Eine Begegnung in Hiroshima
Es wird im Jahr 1978 gewesen sein, zu einer Zeit, als an den Universitäten noch ein wenig schöpferische Unruhe zu finden war, da sah ich mich in einer basisdemokratischen Versammlung aufgerufen, meine Stimme für Robert Jungk abzugeben. Der Zukunftsforscher, so wurde er tituliert, sollte eine Professur an der Salzburger Universität erhalten. Natürlich hatte ich von Robert Jungk schon gehört, Bücher wie Der Atomstaat waren den linken Studenten zumindest dem Namen nach bekannt. Hätte ich mich, wie jene Kollegen, die in Bussen von Salzburg nach Zwentendorf gefahren waren, im Widerstand gegen das österreichische Atomkraftwerk engagiert, ich hätte wohl etwas mehr gewußt über den Mann dem weißen Haarschopf, wäre ihm vielleicht sogar über den Weg gelaufen. Aber daß wir uns längst mitten in einer Umweltkrise befanden, die zunehmend dramatisch wurde, war mir damals noch nicht klar. Robert Jungk hingegen war einer der Ersten und Hellsichtigsten, wenn es um ökologische Themen ging. Das weiß ich heute, und genauer weiß ich es auch nur, weil ich unlängst einen Vortrag von Peter Stephan Jungk über seinen Vater gehört habe.
Von Peter Stephan Jungk hatte ich während jener basisdemokratischen Versammlung womöglich ein Buch in der Umhängetasche: Stechpalmenwald, erschienen in der exquisiten Collection S. Fischer. Seltsam, ich kam lange nicht auf den Gedanken, zwischen diesem Autor und dem berühmten Journalisten Robert Jungk einen Zusammenhang herzustellen. Ich glaube tatsächlich, Peter – so nenne ich ihn inzwischen – hatte anscheinend nie mit den Schwierigkeiten zu kämpfen, die sich einstellen können, wenn der Sohn in die Fußstapfen eines berühmten Vaters tritt. Die beiden verstanden einander sehr gut, Peter bezeichnet den Vater als seinen »besten Freund«, an den er noch heute jeden Tag wenigstens einmal denke, aber die Rede im Friedensmuseum von Hiroshima am 3. März 2014 war die erste öffentliche, schriftlich fixierte Äußerung über Robert, der Freunden und Familienmitgliedern »Bob« gerufen wurde.
Das einstöckige, von einem Park umgebene Friedensmuseum wirkt flach, es paßt sich dem Erdboden an, erhebt sich nur wenig über ihn und mimetisiert so die totale Zerstörung, den ground zero, den die Atombombe am 6. August 1945 hinterlassen hat. Zugleich aber wächst hier etwas, die Zerstörung hat nicht das letzte Wort behalten, es wachsen wunderbare Kusu-Bäume, die man in der ersten Nachkriegszeit gepflanzt hat. Als ich mit Peter über die Brücke in die heutige Innenstadt gehe, deute ich auf das Spital, in dem meine Tochter zur Welt gekommen ist, gleich gegenüber vom Museum, aus dem Zimmer im dritten Stock, wo sie ihre ersten Atemzüge getan hat, streift der Blick über das Museum, die Bäume, die Hochhäuser im Hintergrund und die Lücke, die der Abriß des alten Baseballstadions vor einigen Jahren hinterlassen hat. Ich erwähne den Geburtsort meiner Tochter bei solchen Gelegenheiten gern, weil er mich an einen der stärksten Freudenmomente meines Lebens erinnert. Peter schaut hinüber, nickt, und wir gehen weiter, so soll es sein. Kleine Gesten, kurze Blicke. Wo Tod war, soll Leben sein.
