A.d.L.e.R: Aus dem Leben einer Rikschafahrerin – Nr. 19
Am 12. August 2014 erscheint bei Hoffmann und Campe unter dem Titel Deutscher Meister mein neuer Roman darüber, wie der Profiboxer Heinrich Trollmann die Nazis besiegte. Als ich das letzte Kapitel schrieb und mich zu diesem Zweck mit Leberhaken auseinandersetzte, solchen mit K.o.-Wirkung und solchen ohne, und wie verschieden und doch leberhakenspezifisch die Getroffenen fallen, und welche Art von Schmerzen sie erleiden, und wie die Leberhaken innen, also anatomisch wirken, und als ich sah, wo der K.o.-Knopf ist, und wie man ihn gedrückt kriegt, da fiel mir plötzlich jenes bisher unverstandene Erlebnis auf dem Oktoberfest 2004 wieder ein, und mir wurde schlagartig klar, dass ich damals meinen Kontrahenten in die Leber getroffen haben musste.
Um das gleich vorwegzunehmen: Er war selber schuld. Zunächst einmal ist, wer eine solch provokante Lederhose trägt, die durch allerlei Zierstickereien, Klappen und Knöpfe den geschlechtlichen Bereich aufdringlich hervorhebt und betont, ohnehin selber schuld und muss sich über nichts wundern. Wäre er zweitens erst gar nicht aufs Oktoberfest gegangen, sondern zu Hause geblieben, hätte ich ihn nicht k.o. schlagen können, und hätte er mich drittens nicht ungefragt angefasst, so hätte ich gar nicht daran gedacht, ihm eine Lehre zu erteilen, denn ich hatte weiß Gott besseres zu tun, namentlich, durch anstrengende Arbeit mit der Rikscha Geld zu verdienen.
Anstrengende Arbeit bis tief in die Nacht. Die Zelte schlossen, die Leute strömten heraus. Der ganze Esperanto-Platz war voller Menschen, von denen die einen herumstanden und weiter tranken, während die anderen völlig unkoordiniert in alle möglichen Richtungen gingen und torkelten, und ich mittendrin. Ich habe Fahrgäste in der Rikscha, bei mir sitzen die Gäste vorn, ich schiebe sie, ich fahre stop and go um Scherbenhaufen herum und zwischen den Leuten hindurch, die wegen des Alkohols auch unerwartete Bewegungen machen, und es ist ein ordentliches Geschrei. Meine Fahrgäste sind hinüber, der Mann hat glasige Augen, er ist so gut wie im Koma und reagiert fast gar nicht, die Frau malträtiert ihn, sie will auf der Stelle Sex, sie hälts kaum aus, und ich habe plötzlich fremde Hände am Rücken. Ganzflächig kontaktierend liegen sie auf meinen Nieren, dann tasten sie mich ab, dann fahren sie mir an den Seiten herauf und hinunter, und ich halte an und nehme die Rechte vom Lenker.
Der Lenker ist eins mit der Fahrgastsitzbank, ich muss, wenn ich bremse und die Rechte löse, mit der Linken gegenhalten. Ich halte mit Links gegen, fahre den rechten Ellenbogen aus, hole Luft, reiße das Maul auf und wende mich mit dem Aufschrei: »Verpiss Dich, du Wichser!« und mit einiger Wucht. Ich wende mich mit soviel Wucht, wie ich in dieser physikalisch instabilen Situation und mit meinem lächerlich geringen Körpergewicht eben aufbringen kann, ich wende mich vor allem mit böser Absicht, ich habe Lust, dem Übeltäter richtig weh zu tun, je doller, je besser, ich wende ich mich mit ausgefahrenem Ellenbogen und Wucht und böser Absicht zu ihm um, und es trifft sich ausgezeichnet, dass ich eher kurz gewachsen bin, weshalb die Spitze meines Ellenbogens auf seiner rechten Körperseite, zufällig genau direkt unter den Rippen, das heißt auf seiner Leber, und zufällig genau im richtigen Winkel einschlägt. Toll. Ich seh den Lederhosenträger bloß noch senkrecht runtergehn.
Es muss die Leber gewesen sein, es gibt gar keine andere Möglichkeit, denn anders als in die Leber hätte ich ihn mit der geringen Kraft, die mir überhaupt zu Gebote stand, keinesfalls niederschlagen können, so dass er auf dem Arsch landete, darunter die verknoteten Beine, und dann vollends umkippte und, den Bauch haltend und sich in Schmerzen windend, liegen blieb. Die geschlechtlich provokante Lederhose schrie danach, getreten zu werden, doch das war in dem ganzen Tohuwabohu und mit den Gästen in der Rikscha nicht möglich.
Heute, da ich weiß, wie der Schlag in die Leber dem Lederhosenträger die Verbindung in die Beine abschnitt, über die er infolgedessen die Kontrolle verlor, und wie gleichzeitig die Blutversorgung der inneren Organe gegen Null abfiel und hierdurch, bei völliger geistiger Klarheit, ein dramatisches Schwindelgefühl einsetzte, und welche grauenhaften Schmerzen er dabei litt, wie also jede einzelne Faser jenes dichten, feinen die Leber umhüllenden Nervengeflechts übergangslos in den höchstmöglichen Schmerzzustand geriet, um, paralysiert von der Schockwirkung, darin zu verharren und pausenlos den Schmerz in die gesamte Bauchhöhle hinein weiterzuleiten, wo durch fortgesetzte, nicht lokalisierbare Explosionen ein Gefühl der inneren Zerfetzung entstand – da ich mir also heute dies alles vorstelle, denke ich, der Übeltäter war mit dem Lebertreffer wohl hinreichend bestraft und bedurfte des Nachtretens in die Lederhose nicht. Im Hinblick auf den Roman darf ich aber anmerken, dass beim Boxen nicht von hinten angegriffen wird und Schläge mit dem Ellenbogen verboten sind, und dass überhaupt die Kämpfer ihr Einverständnis zum Kampf vorher schriftlich erklären müssen, denn im Ring, zwischen den Seilen, geht es erheblich zivilisierter zu als auf dem Oktoberfest.
Schön mal wieder etwas von Dir zu hören und Gratulation zum fertigen Roman. Na und ich weiß auch, warum ich mir das mit dem Oktoberfest nicht antue. Boxen gehörte nämlich nie zu meinen Lieblingssportarten.
Gruß
Knut
Wieder ein schöner Film, der beim Lesen innerlich abspult. Muss ich unbedingt weitersagen!
LG
Micha
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