau ein Jahr später, auf Focus-Online publiziert wurde. Wulff spricht von einer »Riesendummheit«, diesen Text auf eine Mailbox gesprochen zu haben. Er habe, so seine Aussage, die Möglichkeiten, die ein solcher Text als unwiderruflich abgespeichertes Medium bietet, unterschätzt. Seine Erklärung hierfür, in einer anderen Angelegenheit habe man ihm einige Wochen vorher geraten, doch einfach mal anzurufen, mutet reichlich naiv an. Und man fragt sich mehr als nur einmal in diesem Buch, wie ein ausgebuffter Politprofi wie Wulff eine derart unbedarfte Haltung an den Tag legen kann. Und man fragt sich zweitens wo denn seine Berater, Pressesprecher und sonstigen Helfer gewesen sind.
Der Sündenfall: Diekmanns Schmierentheater wird von den »Qualitätsmedien« willig begleitet
Detailliert schildert Wulff, wie Diekmann die »Bild« nun sukzessive als »Opfer« eines Politikers, der durch die Hintertür einen »Anschlag« auf die Pressefreiheit implementierte. Wulffs Wahrnehmungen der entscheidenden Fernsehsendungen – Günther Jauch und auch das Interview mit Deppendorf/Schausten – decken sich weitgehend mit Götschenbergs Erläuterungen. »Spiegel« und »FAZ« hingen sozusagen an den Lippen von »Bild«. Dabei kannten nur die wenigsten den genauen Wortlaut der Mailbox-Nachricht. Aber Journalisten sind es ja eh gewohnt, nicht genau und vollständig zu lesen – es scheint eher störend für das eigene Weltbild zu sein. Wulffs Nachricht ist für sie ein Elfmeter ohne Torwart, wobei sie Schützen sind, die eine Augenbinde tragen. Aber die martialischen Begriffe wie »Krieg« und »Rubikon« lassen sich wunderbar aus dem Zusammenhang reißen, entstellen und durch den Zitatewolf drehen.
Aber auch hier schießt Wulff zuweilen über das Ziel hinaus. Etwa wenn er über den »Laienjournalismus« wettert, der ihn aber doch gar nicht zu Fall gebracht hat. Oder, gravierender, auf einen Artikel in der FAZ vom 19.12.2011 hinweist, in dem erstmals raunend auf eine Mailbox-Nachricht angespielt wird und dann suggestiv schreibt: »Der Autor des Artikels wurde [Hervorhebung von mir] zum 1. Januar Feuilleton-Chef des Blattes.« Gemeint ist Nils Minkmar, der jedoch schon einige Monate vorher zum Feuilletonchef ernannt worden war. Überraschenderweise geht Wulff nicht en détail darauf ein, dass jemand wie Minkmar, aber auch Georg Mascolo (damals »Spiegel«) den gesamten Originaltext der Mailbox-Nachricht nicht gekannt hatte (was in den Fernsehsendungen »Beckmann« [Minkmar] und »Günther Jauch« [Mascolo] sichtbar war), aber beide dennoch »wussten«, wie Wulffs Reaktion zu bewerten ist. Eine größere intellektuelle Verkommenheit als sich über etwas offensiv zu äußern, was man nicht kennt, gibt es eigentlich nicht.
Feind, Intimfeind, Parteifreund
Also doch alles »Bild« und Journaille? Ja und nein. Die Sache ist vermutlich komplizierter. Die These von Stefan Niggemeier, Wulff sei über eine Falschmeldung in »Bild« gestürzt, ist verkürzend und falsch. Selbst Wulff sieht das komplexer. Die manipulierte Meldung der »Bild« diente der Staatsanwaltschaft als Initial, die Immunität des Bundespräsidenten aufzuheben. Denn Wulff erzählt, wer dort inzwischen Platz genommen hatte. Es sind die interessantesten Passagen in seinem Buch, die man kurz mit dem Superlativ von »Feind« zusammenfassen könnte: Feind -> Intimfeind -> Parteifreund. Selbst Wulffs Nachfolger David McAllister gab auf dem Höhepunkt der Hatz auf Wulff die Direktive aus, keine Solidaritätsadressen für den Bundespräsidenten abzugeben. Journalisten hatten bei ihm selber eine kleine Verfehlung entdeckt – er hatte einen Leihwagen (VW-Golf) zu vergünstigten Konditionen erhalten. Seine Neutralität beschützte ihn nun.