Der große Vortragssaal befindet sich im Untergeschoß des sogenannten Friedensmuseums; als ich hinabsteige, habe ich das Gefühl, mich in einen Bunker zu begeben, als sollte das Gebäude denen Schutz bieten, die einen neuen Krieg zu überleben haben. Gott bewahre... Hiroshima wird nie wieder eine Armee angreifen wollen. Noch im Hinabsteigen fällt mein Blick auf den Rücken eines Mannes, der sich im Gespräch mit zwei jungen Frauen befindet, Ausländerinnen, Studentinnen, und ich zögere, ob er es ist. Das Haar eher grau als blond, der Körper schmal, die Haltung leicht gebückt, Blue Jeans, Hemd aus grobem Stoff. Später, während des Vortrags, habe ich Gelegenheit genug, die Gesichter und Gestalten zu Vergleichen, Robert Jungk, die öffentliche Figur, die letztes Jahr sogar auf einer österreichischen Briefmarke erschien, und den Schriftsteller, von dem nur wenige Fotos im Umlauf sind, allesamt älteren Datums, der Abgelichtete entsprechend jung. Aber dieser Vortragende war nicht jung, er war über sechzig, ein Lebensdatum, von dem ich selbst – es überrascht mich immer wieder – nicht mehr so weit entfernt bin. Wenig Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn auf den ersten Blick, auf den zweiten und dritten aber doch eine ganze Reihe; viele Ähnlichkeiten, wesentliche, wie mir jetzt scheint. Die vollen Lippen, das häufige Lächeln, der aufmerksame Blick, eine Art Sanftmut. Eine wesentliche Sanftmut, kann man das so rasch erkennen? Muß man einen Menschen jahrelang kennen, damit man sich über ihn äußern kann? Kann/soll man sich je so über einen Menschen äußern? Über einen Vater? Einen flüchtigen Bekannten? Sollen diese Eigenschaften und meine Wahrnehmungen nicht besser innen bleiben, oder dazwischen, zwischen den Wörtern?
Damals, 1978, habe ich meine Stimme nicht Robert Jungk gegeben. (Daß die Stimmen eines letztendlich doch nur kleinen Häufchens von Studenten überhaupt irgend einen Einfluß haben konnten, ist im nachhinein sehr zu bezweifeln.) Ich war der einzige, der sich der Stimme enthielt. Das bereue ich jetzt, es tut mir leid. Andererseits verstehe ich meine damalige Haltung, denn ich wußte fast nichts über den vorgeschlagenen Kandidaten, bekam keine Gelegenheit, mich kundig zu machen, und daß mir eine Disziplin namens »Zukunftsforschung« irgendwie verdächtig vorkam, kann ich heute noch nachvollziehen. Peter sagte in seiner Rede selbst – und mit »selbst« meine ich auch, daß er im Sinne seines Vaters sprach – Peter schickte voraus, daß man die Zukunft nicht vorhersagen könne, daß es aber durchaus möglich sei, Zukunftsszenarien zu entwickeln, die wir bei unserem gegenwärtigen Handeln berücksichtigen können und sollen. Ich glaube, es war Albert Camus, der sagte, die Schuld des Menschen beginne damit, daß er sich von dem, was geschehen könne, aus Trägheit oder Dummheit oder wegen kurzfristiger Interessen keine Vorstellung gemacht hatte. Zum Beispiel hätte man sich die Auswirkungen eines Erdbebens im Nordosten Japans auf die Atomenergieanlagen in Fukushima schon lange vor der Katastrophe ausmalen können, und einige Leute haben das auch getan und die Öffentlichkeit gewarnt. Tatsächlich hatte man in Fukushima Schutzwälle gegen Flutwellen errichtet, aber sie waren nicht hoch genug. Ebenso kann man versuchen, Szenarien für den Gebrauch alternativer Energieformen zu entwerfen, und es wird ebenfalls getan. »Zukunftsforschung bedeutete auch, nach alternativen, ’sanften’, humanen Technologien zu suchen«, sagt Peter im Bunker des Friedensmuseums im Sinne seines Vaters Robert Jungk.
Die Zukunft vorhersagen... Hegel und Marx waren überzeugt, das sei möglich, man müsse nur Einsicht in die objektiven Gesetze der Geschichte gewinnen. Vorhersage und Planung seien nicht nur möglich, sondern notwendig. Der Weltgeist in Gestalt des Philosophen, die Gewalt der Materie in Gestalt der Arbeiterklasse werde die Geschichte zu ihrem grandiosen Ende führen, in ein neues Paradies. Daß hier die Crux lag, der springende Punkt im roten Fadenknäuel der Theorien, an die ich, der linke Student, noch so halb glaubte, ahnte ich wahrscheinlich schon, als ich Robert Jungk meine Stimme nicht gab. Deshalb wird er mir verzeihen; hat mir schon längst verziehen. Die Zukunft ist nicht vorhersehbar. Gerade deshalb kommt es auf uns selbst an, auf den Gebrauch unserer Freiheit, auf unser Vorstellungsvermögen und unsere Träume.
