Erspart praktisch alles andere zum 1.Weltkrieg: Herfried Münkler http://t.co/B9PomlFXLI
— frankschirrmacher (@fr_schirrmacher) 28. Januar 2014
»Erspart praktisch alles andere zum 1.Weltkrieg: Herfried Münkler« twitterte Frank Schirrmacher am 28. Januar 2014 und verlinkte auf ein Interview mit dem Autor in der FAZ. Ich kann das nicht beurteilen. Neben einigen oberflächlichen, zuweilen effekthascherischen Gedenksendungen in Radio und Fernsehen habe ich neben Herfried Münklers Buch »Der Grosse Krieg – Die Welt 1914–1918« nur noch Ernst Pipers »Nacht über Europa« gelesen.
Die Bücher sind kaum miteinander vergleichbar. Münkler liefert eine Gesamtübersicht des Krieges auf rund 780 Seiten mit 70 Seiten kleingedruckter Anmerkungen. Die Bibliographie am Ende des Buches – satte 40, ebenfalls kleingedruckte Seiten mit über 800 Literaturverweisen – bietet für nahezu jedes Thema zum Ersten Weltkrieg – und sei es noch so speziell – Vertiefungsmöglichkeiten. Piper bietet mit Prolog und Exkursen 15 Aufsätze auf 485 Seiten mit mehr als 50 Seiten Anmerkungsteil. Dabei stellt er einzelne Aspekte des Krieges in den Vordergrund wie die Kriegslust der Intellektuellen, die Rolle der Schweiz und das Wüten der Deutschen in Belgien. Detaillierte militärische und geostrategische Erläuterungen fehlen dagegen.
Obwohl scheinbar zur Verdichtung gezwungen, hat man bei Münkler niemals den Eindruck, nur oberflächlich informiert zu werden. So widmet er sich ausgiebig der Kriegsschuldfrage und bemerkt, dass die Ursachendebatte fast immer als Schulddebatte geführt werde – bis heute. Die Fritz-Fischer-These von der alleinigen Kriegsschuld Deutschlands lehnt er ab – das ist außer bei einigen britischen Historikern inzwischen weitgehend Konsens. Münkler verteilt keine Schuldkärtchen. Die deutsche Regierung war, so seine These, über die explosive Lage im Sommer 1914 nach dem Attentat von Sarajewo sehr wohl alarmiert. Den »Blankoscheck«, den man dem Bündnispartner Österreich-Ungarn erteilte, interpretiert er als »waghalsig«, aber nicht verantwortungslos. Man glaubte einfach, dass Russland »keine Königsmörder decken« werden und rechnete damit, dass Österreich-Ungarn einen begrenzten Schlag gegen Serbien ausführen konnte, ohne dass Russland als Verbündeter Serbiens intervenieren würde. Aber Wien handelte nicht. Erst fast vier Wochen nach dem Attentat reagierte man auf diplomatischen Kanälen. Die Donaumonarchie, »dem Tempo der modernen Welt nicht gewachsen«, verpasste ihre Möglichkeiten eines zeitlich begrenzten Militärschlags. Sowohl Russland als auch Österreich-Ungarn waren mit der Situation auf dem Balkan überfordert.
Das ist nur ein Aspekt, den Münkler ausgiebig beleuchtet. Gezeigt wird ebenfalls, wie etliche Annahmen und Überlegungen am Ende durch die Realität widerlegt wurden. Pauschal lässt sich mit Sicherheit sagen, dass die politischen Kräfte sowohl bei den Mittelmächten aber auch in Frankreich und Russland zu schwach gegenüber den jeweiligen Scharfmachern bei den Militärs waren. Dabei kommt es Münkler immer wieder darauf an, einer scheinbaren Ausweglosigkeit das Wort zu reden. Sein Verständnis von Politik ist emphatisch. Die vermeintliche »Alternativlosigkeit«, die nach dem Attentat in Sarajewo in einer Art Automatismus zum Kriegsausbruch geführt haben soll, lehnt er kategorisch ab und bringt hierfür gute Argumente. Die Katastrophe musste nicht ausbrechen; sie hätte jederzeit abgewendet werden können, wenn man nur gewollt hätte.