Aus McAllisters Kabinett wurde mit dem niedersächsischen Justizminister Bernd Busemann (CDU) ein Intimfeind Wulffs tätig. Busemann hatte sich gegenüber dem Ministerpräsidenten Wulff öffentlich eine Illoyalität geleistet. Jahre später wurde Busemann im Rahmen eines Kabinettrevirements 2008 vom Kultusminister auf das Amt des Justizministers gelotst. Dabei muss man wissen, dass Kultusminister in den Bundesländern durchaus wichtige Aufgaben zu erfüllen haben, während Länderjustizminister eigentlich ziemlich überflüssig sind. Ihr »Handlungsspielraum« sei »normalerweise beschränkt«; sie, die Länderjustizminister »führen in erster Linie Aufsicht über Gefängnisse und Staatsanwaltschaften«, so Wulff leicht sarkastisch. Letzteres wird ihm dann tatsächlich noch zum Verhängnis werden. Busemann, der schon früher auf Konfrontation zu Wulff gegangen war, bekommt urplötzlich auf seiner »abgeschobenen« Position einen Hebel in die Hand. Die Rechnung lag schon lange in der Schublade – jetzt wird sie präsentiert.
Die zweite Person, die bei der Aufhebung der Immunität eine wichtige Rolle spielt, ist Frank Lüttig, der damalige Leiter der Abteilung IV im niedersächsischen Justizministerium. Wulff hatte durch Einsparungsmaßnahmen Lüttigs Karriere »blockiert«. Erst nach dessen Weggang wurde Lüttig Abteilungsleiter. Und kurz vor Busemanns Ausscheiden aus dem Justizministerium (Anfang 2013 verloren CDU/FDP die Landtagswahlen) ernannte er Lüttig noch zum Leiter der Generalstaatsanwaltschaft in Celle, der vorgesetzten Behörde der Staatsanwaltschaft Hannover. »Damit übernahm Frank Lüttig die Aufsicht über das Ermittlungsverfahren gegen mich, dessen Eröffnung er als Abteilungsleiter mit zu verantworten gehabt hatte«, so Wulff. Merkwürdig, dass er nur am Rande feststellt, dass die Aufhebung der Immunität des Bundespräsidenten formal gar nicht durch eine Staatsanwaltschaft erfolgen kann. Das Grundgesetz sieht vor, dass nur das Bundesverfassungsgericht aktiv werden kann – und auch nur für eine gravierende Verfehlung im Amt.
Man muss jetzt nicht selber in dunkle Mächte heraufbeschwören, um die wachsende Unverhältnismässigkeit der Ermittlungen gegen Wulff und seine Familie zu entdecken. Vorwürfe und angebliche Fundstücke waren zum Teil bizarr. So folgte man dem Hinweis, Wulff habe 1976 bei der Wahl zum Schülersprecher seine Mitschüler mit »After eight« »bestochen«. Die Wechselwirkungen zwischen den ermittelnden Behörden und den Medien führte zu diesem Ermittlungswahnsinn, der dem Steuerzahler am Ende Millionen Euro gekostet hat. Man kann sich vorstellen, wie groß der Druck gewesen sein mag, »etwas« zu »finden«. Sowohl für die Ermittlungsbehörden als auch für die Ankläger aus dem Journalismus stand viel auf dem Spiel. Am Ende wurde Wulff »uneingeschränkt unschuldig« gesprochen, was er gleich zu Beginn des Buches erwähnt.