Siehst du, Student dort im halbleeren Hörsaal, genau deshalb war Robert Jungk ein »Lichtsammler«, der das Gute aus den Menschen, in denen naturgemäß so viel Schlechtes ist, herauszuholen und zu bündeln verstand. Auch aus dir, aus dem, was von dir übrig ist und weitergeht, holt er es noch heraus, obwohl du inzwischen viel, viel öfter zur Skepsis als zu jedweder Art von Glauben neigst.
Peter Stephan Jungk ist kein Politiker und kein Ökologe, er ist ein Erzähler. In seiner Rede im Friedensmuseum erzählt er, wie er zum ersten Mal in Japan war, 1970, in Begleitung seines Vaters, der japanischen Boden nach einer Schiffsreise zum ersten Mal 1957 (im Jahr meiner Geburt) betreten hatte. 1970 fand in Osaka die große Weltausstellung statt, Robert Jungk war beauftragt, die Eröffnungsrede im Pavillon der Europäischen Gemeinschaft zu halten. Danach reiste er mit seinem Sohn nach Kyoto zur International Future Research Conference. Als Tagungsort hatte Robert Jungk Hiroshima vorgeschlagen, doch die japanische »Zukunftsgesellschaft« bestand auf Kyoto, vielleicht wegen der Bau- und Naturschönheiten, welche die Konferenzteilnehmer dort besichtigen konnten, oder auch nur, weil es von Osaka nicht weit nach Kyoto war, während von Osaka nach Hiroshima noch kein Shinkansen fuhr und die Reise ein wenig beschwerlich war. Die offizielle Begründung lautete, man wolle den Gästen einen Besuch in der Katastrophenstadt nicht zumuten und ihnen die Scham ersparen. Jungk meinte zu seinem Übersetzer und Mitarbeiter Carl Ogura, die Japaner selbst wollten wohl nicht an das Geschehene erinnert werden. Ogura gab ihm recht.
Hiroshima als Stadt des technischen Fortschritts, des großen Experiments... Jungk hätte dort mit dem Finger auf den Zusammenhang zwischen Technikeuphorie und Zerstörung weisen können. Für die Weltausstellung in Osaka hatte man hingegen ein riesiges Areal am Stadtrand gewählt, das in einer gewaltigen Anstrengung erschlossen worden war, um neuerlich, zu Beginn der siebziger Jahre, die großartigen Möglichkeiten des technischen Fortschritts zu feiern, ohne an die Schatten zu denken, die ihn möglicherweise begleiten. Das Wahrzeichen, der 65 Meter hohe »Sonnenturm« des Malers und Bildhauers Taro Okamoto, steht heute noch, die Pavillons jedoch wurden geschliffen, das Areal ringsum in ein Erholungsgebiet mit Parks und Museen und Sportanlagen (darunter das Stadion von Cerezo Osaka) umgewandelt. Man kann Okamotos kindlich-naiv und ein bißchen »futuristisch« wirkende Sonne des Fortschritts besuchen, im Inneren führt ein Aufzug empor, die ausgestellten Fotos zeugen von der Begeisterung der Japaner, ihrem schrankenlosen Zukunftsglauben, der später gebremst wurde und seit der Katastrophe in Fukushima einer Skepsis gewichen ist, die nicht, wie in Deutschland, zu raschen Entschlüssen geführt hat, aber vielleicht doch langfristig eine Umorientierung in Energiefragen bewirken wird.
