Überfluss und Verfügbarkeit von Informationen aller Art stellen, neben unserem Fassungsvermögen, in aller Deutlichkeit die Frage nach ihrer Relevanz: Um die Welt oder eher Teilwelten (noch) verstehen und zusammenhalten zu können, müssen wir zwischen bloßer Information und Wissen (bzw. Relevanz) unterscheiden, in angemessener Zeit, inklusive der Möglichkeit der Verknüpfung und (eventuell) genauerer Prüfung durch das Hinzuziehen weiterer Quellen. Darüber hinaus ist die Verfügbarkeit und Zugänglichkeit von relevanter Information und Wissen eine demokratische »Forderung« (Bedingung), da sie die diskursiven Prozesse und die Meinungsbildung unterstützen oder überhaupt erst möglich machen, das Wahlverhalten beeinflussen und die Entscheidungen der Politik.
Die Deregulierung von machterhaltenden Informationsbarrieren ist eine antiautoritäre und antielitäre Begünstigung demokratischer Entscheidungen, aber keine Garantie1; das bedeutet nicht, dass uneingeschränkte Transparenz ein wünschenswertes Ziel wäre, denn Intransparenz sichert unsere Privatsphäre oder verhindert in der Diplomatie ein Eskalieren von Konflikten; aber für Diskussionen über politische Fragen und Entscheidungen ist sie notwendig, kann fehlerhaftes Wissen oder Nichtwissen falsche oder interessengeleitende Entscheidungen zur Folge haben.
Dies legt, zwar keineswegs zwingend, aber doch nahe, dass ein relevantes, qualitatives journalistisches Produkt möglichst barrierefrei zugänglich sein sollte, um seiner Relevanz auch faktisch, nämlich demokratiepolitisch, gerecht zu werden2 . — Ein langfristiger Nebeneffekt ausführlicher und detaillierter journalistischer Arbeit bei gleichzeitiger Reduktion von bloßen Meldungen und knappen Kommentaren würde der Informationsmenge ihre Spitze nehmen und zur Entschleunigung beitragen.
Rudi Fußi ist im Werkstattblog der NZZ Österreich »Auf der Suche nach dem verlorenen Geschäftsmodell«: Er ist einerseits der Ansicht, dass Journalismus etwas wert sein müsse und die Gratiskultur unselig sei, andererseits geht es ihm »um Mehrwert für den User, um den radikalen Lesernutzen«. Einmal ungeachtet der Diskussionen um Geschäftsmodelle, die ich verstehe, und dem Faktum, dass guter Journalismus Zeit und Geld benötigt: Ist nicht der Rückschritt von der Gratiskultur zugleich ein demokratiepolitischer und könnte es nicht sein, dass, davon unabhängig, die Interessen und Gewohnheiten der Leser genau in die entgegengesetzte Richtung gehen? Dass hier die Bedingungen verkannt werden?
Wenn ich mein Leseverhalten und mein Schreibverhalten und damit meine Auseinandersetzung mit Politik extrapoliere (und die von Bekannten und Freunden hinzuziehe), was überzogen und auch falsch sein mag, dann frage ich mich, ob die bestehende Entwicklung aus demokratiepolitischer Sicht nicht eigentlich fortgesetzt und erweitert werden müsste, auch, weil die die klare Trennung zwischen Schreibenden und Rezipienten verschwimmt, weil sich der Begriff Öffentlichkeit erweitert und verändert hat und mit ihm die Auseinandersetzung (dieser Text wäre vor 30 Jahren nicht geschrieben und gelesen worden). — Die geschmähte Gratiskultur, die auf der Verfügbarkeit und dem freien Zugang (und selbstverständlich anderem, auch Fähigkeiten) beruht, ist nicht nur eine im emphatischen Sinn, sie zeigt auch, dass Wertschätzung nicht nur durch Geld ausgedrückt werden muss, sondern auf Leidenschaft, einer Sache, auf Interesse, usf., beruht und sich in Form von Kommentaren und damit: Vertiefung und Zeit ausdrückt. Sie darüber hinaus zutiefst demokratisch, setzt alle auf den Boden der Informationsgleichheit und befördert den Austausch gemäß des Primats des besseren Arguments.