Dennoch: Wulffs Wortmeldung ist fatal. Es beginnt schon beim Titel des Buches: »Ganz oben Ganz unten«. Jürgen Kaube weist richtigerweise darauf hin, dass »Ganz oben« nicht pekuniär gemeint sei und Empörung über das »Ganz unten« daher nicht angebracht sei. Dem stimme ich zu. Aber niemandem ist aufgefallen, dass der Titel eine Anmaßung enthält. Wulff spielt auf Günter Wallraffs Buch »Ganz unten« an, in dem Wallraff Anfang der 1980er Jahre in der Rolle als türkischer Grubenarbeiter die Arbeitsbedingungen und das soziale Umfeld im Ruhrgebiet beschrieb. (Man sage mir nicht Wulff kennt Wallraff nicht – er zitiert aus dessen Buch »Der Aufmacher. Der Mann, der bei ‘Bild’ Hans Esser war«.) Später im Buch erzählt Wulff in höchsten Tönen von seinem Besuch beim türkischen Staatspräsiden Gül und seinem freundschaftlichen Verhältnis zu ihm. Wulff sieht sich »Ganz unten«, da er für die Türken Partei ergriffen hat, ja, er sieht sich womöglich als eine Art Ali Levent, jener, für den sich Wallraff ausgab.
Ich habe inzwischen keinen Zweifel daran, dass Wulff in einer Mischung aus selbstverschuldetem Unglück und narzisstischem Jagdtrieb einiger wildgewordener Egomanen einem eben auch qualitätsmedialen Blutrausch erlag, in dem sich zu Beginn mehrere Jäger gleichzeitig auf das gleiche Objekt konzentrierten. Zunächst begann ein Wettkampf (»Bild«, »stern«, »Spiegel«). Als »Bild« durch die Mailbox-Nachricht praktisch über Nacht ein Faustpfand in der Hand hatten, übernahm »Bild« die Führungsrolle. Willig liessen sich nahezu alle selbsternannten Qualitätsmedien vor den Karren spannen. Zu verlockend schien die Trophäe. Da nach der Euphorie die Vorwürfe nicht für eine fortlaufende Skandalisierung taugten, wurden nun alle Hebel, auch die absurdesten, in Bewegung gesetzt. Gäbe einen solchen Straftatbestand könnte man von einer Art informationellen Belästigung durch die Medien sprechen.
Wulff stolperte dabei wie ein waidwundes Tier immer wieder mit großem Schwung in die aufgestellten Fettnäpfchen, die aber, um im Bild zu bleiben, nur leer waren. Dass er 2010 direkt von der aktiven Politik in die repräsentative Aufgabe wechselte, stellte sich als Malus statt als Bonus heraus. Zu tief war er in landespolitische Kabale verstrickt, in denen er sich in all den Jahren auch Feinde geschaffen hatte. Ihm ist übel mitgespielt worden, aber er hat auch als Krisenmanager versagt, weil er zu lange darauf baute, dass das Amt des Bundespräsidenten ihn schützen werde. Am Ende ist es verrückt: Es ging gar nicht mehr direkt um die Person Wulff, sondern um das Jagdobjekt Bundespräsident. Wäre Wulff Präsident einer mittleren Behörde gewesen, wäre die Angelegenheit früh zu Ende gewesen. Dass Wulff den Prozess durchzog und nicht auf einen Deal der Staatsanwaltschaft einging, hat die teilnehmenden Journalisten verärgert.
Eine Aufarbeitung fand in einigen Medien durchaus statt. Zaghaft begann bei einigen Journalisten eine Art Reflexionsprozess. Mit dem Unschuldsspruch des Gerichts wurde ihnen der Wind aus den von ihnen aufgeblähten Segeln genommen und aus den leergepusteten Backen japsten sie undeutlich, aber bemerkbar um Vergebung. (Dies gilt und galt freilich nur für jene die noch nicht besoffen sind in ihrem Selbstheroisierungswahn.) Die Sachverhalte hätten in den nächsten Jahren von neutralen Publizisten in Ruhe aufgearbeitet werden können. Mit »Ganz oben Ganz unten« ist dieses zarte Pflänzchen der Demut wieder akut vom Aussterben bedroht. Der Korpsgeist beginnt sich zu re-formieren. Denn eines hat die Affäre ganz deutlich gezeigt: Wenn es um Auflage und Ruhm geht, finden sich auch in der Presselandschaft für unmöglich gehaltene Allianzen. Wulff hätte aus dem Recht zu Schweigen eine Pflicht machen sollen. Er hätte sich mit zielgerichteten politischen und/oder sozialen Engagements wieder vorsichtig in das politische Bewusstsein des Landes einbringen sollen. Stattdessen bietet er mit teilweise ungenauen und ungelenken Formulierungen wieder neue Angriffsflächen. So langsam verfestigt sich der Eindruck: Er kann es einfach nicht.