Trotz der Ablehnung Deutschland die alleinige Kriegsschuld zuzuweisen, legt Münkler den Fokus des Versagens in der politischen Klasse des Reichs, der antibürgerlichen »Reichstagsmehrheit« mit der SPD an der Spitze, dem überforderten und innenpolitisch zwischen Annexionisten und Gemäßigten lavierenden Reichskanzler Bethmann-Hollweg und vor allem Wilhelm II., der am Ende dem Militär das Feld überließ. Größenwahn und Rohheit von Leuten wie Tirpitz, Lettow-Vorbeck oder Ludendorff lassen einem, derart konzentriert verabreicht, schaudern. Zwar wurde Deutschland 1914 »hervorragend verwaltet, aber schlecht regiert«, so Münkler kühl. Und der Großmachtanspruch Österreich-Ungarns war, wie sich sehr bald herausstelle, durch seine militärischen Fähigkeiten nicht gedeckt.
Ausführlich wird die Kriegslust insbesondere bei den Intellektuellen in nahezu allen europäischen Ländern referiert und der Zeitgeist, der der angeblichen Verweichlichung durch den jahrzehntelangen Frieden überdrüssig war (»Neurasthenie«) vorgeführt ohne in einen bigotten Anklageton zu verfallen. Dass die Kriegsbegeisterung in Berlin, Wien, Paris und St. Petersburg hauptsächlich durch die Mittel- und Oberschichten der entsprechenden Länder forciert wurde, lässt Münkler nicht gelten. Vorübergehend habe der Krieg, insbesondere in Deutschland, durch alle Schichten hinweg eine Art Gemeinschaftsgefühl erzeugt. Die Folgen waren im August 1914 für die allermeisten unvorhersehbar. Als sich die enthusiastischen Vorhersagen nicht erfüllten, ebbte die Begeisterung schnell ab.
Es ist eine der Vorzüge des Buches, dass Münkler immer wieder eine wohltuende, distanzierte Nüchternheit walten lässt. So hält er beispielsweise die Folgen des Gaskriegs, der vom deutschen Militär forciert wurde, für überschätzt. Der psychologische Vorteil zu Beginn verpuffte schnell. Eindringlich weiß Münkler über den Schlieffen-Plan, die durch Deutschland verletzte Neutralität Belgiens (nebst der verübten Kriegsverbrechen) und den dadurch provozierten Kriegseintritt Großbritanniens und die diversen Schlachten in Belgien und Frankreich zu erzählen, vergisst dabei auch nicht die oft mit großer Brutalität gegen die Zivilbevölkerung geführten Kämpfe an der sogenannten Ostfront. Die Ereignisse in den deutschen Kolonien (vor allem in Afrika) werden umfassend behandelt. Und wer weiß etwas von der kurzen Zeit des deutschen Ostimperiums 1917/18? Die im Buch abgedruckten Karten sind instruktiv; das verwendete militärische Vokabular verlangt jedoch gewisse Kenntnisse. Neben den großen Themen wird auch das Leben der Soldaten in den Schützengräben geschildert, der sogenannte »Schützengrabensozialismus«, die Rattenplagen nebst Seuchen (später dann die spanische Grippe) und das fast märchenhafte Weihnachten an der Westfront 1914/15, dass zu vorübergehenden Waffenstillständen und freundschaftlichen Szenen der angeblichen Todfeinde führte.
Münklers Kernthese, warum der Krieg so lange dauerte: »Die Waffentechnik verlieh während des gesamten Krieges der Verteidigung einen Vorteil gegenüber dem Angriff. Damit durchkreuzte sie die am Offensivdenken orientierten Strategiegrundsätze beider Seiten. Die unvorhergesehen lange Dauer des Krieges war nicht zuletzt eine Folge dessen, dass die Chancen des Standhaltens im Verhältnis zum Erzwingen der Entscheidung durch einen Angriff deutlich gewachsen waren.« Luzide wird herausgearbeitet, dass dies langfristig den Deutschen schadete, die vor allem 1915 große Truppenteile an der Ostfront gebunden hatten.
Die USA – ein Sieger fast wider Willen
Die Wende kam erst 1917 und es gehört zu den Stärken dieses Buches, wie Münkler das Zaudern der amerikanischen Regierung, die sich aus dem Krieg heraushalten wollte und einen Kurs der Neutralität fuhr, dokumentiert. Es ging nicht zuletzt um ein Wahlversprechen des Präsidenten Woodrow Wilson. Am Ende gab die Intervention der USA den Ausschlag und sollte ihren Aufstieg als Weltmacht befördern. Paradoxerweise ist das Ende des Krieges 1918 auch für die europäischen Siegermächte eine Art Pyrrhussieg. Großbritannien und Frankreich gingen nicht nur demographisch sondern vor allem ökonomisch geschwächt aus dem Krieg hervor. Großbritannien wurde Schuldner der USA und das britische Pfund als Weltleitwährung zu Gunsten des US-Dollar abgelöst.
