In den 1970er Jahren lief eine Vorabendserie im ZDF: Das »Königlich-Bayerische Amtsgericht«. Die Wikipedia rubriziert sie als Gerichtsshow und Heimatserie. Im Wesentlichen bestand sie aus gespielten Gerichtsszenen aus der Zeit vor 1914 aus einem fiktiven niederbayerischen Ort. Sie begannen immer mit einem kleinen Prolog: »Es war eine liebe Zeit, die gute, alte Zeit, vor anno 14. In Bayern gleich gar. Damals hat noch ihre Königliche Hoheit, der Herr Prinzregent, regiert. Ein kunstsinniger Monarch, denn der König war schwermütig.«
Ich muss in letzter Zeit immer wieder an diese kleine, durchaus im sanft ironischen Duktus vorgetragene Einführung denken, die mit den markigen Worten »Es war halt noch vieles in Ordnung damals« endet. Mit ähnlichen Worten könnte man in 60 Jahren vielleicht auch die Ära Merkel verklären. Das hätte man sich in den 1990ern, als Helmut Kohl Angela Merkel relativ zügig in wichtige Positionen hievte, niemals gedacht. Die politischen Hoffnungsträger waren andere. Einen (fiktiven) Euro für jeden, den man ohne eine Suchmaschine zu bemühen, namentlich nennen kann!
Dabei braucht man gar nicht die Fama der männermordenden Angela Merkel zu stricken. Sie ist in dieser Konsequenz Unsinn. Wenn Politiker innerhalb ihrer Organisation keinen Aufstieg mehr realisieren können, suchen sie andere Betätigungen. Das war bei Helmut Kohl nicht anders. Und auch der immer wieder hervorgeholte sogenannte Machtinstinkt ist in etwa so außergewöhnlich wie ein Lenkrad am Auto. In dieses Amt stolpert man nicht.
Irgendwann wird es neben den Hagiographien auch einmal kluge Bücher über Angela Merkel geben, die analysieren, warum sie bei den Wählern so erfolgreich ist. Dabei erreichten 2009 CDU/CSU nur 33,8%. Aber das hatte wohl damit zu tun, dass etliche CDU-Wähler sicher gehen wollten, dass die Große Koalition mit der SPD nicht fortgesetzt wird und ihre Zweitstimme der FDP gaben, was man ein bisschen an den Erststimmen ablesen kann. Erreichte Merkel noch 2005 mit etwas Glück die Kanzlerschaft, so war der Wählerwille 2009 eindeutig. 2013 dann der Triumph mit 41,5%.
Merkels scheinbar ungebrochene Popularität beruht vor allem darauf, dass sie perfekt den Delegationsmodus der Politik inkorporiert hat. Sie hat das, was man bei Ministerpräsidenten das »Landesvater«-Image nennt, auf die Bundespolitik übertragen. Despektierlich nennt man das »Mutti«, trifft damit aber nicht annähernd die Dimension. Die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008f, der Atomunfall von Fukushima, die Währungsturbulenzen um den Euro – all dies hält sie mit präsidialem Gestus aber ohne Prätention vor ihren »Kindern« auf Distanz. Damit dies nicht zur Fassade wird, werden auch schon mal institutionelle Schranken ausgehebelt. So garantierte sie mit dem damaligen Finanzminister Steinbrück an einem Sonntag den »Sparerinnen und Sparern« die Einlagensicherheit. Ähnlich Unerfüllbares versprechen Eltern ihren Kindern immer dann, wenn Panik droht. Und als sich der GAU in Fukushima abzeichnete, wurde die 180 Grad-Wende in der Atompolitik beschlossen. Nur kleinkarierte Geister pochen hier auf Parlament, Kabinett und Gesetzesbeschlüsse. Merkel handelt, trifft hier den Kern der Befindlichkeiten der Deutschen und widerlegt damit den Vorwurf, sie warte opportunistisch allzu gerne ab.
Politikprofessoren schwadronieren von der bedingten Handlungsfähigkeit der Politik – Merkel wischt das mit einem Federstrich zur Seite. Das hatte ein bisschen was von Helmut Schmidts Agieren bei der Sturmflut in Hamburg 1962 und die Opposition musste schon lange im Topf rühren, um die durchaus vorhandenen Haare in der Suppe zu entdecken. Aber da war das Zeichen längst im Raum: Ich mach was – wenn es notwendig ist. Ansonsten wird auf Sicht gefahren, was dauererregten Journalisten vielleicht schrecklich vorkommt.