@ Gregor Keuschnig
»Denken ist vor allem Mut…« (L. Hohl)
Kompliment, Sie gehören zu den Wenigen, die das Buch kritisch gelesen und durch Ihre einseitige Brille kommentiert haben. Ihr Kommentar gehört als Pflichtlektüre zum Buch:
» Die These von Stefan Niggemeier, Wulff sei über eine Falschmeldung in »Bild« gestürzt, ist verkürzend und falsch. Selbst Wulff sieht das komplexer. Die manipulierte Meldung der »Bild« diente der Staatsanwaltschaft als Initial, die Immunität des Bundespräsidenten aufzuheben. Denn Wulff erzählt, wer dort inzwischen Platz genommen hatte. Es sind die interessantesten Passagen in seinem Buch, die man kurz mit dem Superlativ von »Feind« zusammenfassen könnte: Feind -> Intimfeind -> Parteifreund… «
Die These von SN ist nicht falsch, sondern nur ein kleiner Mosaikstein aus dem komplexen Gesamtbild, das die ‘Wuff-Affäre’ zur größten Staatsaffäre seit Bestehen der BRD macht, mit Hintermännern hinter Hinterfrauen im Kanzlerinamt in Berlin. Diese Staatsaffäre ist bis heute nicht aufgearbeitet worden: Zusammen mit dem Rattennest ‚Hannover‘ haben sie das Wahlergebnis vom 22.09.2013, mit dem Frau Merkel von den 62 Mio. deutschen Wahlberechtigten nach den Regeln unserer Parlamentarischen Demokratie mit 311:320 Mandaten als Kanzlerin abgewählt worden war, in 83 Tagen Postenschachers zu einer Parteien-Oligarchie namens Große Koalition pervertiert, wie zu DDR-Zeiten, mit der Großen Vorsitzenden Angela Merkel. Sie wurde erst am 17.12.2013 von 462 AbgeordnetInnen von 621 Stimmabgebenden gegen den mehrheitlichen Willen der 62 Mio. Wahlberechtigten erneut als Kanzlerin des 18. Bundestages gewählt. Ihre Amtszeit war am 22.09.2013 vom Souverän nicht verlängert worden.
http://www.dw.de/merkel-erneut-zur-bundeskanzlerin-gew%C3%A4hlt/a‑17301547
Klares Votum mit einigen Gegenstimmen
Als der Bundestagspräsident um kurz nach 10 Uhr das Ergebnis verkündete, brach erneut langer Beifall los. Noch bevor Merkel die Wahl offiziell angenommen hatte, fiel ihr der Chef der Unionsfraktion, Volker Kauder, um den Hals und drückte ihr einen großen Blumenstrauß in die Hand.
Dann eilten SPD-Chef Sigmar Gabriel und der neue Fraktionsvorsitzende der SPD, Thomas Oppermann, auf die Kanzlerin zu. Nach anfänglichen Widerständen an der Parteibasis sind die Sozialdemokraten nun zu einer gedeihlichen Zusammenarbeit mit der mächtigen Kanzlerin fest entschlossen. 76 Prozent der SPD-Mitglieder hatten für die große Koalition gestimmt. Bei der Übergabe ihres Gratulations-Straußes drängten die beiden Sozialdemokraten CSU-Chef Horst Seehofer kurzzeitig ab, dessen Partei von Angela Merkel mit drei weniger wichtigen Ministerien bedacht wurde, darunter Verkehr und Landwirtschaft.