Zwei Imperien verschwanden: Das ohnehin fragil gewordene Osmanische Reich – an der Seite der Mittelmächte kämpfend – zerfällt schon fast während der Krieges. Und auch Österreich-Ungarn wird in diverse künstliche Nationalstaaten, die den Keim für zukünftige Konflikte in sich bargen, aufgeteilt. Deutschland wurde nicht nur mit hohen Reparationen bestraft, sondern büßte alle Kolonien, Eupen-Malmedy, Elsaß-Lothringen und das Saarland ein. Außerdem wurde das Rheinland besetzt. Italien musste seine hochfliegenden Weltmachtpläne ad acta legen. Die USA begründeten ihren Mythos als »Macht des Guten« im Ersten Weltkrieg. Sie waren ökonomisch, moralisch und geostrategisch die Gewinner dieses Krieges.
Es fällt schwer, diesem Gemetzel auch noch Vorteile zuzusprechen. Tatsächlich hatte der Krieg einen gewaltigen technischen und naturwissenschaftlichen »Modernisierungsschub« ausgelöst, was Münkler gleich zu Beginn anspricht und im Laufe des Buches immer wieder belegen kann. Schon während des Krieges begann ein Ausbau der die Sozialgesetzgebung. Mit dem Ende 1918 fand eine Klassennivellierung statt und das Bildungsbürgertum verlor seine kulturelle Deutungshoheit. Die Emanzipation der Frauen sieht Münkler nicht durch den Krieg befördert; am Ende waren dann wieder in Männer in den Positionen, die Frauen vorübergehend besetzten.
China 2014 wie weiland Deutschland?
Münkler lehnt vehement die Interpretation des »langen Weltkriegs« von 1914 bis 1945 ab. Auch hier spricht er sich gegen einen Determinismus aus, der praktisch schon im Frieden von 1918 die Nazis als natürliche Konsequenz ausmalt. Der Erste Weltkrieg ist für Münkler ein »Kompendium für das, was alles falsch gemacht werden kann«. Das gilt sowohl für den Beginn als auch für das Ende. So zeigt sich, dass die rüde Zerschlagung des liberalsten europäischen Imperiums der damaligen Zeit, Österreich-Ungarn, nicht unwesentlich zu den Spannungen der 1930er Jahre geführt hat. Nicht nur in den hastig geschaffenen Nationalstaaten, die ohne Rücksichten auf die jeweiligen Ethnien auf dem Reißbrett entstanden, bemächtigten sich sukzessive »Diktatoren im Generalsrang« der Macht. »Im Herbst 1938, also zwanzig Jahre nach Kriegsende, war von den damals entstandenen parlamentarischen Demokratien in Mitteleuropa nur noch eine einzige intakt, die in der Tschechoslowakei. Alle anderen Staaten Mitteleuropas und des Balkans sowie Italien und Spanien wurden von Militärs dominiert oder von Diktatoren beherrscht, die sich zumeist auf ein mit dem Großen Krieg verbundenes Charisma stützten.«
Interessant ist Münklers Gedanke im nachwortähnlichen letzten Kapitel des Buches, indem er das aktuelle China mit Deutschland 1914 vergleicht. China werde von wirtschaftlich ebenfalls aufstrebenden Nationen wie Indien, Vietnam und Indonesien »in die Mitte genommen«. Die sich bildenden »antiimperialen Koalitionen« gegenüber dem starken China könnten dazu führen, dass man in Peking ähnlich wie 1914 in Deutschland »Einkreisungsängste« entwickle und mit »Präventivkriegsideen« spielen könnte. Chinas Aufbau einer starken Kriegsflotte birgt sowohl für die Nachbarn als auch für die im Indischen Ozean strategisch engagierten USA Konfliktpotential. Die Angelegenheit könnte durch die aktuelle Entwicklung in der Ukraine, die Münkler noch nicht kannte, verstärkt werden, da Chinas Kooperation mit Russland seit der Annexion der Krim und den separatistischen Umtrieben in der Ostukraine stockt. Zwar scheint der Gedanke etwas konstruiert und auch die Möglichkeit einer Implosion des Vielvölkerreiches China wird außer Acht gelassen, aber die immer wieder ins Feld geführten wirtschaftlichen Interessen, die einer bewaffneten Auseinandersetzung praktisch per se Einhalt gebieten, zünden nicht, wie schlüssig am Beispiel des Ersten Weltkriegs gezeigt werden kann. Tatsächlich war das Europa von 1914 ökonomisch sehr stark miteinander verflochten. Deutschland war mindestens auf dem Weg, Großbritannien als führende Wirtschaftsmacht abzulösen. Hinzu kamen die verwandtschaftlichen Verknüpfungen der monarchischen Herrscher von Großbritannien, Deutschland und Russland. All dies hat am Ende verblüffenderweise keine Rolle gespielt.