Schwieriger ist es, Merkels Handlungsmaxime in europäischen Fragen sichtbar zu machen. Merkel inszeniert sich hier als Fels in der Brandung, eine gegen alle und schafft dies ohne selbstüberhöhendes Pathos. Das muss man erst einmal können. Das Delegationsversprechen »Ich mach was« wird hier eingepreist: »Mein Handeln ist alternativlos« lautet von nun an die Räson. Merkel fordert hier den Vertrauensbeweis ein. Ein Drahtseilakt, aber auch hier reüssiert sie am Ende über die Bedenkenträgertruppen. Wieder der Unterschied zu Helmut Kohl, der die Gefolgschaft aggressiv einforderte und jeden mit Missachtung oder Häme strafte, der nicht mitmachte. Merkel diffamiert den Andersdenkenden nicht, sie flüchtet sich in Redundanzen und Tautologien. Wie sie intern zaudert und zögert, wird man vielleicht später einmal erfahren. Aber nach außen wird ihre Politik, einmal gefunden, unerschütterlich verkörpert.
Keine Frage: Alternativlosigkeit ist das Gegenteil von Politik. Diese besteht ja immer aus Alternativen, anderen Möglichkeiten. Aber es kommt niemand in den Sinn, diese substanziell zu befragen; Medien und Opposition versagen hier auf ganzer Linie und begnügen sich mit politischen Äußerlichkeiten. Friedrich Merz wollte die Steuerklärung auf dem Bierdeckel. Das hat nicht geklappt, aber Angela Merkel schafft es, ihre Europapolitik auf einen Bierdeckel zu schreiben: »Scheitert der Euro, scheitert Europa«. Die vieltausendseitigen Anmerkungen hierzu überlässt sie den Abgeordneten zur Tageslektüre, bevor sie dann zustimmen dürfen. Keine Zeit für Schwermut.
Lässt man die letzten 30 Jahre deutscher Innenpolitik Revue passieren, so relativiert sich auch der Vorwurf, Merkel habe die Union sozialdemokratisiert. Tatsächlich wurde unter Kohl weitgehend sozialdemokratische Sozialpolitik fortgesetzt. Nicht umsonst war Norbert Blüm der einzige Minister, der die ganzen 16 Kohl-Jahre am Kabinettstisch saß. Die Agenda-Politik, die Einschnitte in das dichtgestrickte soziale Netz, wurde von der SPD unternommen, was die Union mit bisher zwei Teilnahmen an einer Großen Koalition dankte. Merkels Ausflug ins wirtschaftsliberale Lager 2005 hätte sie fast die fest eingeplante Kanzlerschaft gekostet. Es war ein Flirt, der längst überwunden ist.
In einem Land, in dem Journalisten den Fußball-Bundestrainer eine Stunde nach seinem größten sportlichen Erfolg über seinen eventuellen Rücktritt befragen, haben natürlich auch längst Spekulationen über Angela Merkels Nachfolge eingesetzt. Bei Kohl »wusste« man ja auch so gut Bescheid – nämlich gar nichts. Tatsächlich wäre es in der Geschichte der Bundesrepublik fast ein Unikum, wenn dies reibungs- und emotionslos von statten gehen würde. Nahezu alle Bundeskanzler hinterließen Wunden – bei sich selber und auch bei anderen. Adenauer und Kohl haderten und waren schließlich zu selbstherrlichen Monolithen erstarrt. Erhard und Schmidt verloren ihre Koalitionspartner und Willy Brandt kapitulierte weniger vor dem Spion in seiner Nähe als vor den parteiinternen Intriganten. Kiesinger rief sich 1969 voreilig zum Wahlsieger aus und auch Schröder wollte seine Niederlage 2005 zunächst nicht eingestehen. Irgendwie traue ich Angela Merkel zu, dass sie auch das auf ihre ganz eigene Art schafft. Und dann, ein paar Jahre später, beginnt die Verklärung und man wird…siehe oben….
Bravo! (Für Beobachtung, Analyse, Beschreibung, Prognose.)
Eins noch: das Phänomen »Merkel« ist nicht ohne die Überalterung der Gesellschaft zu erklären. Die im Mittel älteren Menschen wünschen sich ein zurück genommenes aufregungsfreies Regieren, das dem Modell des »Gärtners« wesentlich näher steht als dem »Kalten Krieger«. Die CDU selbst hat auf diese Linie eingeschwenkt. Mehr Leute aus Ämtern und Verwaltung, weniger Selbständige und Wirtschaftsleute. Mit dem Aufkommen der AfD war zu rechnen. Der Staat dreht sich am Ende nur noch um sich selbst, Exekutive und Legislative wachsen bis zur Unkenntlichkeit zusammen, weil dasselbe Personal sie trägt. Die Physik nennt das Selbstinduktion.
Interessanter und wirklich wichtige Ergänzung. Der Hinweis auf de Physik ist zusätzlich stimulierend: A. M. ist ja Physikerin.