Insgesamt bekam Merkel 42 Stimmen weniger, als Union und SPD Abgeordnete im Bundestag haben.
Zitat Ende
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Wahlen als Folklore
Erstaunlich auch Wulffs Verständnis von Demokratie. Geschlossenheit ist für ihn eine Tugend und »vollkommen selbstverständlich«. Und er rechtfertigt offen den Fraktionszwang. Wo käme man sonst hin, wird rhetorisch gefragt. In nur zwei Fällen sei die geheime Wahl in der Verfassung vorgeschrieben, so Wulff. In allen anderen Fällen legen die Geschäftsordnungen der Parlamente, dass öffentlich abgestimmt wird, damit der Fraktionszwang überprüft werden kann [Hervorhebung von mir]. Mit dieser selbstgefälligen Sicht geht er schließlich auch in die Bundesversammlung. Dort standen die Mehrheiten »de facto von vornherein fest«, wie er mit großer Selbstverständlichkeit formuliert. Gegenkandidaten gingen zwar ins Rennen, hätten aber eigentlich nie eine Chance. Daher spreche man, so Wulff, von »Zählkandidaten«. Gauck sei 2010 nur nominiert worden, um die Reihen in der schwarzgelben Regierungskoalition zu verunsichern. Die Wahl zwischen Kandidaten ist für Wulff also eine Verunsicherungskampagne; bestenfalls eine Art Demokratiefolklore. Die Appelle von Biedenkopf und von Weizsäcker, die beide mit Gauck sympathisierten, den »Fraktionszwang« für die Wahl zum Bundespräsidenten aufzuheben, begegnet Wulff mit einer interessanten Volte: Es gebe gar keinen Fraktionszwang, so Wulff, weil – und das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen – in der »geschlossenen Wahlkabine« eine solcher Zwang »gar nicht durchsetzbar« sei. Er spricht also nicht davon, dass es Fraktionszwang de jure gar nicht gibt, sondern nur, dass er nicht durchsetzbar ist. Wulff hat das informelle Verbiegen demokratischer Grundrechte bereits derart internalisiert, dass er gar nicht merkt, mit welcher Verachtung er frei gewählten Abgeordneten damit begegnet. Wenn er sich dann später für mehr Diskussionsprozesse in Parteien stark macht und nicht jeden Disput gleich als »Streit« in den Medien denunziert sehen möchte, ist das kaum noch glaubwürdig.
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Quelle: https://www.begleitschreiben.net/er-kann-es-einfach-nicht/
Die Beschreibung der real-existierenden Parteien-Oligarchie in Berlin nach Vorbild von Ostberlin seit der schleichenden Machtübernahme durch Merkel-Schäuble nach Kohls Sturz.
[Psst, Typo:
Dann glaubte er noch Wulff korrigieren zu meinte [?] und meinte, der Satz, der Islam gehöre zu Deutschland, »ginge in keinem Fall«]
[Kommentar kann gelöscht werden.]
»Als bei einem Afghanistan-Besuch Wulffs »Bild« keinen Korrespondenten dabei hatte, was man angeblich vorher mit Glaeseker, Wulffs Pressemann, eingefädelt hatte, bebt der Mephisto des deutschen Journalismus durch beredtes Schweigen in der Redaktionsrunde. «
Eingefädelt wurde was? Dass KEINER dabei sein durfte? oder DASS einer dabei sein sollte? Und wieso bebte (bebte?) der Mephisto (Diekmann?) in der (welcher?) Redaktionsrunde?
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Aber schön, dass ausgerechnet Sie sich den Spaß gemacht haben und sich dies Machwerk vorgenommen haben. Danke. Literatur ist es ja nicht. Die Bücher von Conrad oder Nabokov (und viele mehr) lesen sich mit viel mehr Genuss und Gewinn. Doch wem sag’ ich das ...
Kleiner Einwurf:
»Erstaunlich auch Wulffs Verständnis von Demokratie. Geschlossenheit ist für ihn eine Tugend und »vollkommen selbstverständlich«. «
Wundert mich nicht, denn schon im Deutschlandlied steht die »Einigkeit« vor dem »Recht« und der »Freiheit«.