Pipers Kulturgeschichten
Pipers Buch »Nacht über Europa« trägt den durchaus kühnen Untertitel »Kulturgeschichte des Ersten Weltkrieges«. Kühn, weil Piper keine »Kulturgeschichte« geschrieben hat, sondern allenfalls »Kulturgeschichten«. Wie bereits erläutert, werden militärische, geopolitische und strategische Details ausgeblendet. Piper beschäftigt sich punktuell in Aufsätzen über bestimmte Teilaspekte des Krieges. So wird die anfängliche Kriegsfaszination bei Künstlern und Intellektuellen schon im Prolog über Georg Trakl thematisiert. Es gibt noch zwei weitere, längere Aufsätze, die sich mit dieser Thematik auseinandersetzen. Die Liste der kriegslüsternen Protagonisten, denen sich Piper widmet, ist auf den ersten Blick imposant: Georg Heym, Ludwig Meidner, Karl Scheffler, Max Liebermann und Max Beckmann nebst einigen anderen Künstlern der »Berliner Secession«, Otto Dix, Ernst Stadler, Hermann Löns, Richard Dehmel, Julius Bab, Ernst Lissauer, Ludwig Ganghofer, Ernst Toller, natürlich Thomas Mann, Gerhart Hauptmann, Max Reinhardt, Engelbert Humperdinck, Ludwig Fulda und Hermann Sundermann und ihr Aufruf »An die Kulturwelt«, Heinrich Claß, Bruno Bauch, Werner Sombart, Robert Musil, Hermann Hesse (seine »Dualität«) – um nur einige zu nennen, die zitiert und bewertet werden. Auch die eher seltene Gegnerschaft wird erwähnt: Herwarth Walden, Franz Pfemfert und seine Zeitschrift »Die Aktion«, Heinrich Mann oder Georg Friedrich Nicolai. Gezeigt wird auch, wie die europäischen akademischen Netzwerke, die über alle Nationalitäten weitgehend gut und für alle fruchtbar funktionierten, zerrissen. Nicht alles Schlechte wird beim deutschen Expressionismus verortet – irgendwann gibt es doch noch einen Aufsatz über den italienischen Futurismus, der dann – korrekterweise – als Vorläufer des (italienischen) Faschismus entwickelt wird.
Die Lektüre dieser Kapitel ist mit der Zeit ermüdend. Piper zitiert mit fast lustvoller Redundanz die nationalistische und zum Teil rassistische Sprache der Protagonisten und klagt dabei fortwährend an. Bei denjenigen, die am Ende desillusioniert oder gar traumatisiert wieder zurückkehren, lässt er dann ganz sozialdemokratisch Milde walten. Statt ausgiebiger Zitate (wer möchte schon diesen geballten Unsinn in einem populärwissenschaftlichen Buch ohne Unterlass lesen?) hätte man gerne etwas über die Zeit selber erfahren. Hierzu hat Piper leider zu oft die gängigen Schablonen zu bieten. Die Presse war »völkisch-nationalistisch« (demzufolge auch das Volk), es herrschte eine »Großstadtfeindlichkeit und Agrarromantik« und natürlich darf der »preußische Militarismus« nicht fehlen.