»Wie entsetzt wäre er gewesen, von den Ereignissen im März 2011 in Japan und vom unmöglichen Verhalten der Betreiberfirma Tepco zu erfahren«, sagt Peter vorne auf dem Podium. Hin und wieder sinkt er ein wenig zusammen, hält sich die Hand vors Gesicht, auf dem ich die Müdigkeit erkenne. Wegen der Zeitdifferenz zwischen Europa und Japan, oder warum? Sein Vater hielt es für absurd, dass ausgerechnet jene Nation, die die beiden Atombombenabwürfe erleiden mußte, ein außerdem so erdbebengefährdetes Land, die Atomkraft zügig ausbaute und besonders viele Atommeiler errichtete. Warum, fragt Peter vorne, und ich glaube... nicht gerade die Antwort zu wissen, aber doch eine Antwort, die ich von Randy Taguchi habe, einer japanischen Schriftstellerin, die in ihren Werken immer wieder auf Hiroshima zurückzukommen pflegt. Es waren just die Amerikaner, die damalige Siegermacht, die ihren Zugriff auf das Land nutzte, um den Ausbau der Atomkraft einzuleiten. In der Anfangszeit der »friedlichen Nutzung der Kernenergie« wurde technisches Know-How zur Verfügung gestellt und das japanische Personal in den USA ausgebildet. Von der Atombombe führt über die Energiepolitik ein geradliniger Weg nach Fukushima.
Robert Jungk war einer von fünfzig Journalisten, die 1953 einem Atombombentest in der Wüste von Nevada beiwohnten. Aufgrund dieser Erfahrung und nach ausgiebigen Recherchen sowie Interviews mit zahlreichen Wissenschaftlern und Technikern, die am Bau der Bombe mitgewirkt hatten, schrieb Jungk sein wohl bekanntestes Buch, Heller als tausend Sonnen. »Dieser Blitz zerriss die Welt für mich«, schrieb er damals. Sein Sohn erzählt, Bob habe die Tatsache, daß er frühzeitig weiße Haare bekam, mit seiner Anwesenheit bei jenem Atomtest in Verbindung gebracht. Aberglaube, oder? Verständlicher Aberglaube bei einem, der vom Blitz geblendet wurde, aber nicht gerade wissenschaftlich... In den sechziger Jahren, als es weltweit zu zahlreichen Atombombenversuchen kam, ermahnte Robert Jungk seinen heranwachsenden Sohn gelegentlich, wenn es schneite, draußen auf keinen Fall den Mund aufzumachen: durch den »Fallout« der Tests könnten in den Schneeflocken radioaktive Substanzen enthalten sein. Das leuchtet mir schon eher ein.
Letztes Jahr, 2013, habe ich in einem alternativen Kino in Tokyo einen mit bescheidenen Mitteln gedrehten Independent-Film über die Tage nach dem Reaktorunglück in Fukushima gesehen. Der quasi-dokumentarische Film zeigt, wie Frauen, besonders solche mit Kindern, versuchen, vor den Gefahren zu warnen und ihre Kleinen zu schützen. Sie stoßen vielfach auf Unverständnis und Ablehnung, werden von der Gesellschaft geächtet. Kassandras, Warnerinnen, nicht immer vernünftig; von einer Vernunft getrieben, die mit der Vernunft der gehorsamen Forscher und Techniker nicht vereinbar ist. Robert Jungk scheint eine männliche Kassandra gewesen zu sein, ein Warner, der die instrumentelle Vernunft kannte und erkannte, ohne ihr zu huldigen. Warnend nicht aus Angst, sondern aus einem unbändigen Lebenswillen. Aus Lust auf die Zukunft.
Während Peters Rede im Untergeschoß des Friedensmuseums von Hiroshima saß in der ersten Reihe eine groß gewachsene Frau mittleren Alters, mit kastanienbraun gefärbtem Haar – ich sah sie von schräg hinten, ihre gleichmäßigen Gesichtszüge konnte ich nur in kurzen Augenblicken streifen. Sie trug einen langen Daunenmantel und eine Gesichtsmaske, die sie abnahm, als sie gegen Ende der Veranstaltung ruckartig aufstand, um auf die von den Reaktoren in Fukushima weiterhin ausgehende Gefahr hinzuweisen und Peter zu fragen, was denn in Zukunft energiepolitisch zu tun sei. Peter entzog sich einer Antwort, indem er sagte, er sei kein Politiker und auch kein Zukunftsforscher, und sein Vater sei leider nicht hier, um eine Antwort zu geben. Er selbst sei Schriftsteller, weiter nichts. Zuletzt rang er sich doch noch durch, für Formen erneuerbarer Energie Partei zu ergreifen. Mit leiser Stimme, als käme es auf ihn, Peter Stephan Jungk, nicht an. Sein Vater hatte Hoffnungen vor allem in die Sonnenenergie gesetzt. Nicht tausend Sonnen schienen ihm wünschenswert, nicht übermenschliche Helligkeit, sondern die Kraft der einen, altvertrauten, neu zu erschließenden Sonne. Der Licht- und Kraftquelle, die ich von nun an auch in der Skulptur Okamotos im Banpaku-koen sehen werde.