Das Urteil heißt »Miranda« (mit »a« in der Mitte) und gilt, da es sich um ein Urteil des Obersten Gerichtshofs der USA handelt, natürlich auch nur dort.
In Deutschland gilt § 136 Abs. 1 StPO: »Bei Beginn der ersten Vernehmung ist dem Beschuldigten zu eröffnen, welche Tat ihm zur Last gelegt wird und welche Strafvorschriften in Betracht kommen. Er ist darauf hinzuweisen, daß es ihm nach dem Gesetz freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen und jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen. Er ist ferner darüber zu belehren, daß er zu seiner Entlastung einzelne Beweiserhebungen beantragen und unter den Voraussetzungen des § 140 Absatz 1 und 2 die Bestellung eines Verteidigers nach Maßgabe des § 141 Absatz 1 und 3 beanspruchen kann. In geeigneten Fällen soll der Beschuldigte auch darauf, dass er sich schriftlich äußern kann, sowie auf die Möglichkeit eines Täter-Opfer-Ausgleichs hingewiesen werden.«
Ich glaube ja immer noch, die ganze Affäre war ein Schuss, der Qualitäts Journalisten, vor den Bug der großen Parteien.
Nach dem Motto: guckt mal was mit unliebsamen Politikern passiert, übrigens könnt ihr euch, mit der richtigen Abstimmung zum Leistungsschutzgesetz, beliebt machen.
@Klaus
Vielen Dank für den Fehlerhinweis.
»Bild« sollte bei der Afghanistan-Reise Wulffs dabeisein, weil man über einen aus Sicherheitsgründen verschobenen Termin nicht berichtet hatte. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Ein Termin für einen Staatsbesuch wird verschoben – die Gründe liegen klar auf der Hand. Und dann dealt man mit »Bild«, dass man, wenn man das nicht veröffentlicht, dann beim nächsten Besuch einen Reporter dabei hat. Wulff schreibt in dem Buch nachvollziehbar, das er einen »Bild«-Reporter gar nicht dabeihaben wollte aus Furcht davor, dass sein Besuch sozusagen in Echtzeit publik wird. Der »Spiegel« berichtete dann von der Absage. – Als der Besuch stattfand und Diekmann in der Redaktionskonferenz fragte, wer von »Bild« dabei war, kam die Antwort »niemand«. Götschenberg erzählt dann von Diekmanns Schweigen – und der Bedeutung dieses beredten Schweigens. Es liest sich wie die beleidigte Marotte eines Paten.
@Gast
Auch Ihnen Dank für die Korrektur.
@Jun
Das ist eine interessante These.
Ich hatte gehofft, Wulff hätte wenigstens ansatzweise ein bisschen Distanz zu sich selbst bekommen und könnte uns ein bisschen was über die Mechanismen der B- und C‑Promi-Werdung und ‑Selbstverhunzung erzählen. Aber das scheint ja leider gar nicht der Fall zu sein.
@Jun:
Nein, eher nicht. Die ganze Wulff-Hatz lese ich als Versuch der Medien, sich die eigene politische Macht noch einmal zu beweisen bzw. als eine Einfluss-Simulation. Und die hat in Wulff das ideale Objekt gefunden: kaum reale Macht, schlechte Vernetzung in der eigenen Partei, spektakulär schlechtes Urteilsvermögen und Status-Unsicherheiten sowie Narzissmus – also genau das, was einem zum idealen Opfer der Boulevard-Presse macht und das noch per Selbsteinlieferung zum Schlachten.
Mit einem Politiker, den sie selbst als mächtig ansehen, würden sie diese Spielchen noch nicht mal versuchen. Gerade nicht die Springer-Medien. Die wissen sehr gut, wo Bartel den Most holt.
Wirklich befremdlich ist, was Gregor Keunig schon beschrieben hat: professionelle Beratung in Sachen Medienarbeit scheint Herr Wulff ja nicht gesucht zu haben. Ich vermute, wieder so ein klassischer Fall von Selbstüberschätzung, die zur Beratungsresistenz führt.