In punkto Militarismus erinnert man sich dann wieder an Münkler. Er stellt fest, dass das Deutsche Reich aus drei Kriegen hervorgegangen war und dadurch das Militär bis in »bürgerliche Kreise hinein…als Garant der nationalen Einheit angesehen« wurde. Aber auch das gehört zur Realität der damaligen Zeit: »Im wilhelminischen Deutschland war die Uniform…ebenso ein Symbol für die Distanz der traditionellen Militäreliten gegenüber der Gesellschaft«, also so etwas wie das letzte Statussymbol einer zunehmend egalitärer werdenden Gesellschaft. Hinzu kam, dass der »Militarismus« hinter den Kulissen ziemlich heruntergekommen war: »Man hatte keine hinreichenden Munitionsvorräte angelegt, geschweige denn für eine entsprechende Bevorratung mit Rohstoffen und Lebensmitteln gesorgt, und es standen auch nicht genügend Truppen zur Verfügung.« Die Militärausgaben sowie der Anteil an Soldaten an der Gesamtbevölkerung wies für Deutschland ebenfalls keine besonderen Signifikanzen aus. So gab Frankreich 3,9% seines Bruttosozialprodukts für das Militär aus, Deutschland 3,5%, Russland 4,6%. Das deutsche Militär war zudem gespalten. Das Militarismusargument hat für Münkler nur in Bezug auf die »innere Struktur« des Reichs eine gewisse Relevanz.
Wie in einem Klima des allseitigen Militarismus die SPD bei den Reichstagswahlen 1912 34,8% der Stimmen erreichte, bleibt bei Piper unklar. Dabei sind es dann ausgerechnet seine Ausführungen über den »Burgfrieden« und das Verhalten der SPD bei der Zustimmung zu den Kriegskrediten, die sehr lesenswert sind (hier wird dann das Stimmenverhältnis der SPD im Reichstag angesprochen). So hoffte die Parteispitze der Sozialdemokraten zu Beginn des Krieges auf politische Satisfaktionsfähigkeit und mehr Einfluss. Aber erst als der Krieg hoffnungslos verloren war band das politische und militärische Establishment Deutschlands die SPD in Entscheidungen ein. Da hatte sich aber die Arbeiterbewegung schon gespalten – in SPD und USPD; letztere als Kriegsgegner, die es, wie Piper zeigt, schon 1914 gab, die sich aber dem Fraktionszwang beugten und Abstimmungen einfach fernblieben. Dem politischen Liberalismus ging es 1917/18 auch nicht besser. Immerhin: Die wilhelminischen Herrschaftseliten verschwanden nach Kriegsende weitgehend bzw. fanden sich später in reaktionären und nationalistischen Parteien wieder.
Zwei andere Kapitel in »Nacht über Europa« heben sich ebenfalls von den zuweilen arg schematischen Darstellungen der anderen Aufsätze ab. Zum einen wenn es um die Rolle der Schweiz und deren Exilanten geht. Und zum anderen gibt es eine sehr interessante Darstellung über die »Lage des Judentums« zu Zeiten des Krieges in Europa. Piper beschreibt das loyale Verhältnis der jüdischen Soldaten zu Deutschland – und den Knacks, der sich innerhalb der Armee durch den diskriminierenden Erlass des preußischen Kriegsministers Adolf Wild einstellte, der unter dem Schlagwort »Judenzählung« traurige Berühmtheit erlangte. Der Antisemitismus, besonders virulent im Offizierskorps, wurde damit über die Hintertür hoffähig gemacht (offiziell war antisemitische Propaganda verboten und unterlag der Zensur). Auch in diesem Kapitel kann Piper aber seiner Lieblingsbeschäftigung, Intellektuelle formelhaft nach Kriegsbefürwortern und Kriegsgegnern zu sortieren, nicht ganz widerstehen. Dabei bleibt zum Beispiel das ambivalente Verhältnis eines Gustav Landauer zum Krieg eher rätselhaft als das es aufgefächert wird. Am Rande wird auch die in Europa aufkommende Bewegung des Zionismus gestreift und die Geschichte um die »Balfour-Deklaration« entwickelt.