Peter schloß seine Rede in Hiroshima konventionell mit dem Hoffnungsschimmer, der uns Menschen stets leiten wird. Kein anderes Schlußwort hätte zum Leben seines Vaters gepaßt, der gern hundert Jahre alt geworden wäre und die besseren Zeiten, deren Anbruch er ahnte, noch erleben wollte. In Wahrheit haben die Weltkrisen eher zu- als abgenommen, wie Peter sagte, und das hätte den »Optimisten und Menschenfreund« Robert Jungk sicher betrübt. »Aber aufgegeben hätte er trotzdem nicht, im Gegenteil, er hätte seinen Optimismus bewahrt, hätte weitergekämpft für eine bessere Welt.«
Peter hat keine weißen Haare bekommen, denke ich, als ich später in einer winzigen Bar neben ihm sitze. Sein Haar ist etwas schütterer als das seines Vaters, die Farbe blond, grau, undefinierbar, Asche, Sonne, die Abstufungen dazwischen. Hat er als Junge im Winter den Mund geschlossen gehalten, das Gesicht nicht dem Himmel entgegengestreckt, wie es meine Tochter gern tut, wenn es schneit, selten genug in Hiroshima, diesem – wie mir manchmal aus der Ferne mitgeteilt wird – verseuchten Ort? Ich will meiner Tochter den offenen Mund nicht verbieten. Im Gegenteil, ich tue, was ich so lange unterlassen habe, und sperre selbst den Mund auf. Die Familie Jungk hat in Salzburg in der Steingasse gewohnt, Peter beschreibt mir Jahrzehnte danach den herrlichen Ausblick. Als Halbwüchsiger zog er aus, wohnte in einer Dachkammer am Corso, nicht weit von den Eltern, aber doch selbständig, unten am Kai.
Corso? Gibt es in Salzburg einen Corso? Tomaselli, Bazar, Café Mozart... Dunkel erinnere ich mich, daß da irgendwann ein Café Corso gegeben haben soll, lange vor meiner Zeit. »Erinnerst du dich an das Café? DAS Café meine ich, ja. Am Anfang der Steingasse.« – »Da war doch diese Kellnerin...« – »Du meinst die...?« – »Nein, sondern...«
Auf der perfekt sitzenden Krawatte des Barkeepers ist ein kleines hellblaues Flugzeug zu sehen. Der Mann hält auf einmal einen Zylinder in der Hand, die Frau neben ihm ermuntert ihn, Kunststücke vorzuführen, und schon bald läßt er Dinge verschwinden und andere auftauchen, Münzen, Zitronenspalten, unvermutete Dinge, und Peter und ich, inzwischen die einzigen Gäste, staunen wie Kinder und fragen uns, wie denn das möglich sei. Die beiden hinter der Theke sind ein Ehepaar, sie stammen aus Kanazawa, der schönen Stadt am japanischen Meer. Ob er viel übe, frage ich den Zauberer, der bescheiden zur Seite blickt. »Klar übt er, jeden Tag, und stundenlang«, sagt die Frau mit dem hochgesteckten Haar und dem sorgfältig geschminkten Gesicht. Die beiden sind ein Ehepaar, Abend für Abend verbringen sie in der Bar, ihrem Lebenswerk. Aber das Café in der Steingasse gibt es schon lange nicht mehr, und im Haus am Corso befindet sich heute die Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen. Die bessere Welt liegt naturgemäß in der Vergangenheit. Oder nein, sie ist hier und jetzt, in der winzigen Welthöhle, wo uns der einfachste Zauber bestrickt.
© Leopold Federmair
Dieser Aufsatz erschien erstmalig in der Zeitschrift »Literatur und Kritik«, Juli 2014, Nr. 485/486, Otto-Müller-Verlag, Salzburg
Pingback: Muss ja auch mal wieder sein: Eine Linkliste | Zurück in Berlin