@Doktor D
Einmal schreibt Wulff: »Ich folgte den Empfehlungen meiner Berater, die mich überzeugten, dass ich mit einer offensiven Strategie scheitern würde. Aber ich beschloss, durchzuhalten.« (Dieses »Aber« ist in diesem Zusammenhang interessant.) Später noch einmal: »Im Nachhinein betrachtet, wäre es vielleicht richtig gewesen, damals in die Offensive zu gehen...« Es geht hier um die Skandalisierung seiner mittellosen Halbschwester.
Unklar bleib: Wer waren diese Berater? (Vermutlich eben keine professionellen, sondern eher aus dem politischen bzw. institutionellen Umfeld.) Was bedeutet »offensiv«? (Im Fall der Halbschwester schreibt er von einem Interview in SZ oder Zeit – auch bemerkenswert: Das Interview als eine Art Hofbefragung?) Tatsächlich scheint sich Wulff auf das in vermeintlich Drachenblut gebadete Amt des Bundespräsidenten verlassen zu haben. Vielleicht war es dieses bräsige Abwarten Wulffs, was zusätzlich als Provokation gewertet wurde.
All diese Diskussionen gehen am Kern des Skandals vorbei. Laut Grundgesetz ist wer mindestens 40 Jahre alt ist, das passive Wahlrecht besitzt und von der Bundesversammlung mit Mehrheit gewählt wird – Bundespräsident – Punkt.
Und laut Grundgesetz kann ein Bundespräsident nur vom Bundesverfassungsgericht des Amtes enthoben, falls er ein schweres Vergehen oder einen Verfassungsbruch begeht.
Dass bei Wulff die Medien mit einem Bobbycar und einem Oktoberfestbesuch als Korruptionsvorwurf einen Bundespräsidenten stürzte ist der eigentliche Skandal.
@Gregor Keuschnig:
»Tatsächlich scheint sich Wulff auf das in vermeintlich Drachenblut gebadete Amt des Bundespräsidenten verlassen zu haben.« – Das meine ich mit spektakulär schlechtem Urteilsvermögen: Wer nach dem Abgegangen werden von Horst Köhler glaubt (und nach den eigenen 3 Wahlgänge, das Amt schütze ihn, der hat erstaunlich wenig von Politik und Medien verstanden. Dass eigentlich verwunderliche ist für mich, dass Wulff es überhaupt bis zum Ministerpräsidenten von Niedersachsen geschafft hat.
@Richard Kotlarski
Den von Ihnen genannten Punkt streift Wulff im Buch nur sehr am Rande. Was bedeutet das? Dass Gesetze gegenüber informellen Regularien, die durch Medien initiiert und von politischen Gegnern exekutiert werden, Vorrang haben?
@Kotlarski:
Gestürzt hat ihn die eigene Eitelkeit und Blödheit – und Feinde in der eigenen Partei. Man macht es ihm viel zu leicht, wenn man die Verfolgter der Medien-Nummer glaubt. Und überschätzt enorm, was Medien in der Politik (und auch in der Wirtschaft) können und was nicht.
@Doktor D
Es im dritten Anlauf geschafft zu haben – darauf ist Wulff stolz. Das merkt man dem Buch an. Sein Beharrungsvermögen – ähnlich dem von Helmut Kohl beim Kanzler werden. Die SPD war 2003 in Niedersachsen personell am Ende; Gabriel wohl nicht so’n Menschenfischer wie Schröder (der den skandalisierten Glogowski zurückließ, der dann schnell »zurückgetreten« wurde). Die Ergebnisse hatten sich zu 1998 umgekehrt. Damals 48:36 (SPD:CDU), hieß es 2003 33:48 (SPD:CDU).