Fehlende Memorialkultur in der Weimarer Republik
Am Ende sucht Piper nach Gründen für das Scheitern der Weimarer Republik und das Erstarken des Nazitums. Dabei erscheint seine plakativ vorgebrachte und nicht ausformulierte These von der »Gewalterfahrung des Ersten Weltkriegs« als »Schlüssel für das Aufkommen der politischen Gewalt und…entscheidende mentale Voraussetzung für den Aufstieg des Faschismus und des Nationalsozialismus« weniger. Richtig ist allerdings, dass sich die »Politikfeindlichkeit«, ursprünglich aus dem Bürgertum kommend, zeigte sich im ökonomisch krisengeschüttelten Deutschland der 1920er Jahre im wachsenden Zuspruch der demokratiefeindlichen Parteien, wobei Piper sehr einseitig auf die rechtsnationalen Kräfte reflektiert und die Kommunisten, die wesentlich zur Dekonstruktion der ersten deutschen Demokratie beitrugen, weitgehend verschont. Auch die Unfähigkeit der demokratischen Parteien, sich über programmatische Differenzen hinweg gegen Rechts- wie Linksradikale zu stemmen, bleibt unerörtert.
Interessant Pipers soziokulturelle Einwürfe. Die Erinnerung an die Schrecken des Krieges wachzuhalten, das Schicksal der Gezeichneten (Verkrüppelungen, Blindheit, Traumatisierungen) zu würdigen – dies war ohne Verbitterung und verblendetem Rekurs auf die Vergangenheit offenbar nicht möglich. So gab es laut Piper kein Grab des unbekannten Soldaten, »das als Kristallisationspunkt der Memorialkultur hätte dienen können«. Vermisst wird das, was man heute gemeinhin ein konstituierendes »Narrativ« nennt. Die Weimarer Republik hatte keinen Nationalfeiertag. Die Demokratie in Deutschland wurde mit der Niederlage verknüpft. Hinzu kam, dass Deutschland im Frieden von Versailles 1918 gedemütigt wurde. Dies zeigte sich unter anderem darin, dass auf den Schlachtfeldern die Kreuze der gefallenen deutschen Soldaten durchgängig schwarz waren, die der Sieger weiß. Piper findet noch andere, kleine Zeichen, die das Bild runden: Deutschland blieb Paria, was die entsprechenden nationalistischen Kräfte thematisieren konnten. Dass mit Paul von Hindenburg ausgerechnet der »Sieger von Tannenberg« und Urheber der fatalen wie bösartigen Dolchstoßlegende die junge Demokratie retten sollte, ist fast schon eine Perversion. Piper erläutert zum Schluss wie die Nazis ab 1933 praktisch nahtlos an die Erzählungen und Mythen der Kaiserzeit anknüpfen konnten und einem Heroismus huldigten.
Obwohl Münklers Buch aufgrund einer komplexen Gesamtdarstellung des Krieges straffer geführt wird, hat man bis auf die genannten Ausnahmen verblüffenderweise nicht den Eindruck, dass man durch die zum Teil in additivem Stil verfassten Essays Pipers wesentlich mehr erfährt. Münkler schafft es mit seiner überlegenen Kühle mehr den Leser aufzurütteln als Piper mit seinem zuweilen arg moralisierenden Duktus.
Pingback: Die Ukraine, hundert Jahre später
Herzlichen Dank für die ausführliche Besprechung. Ich habe gerade Clarks Schlafwandler gelesen und bin dabei, mein Unbehagen mit dem Buch in Worte zu fassen. Demnächst dazu hoffentlich mehr von mir.
Das würde mich sehr interessieren, da ich auch überlegt hatte, Clark noch zu lesen. Aber die andauernde Lektüre über diese Sache hat mich dann doch zu sehr deprimiert.
(Gerne in einem eigenen Beitrag! Sie wissen ja...)
Ich hab’ mir das Wochenende dafür vorgenommen.
Sehr gut!
Ich habe Münklers Buch vor etwa einem halben Jahr gelesen, Clarks soll folgen sobald ich Zeit habe (eine Diskussion darüber wäre begrüßenswert). Gefühlt liefert Münkler eine umfassende, gut lesbare, abwägende Darstellung mit einer Fülle an Details (trotzdem spricht das Buch einen breiteren Leserkreis an).
Die Schuldfrage ist wissenschaftlich nicht zu beantworten, da sie eine Wertung bedeutet, die die wissenschaftliche Methodik (eigentlich) ausschließt (so weit ich mich erinnere hat Münkler das auch auseinander gehalten). Der Aufstieg Deutschlands zu einer wirtschaftlichen Großmacht wurde sicherlich (trotz aller Verflechtungen innerhalb Europas) von manchen Staaten als Bedrohung empfunden (vice versa fühlte sich Deutschland eingekreist und etliche der Beteiligten waren der Ansicht, dass ein Krieg, sollte er geführt werden, möglichst rasch geführt werden muss, denn andernfalls würde der Gegner zu stark sein und wäre nicht mehr zu besiegen; ein Detail warum man so dachte war m.E. dass Frankreich über Kredite den Ausbau des russischen Eisenbahnnetzes Richtung Westen finanzierte, das für eine rasche Mobilmachung natürlich wichtig war).
Keine europäische Großmacht dachte an einen langen Krieg (die Einschätzungen auf Seiten Österreich-Ungarns lagen, glaube ich, etwa bei einem halben Jahr) und niemand hatte einen solchen erwartet (was die menschlichen Verluste und das Leid anbelangt; anderseits den Einsatz und Aufwand von Material und die Änderungen in der Taktik, Stichwörter: Sturmangriff und Maschinengewehr). Der unermessliche Aufwand und die Verluste auf beiden Seiten waren mit entscheidend für die vorgehabten und tatsächlichen Friedensschlüsse (man musste einen »Gewinn« als »Entschädigung« nach Hause bringen). Und natürlich haben die Friedensschlüsse von Versailles, St. Germain und Trianon etwas zum weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts beigetragen (Münkler bemerkt irgendwo, man hätte mehr Fingerspitzengefühl gehabt haben können; überhaupt sind die kontrafaktischen Betrachtungen aufschlussreich, weil man dadurch den Mythos der Unausweichlichkeit in Frage stellt).
Interessant das Kapitel über die Positionen der Intellektuellen, im Besonderen Max Weber (im Wesentlichen eine Stimme der Vernunft, aber auch hier dominierten auf weiter Strecke die Ideen einer Läuterung oder Reinigung durch den Krieg, u.ä.).
Der Vergleich mit China ist m.E ein schönes Beispiel dafür, dass man aus der Geschichte zu lernen versuchen kann, obwohl sie sich nicht wiederholt (Umgang mit aufsteigenden Großmächten).
Gut eingeflochten hat Münkler auch einige literarische Darstellungen und Zeugnisse.
Danke. Letzteres betreibt Münkler wirklich mit Könnerschaft, etwa wie er Jünger als eine Art Zeitzeuge des soldatischen Alltags zu Wort kommen lässt (und seinen aristokratischen Kriegs-Heroismus liegen lässt). Auch seine Auseinandersetzung mit Thomas Manns »Gedanken im Kriege« ist sehr gut gelungen – ähnliches versucht ja auch Piper, der aber sofort moralisierend wird, was Münkler vermeidet, obwohl man natürlich genau weiss, wie er dazu steht.
Ich habe die Bücher von Clark und Münkler chronologisch gelesen und dadurch die Möglichkeit zum direkten Vergleich der Herangehensweise an die Frage der Kriegsschuld gehabt. Münkler presst mir dabei die Frage nach den Ursachen des Krieges zu stark durch die Diskursmatrize, um saubere Kanten zu erhalten. Clark ist da viel genauer (hat natürlich auch viel mehr Raum), plastischer. Er liefert so viele Details, die unbedingt nötig zum Verstehen sind, für die in Darstellungen üblichen Formats einfach kein Platz ist. Ein Jammer.
Im nachhinein würde ich sagen, dass ich den Clark mit mehr Gewinn gelesen habe, mich deutlich besser befähigt fühle, die Geschichte einzuordnen. So sehr sich die Materialschlachten des 1. Weltkrieges als Elementarkatrastophen in das Weltgedächtnis eingebrannt haben, sehe ich die Frage nach den Ursachen des Krieges als interssanter an, interessanter, weil die Mechanismen der Julikrise auch heute noch brandgefählich sein können.
Das weiter oben ein Unbehagen geäußert wird, kann ich nachvollziehen, da Clark viele der in Deutschland üblichen Reflexe nicht parat hat, daher manchmal fast tendenziös wirkt. Beurteilen, ob das der deutschen Sichtweise oder nur dem militärischen Pragmatismus der britischen Sphäre geschuldet ist, kann ich nicht.
@Joseph Branco: Münklers Großer Krieg ist deutlich länger als Clarks Schalfwandler. Wenn man die Originalausgaben vergleicht, hat Münkler ca. 200 Seiten mehr Umfang.