@Gregor Keuschnig: Dass macht es umso seltsamer, dass er genau diese bewährte Technik (Schmerzfreiheit und Sitzfleisch) nicht beim Aufkochen des Häuslebau-Kredits angewendet hat. Oder tatsächlich nach vorne verteidigt hat: Mit der erbaulichen Geschichte, wie er seiner jungen Frau und der neuen Familie einfach einen Traum verwirklichen wollte – und dabei gar nicht daran gedacht hat, dass dieser Kredit ein bisschen komisch aussehen könnte. Das hätte in einer Nation von Menschen, die sich für schlimme Einfamilienhäuser in schlimmen Vororten bis über beide Ohren verschulden eine Sympathiewelle ausgelöst – und gut war’s.
Tja, aber das ist nun leider vergossene Milch – und das Buch von Wulff zeigt, dass er nicht ganz zu unrecht zurückgetreten ist. Er hat einfach überhaupt nix verstanden.
Ja, genau. Das Haus wurde ja sogar ausgiebig bespottet. Das hätte man ja zu Gunsten Wulffs wenden können.
Christian Wulff wurde von den Medien über Monate vorgeworfen, korrupt und bestechlich zu sein. Das ist ein Straftatbestand und damit eine äußerst schwerwiegende Anschuldigung. Am Ende stellte sich heraus, dass es für fast alle Vorwürfe nicht einmal einen Anfangsverdacht gab und im einzigen Fall, der vor Gericht landete, das Urteil auf »Unschuldig« lautete. Das heißt – alle diese Vorwürfe waren falsch und teils sogar erlogen – wie etwa der Vorwurf der BILD, Groenewold hätte Beweismitel beseitigen wollen.
Nun hört man von vielen Journalisten als Entschuldigung, Wulff sei seinen eigenen moralischen Ansprüchen nicht gerecht geworden. Darüber kann man diskutieren – nur ist das kein Straftatbestand, keine Staatsanwaltschaft hätte deshalb ermittelt, es hätte deshalb nie eine Aufhebung der Immunität und damit auch keinen Rücktritt gegeben.
Das Grundgesetz kennt auch keine »moralischen« Regeln, sondern nur »geltendes Recht«. Und wer sollte denn diese »moralischen« Regeln bestimmen – doch nicht etwa die BLD!
@Kotlarski: Offensichtlich hatte die Staatsanwaltschaft Hannover den Eindruck gewonnen, darauf eine Anklage aufbauen einigermaßen erfolgreich aufbauen zu können.
Man kann die Geschichte ja auch ganz anders erzählen: Ein Gericht, das auf die Anti-Medien-Propaganda der Wulff-Kanzlei angesprungen ist, und Zeugen, die sich aus Gründen nicht erinnern konnten, haben Wulff die bürgerliche Reputation halbwegs gerettet.
Wobei ich die Medien gar nicht in Schutz nehmen will – ganz und gar nicht: Wie schon gesagt, da haben sich Journalisten in einen Machtrausch reingeschrieben – dass sie das überhaupt konnten, verdanken sie zu sehr großen Teilen dem Unvermögen Wulffs, seine Position realistisch einzuschätzen.
@Doktor D
Wulff trägt insofern persönliche Verantwortung, als er durch seinen Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten die politische Beurteilung durch den Bundestag verhindert hatte. Nach dessen Geschäftsordnung hat ausschließlich der Bundestag abzuwägen, ob sich das öffentliche Interesse einer Ermittlung durch Strafverfolgungsbehörden gegen das öffentliche Interesse einer ungestörten Amtsausübung durchsetzt. Die Entscheidungsbegründung hätte ich gerne gesehen, weil sie im besten Falle als Gegengewicht zur geübten irrationalen Auslegung des Begriffs »Pressefreiheit« hätte wirken können.
Wulff hat also einen demokratiepolitisch unverzichtbaren Mechanismus unterlaufen und dem Rechtsstaat damit einen Bärendienst erwiesen. Diese Eigenmächtigkeit ist ihm unter gar keinen Umständen nachzusehen. (Öffentliches Interesse einer ungestörten Amtsausübung. Ich verwette den linken Teil meines Gesäßes, dass solches Interesse in der Öffentlichkeit vollkommen unbekannt ist.)
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