Clark stützt sich fast ausschließlich auf die offiziellen Akten, »vergisst« aber ab und an anzumerken, wenn die Datierung einer Aktennotiz oder eines Telegramms umstritten ist. Eine kultur- und mentalitätsgeschichtliche Einordnung, die den Namen verdient hat, gibt es nicht. Clark liefert im Prinzip eine klassische Geschichtsschreibung aus der Persepktive der Kabinette. Interessant ist sein Ansatz, Konzepte und Begrifflichkeiten der International-Relations-Studies zur Interpretation und Darstellung der Vorgänge zu benutzen.
Clark ist ja heftig angegangen worden – von britischen Historikern (u. a. Roehl in der SZ), den Serben, denen er wohl eine gravierende Mitschuld gibt, und in Deutschland publizistisch vor allem in der »Zeit«, in der Volker Ullrich sein Geschichtsbild natürlich nicht mehr revidieren möchte und prompt das Revisionismushämmerchen aus dem Schrank hervorholt.
Das für mich irritierende an Clarks Schlafwandlern – abgesehen von diesem sublimely inadequate title (wie meine britische Freundin sagte): Die tatsächliche Konstruktion seiner wie geschmiert vor sich hin surrenden Erzählmaschine hat mit der in der Einleitung propagierten »Unparteilichkeit« (nach dem Wie, nicht nach dem Warum fragen) wenig zu tun. Am Schluss weiß man genau, wer Schuld ist: Serbien als Schurkenstaat und Proxy Rußlands, Rußland im imperialen, panslawischen Wahn und das schwer neurotische Frankreich, das Rußland aufwiegelt, um dem Deutschen Reich die Revanche für 70/71 abzuringen. Britannien fühlt sich an seine Bündnisverpflichtungen gegenüber Frankreich und Rußland gebunden, das Deutsche Reich an die seinen zur KuK-Monarchie – voilà: The shit hits the fan.
Das kann man ja so sehen – nur ist die Einleitung und das Framing, das Clark seinem Buch gibt, dann im besten Falle falsch, im schlechtesten unehrlich.
Interessante und pointierte Besprechung! Ich habe die gleiche Paarung besprochen:
https://notizhefte.wordpress.com/2014/06/10/der-grose-krieg-in-dicken-banden/
@Norman
Interessant und Dank für den Hinweis.
@Doktor D
Ich fühle mich nicht getäuscht, da Clark am Anfang klar darstellt, dass alle verfügbaren Quellen massiver Manipulation ausgesetzt waren, sodass man noch mehr zwischen den Zeilen lesen muss, als der geplagte Historiker schon sonst gezwungen ist. Auch dass Clark versucht eine Geschichte zu erzählen, irritiert mich nicht. Er stellt eher der dem Jahrestag geschuldeten aufnahmefreundlichen Öffentlichkeit eine These zur Diskussion. Ein Paper sähe sicherlich anders aus.
Der »größere Raum« bezog sich übrigens nur auf die Frage nach den Ursachen des Krieges. Da hatte Clark natürlich mehr Möglichkeiten als Münkler. Als besagte Details könnte man als Beispiel die Rolle des militärischen Eingreifen Italiens in Nordafrika nennen, das erst den desolaten Zustand des osmanischen Reiches zu Tage förderte und damit den Balkankriegen den Weg bahnte. Oder vielleicht auch der Nervenzusammenbruch Vivianis in St. Petersburg. Diese Zusammenhänge waren mir vorher nicht klar und sind bei Clark zu hauf zu finden. Letztendlich beurteilen, wo Fiktion Fakten niederstreckt, kann ich als Laie so oder so nicht. Aber je mehr Informationen zur Verfügung stehen, desto lichter wird der Nebel.
Der Versuch Münklers die Alternativen »des langen« und »des kurzen« Weges in den Krieg darzustellen, empfinde ich gegenüber der geschlossenen Darstellung Clarks eher als gezwungen. Die »geschmierte Erzählmaschine« sehe ich in dem Sinne eher als Plus.
@Joseph Branco: Ah, mir war nicht bewusst, dass Münkler, den ich ja noch nicht gelesen habe, den ganzen Krieg behandelt. Dagegen hat Clark dann wirklich episch viel Platz. Demnächst aber mehr zu dem, was mich irritiert. Ich sitze gerade dran – und für einen Kommentar ist es jetzt schon zu lang.