Demgemäß wäre meine Wunschzeitung eine persönliche Wahl, die sich heute von der New York Times bis zum Standard erstreckt und morgen von der NZZ bis zum Hamburger Abendblatt: Nein, nicht bloß Wunsch, es ist ein Anliegen dort lesen zu können, wo ich weiß, dass Kompetenzen vorhanden sind, wohin mich mein Interesse oder ein Thema, meine Überlegungen, eine Recherche, führt. Ich orientiere mich dabei mehr an den Autoren, als an den Marken, die nach wie vor, allerdings langsam verblassende, Landmarken darstellen (die zahlreichen weiteren Quellen, die das Netz hervorgebracht hat, einmal beiseitegelassen): Schlechte Texte gibt es auch in der FAZ; Reents werde ich nach dieser Besprechung kaum mehr lesen und der Zeit schon alleine ihrer immer schreiender werdenden Aufmachung weniger Aufmerksamkeit schenken. — Empfehlungen, etwa über Twitter, werden immer wichtiger: Da ich weiß, von wem die Empfehlung stammt, kann ich mich im Regelfall darauf verlassen einen ordentlichen Text zu lesen.
Ich schreibe das nicht, weil ich nicht bezahlen will, sondern weil ich den freien Zugang für wichtig halte und glaube, dass die Entwicklung und die Gewohnheiten der Leser in diese Richtung gehen (s.o.): Die eine Zeitung, die mir alles Relevante in Haus liefert ist eine bequeme Illusion; mich interessieren unterschiedliche Quellen und unterschiedliche Betrachtungen: Abwägen, darüber Nachdenken, bewerten und Schlüsse ziehen kann ich selbst.
Fußi schreibt: »Das ist kein Reichweitenmodell, kein Massenprodukt, das ist die Bedienung einer Nische, einer klar definierten Zielgruppe.« Ich fürchte, dass es keine klar definierbaren Zielgruppen mehr gibt, es sei denn die Zielgruppe setzt sich aus jenen zusammen, die guten Journalismus schätzen: Wenn ich heute einen Artikel zu einem viel diskutierten Thema mit einem kurzen Hinweis versehe, wird ihn jeder Interessierte, der darüber stolpert lesen, egal wo er publiziert wurde: Man liest viel anlassbezogener als früher, sucht, wo sich Qualität finden könnte, empfiehlt diese weiter oder konsultiert Aggregatoren: Man kehrt keineswegs regelmäßig und verlässlich immer wieder an den einen Ort zurück.
Das Produkt kann gerade angesichts des Qualitätsbegriffs nur ein »Zugriffsprodukt« sein: Wenn Journalismus relevant ist, dann muss er in den Diskurs einfließen können, jederzeit. Die Konsequenz daraus wäre eine Zeitungsflatrate, man mag mich des Irrealismus schelten, aber ich zahle gerne einen (monatlichen?) Betrag, wenn ich weiterhin frei (und in Zukunft vollständig) auf »alle« Zeitungsarchive zugreifen könnte.
Scheitern sei eine Option, meint Fußi am Ende. Auch, wenn es aus Gründen fehlender oder falscher Analyse geschieht? Oder extrapoliere völlig zu Unrecht die Gewohnheiten einer Minderheit?
Ein klassisches Beispiel solcher Barrieren ist das Amtsgeheimnis; ein weiteres, sich erst andeutendes, das Recht auf Vergessen, das der EuGH unlängst begründete. ↩
Der Bedeutung des Journalismus für die Demokratie eingedenk und die irreführende Selbstzuschreibung von der vierten Gewalt zurückweisend. ↩
Pingback: Der Leser im Informationszeitalter. Eine Replik auf Rudi Fußi. | Makulatur
Schwieriges Thema. Ein ganzer Berufsstand wird ja seit Jahren befragt. Zum einen gibt es die unzähligen Hobbyschreiber (Blogger), also durchaus ein Wettbewerb, zum anderen sehen sich Medien aus Präsenzgründen gezwungen, einen Teil ihrer Inhalte kostenlos ins Netz zu stellen. Dabei geht es – ich mache mir da nichts vor – weniger um die Befeuerung des hehren Diskurses in der Gesellschaft als um Appetitanreger, mit der Rezipienten angeregt werden sollen, das Medium mittel- oder langfristig zu erwerben. Es ist ähnlich wie bei der Autowerbung: Niemand steht auf und kauft sich daraufhin ein neues Auto, aber mit der Zeit entsteht ein Image, eine Marke. Eine Redaktion, die zur Marke geworden ist und geschickt einige Häppchen (vulgo: Gratisinhalte) zur Verfügung gestellt hat, wird am Ende dann einen ökonomischen Zugewinn verbuchen. So die Idee.
Ob ein Zugangs-Abo hilft? Ich bin da ratlos. Oder Werbung? Es gibt diese Satire-Seite »Der Postillon«, die sich über Werbung finanziert; der Betreiber kann davon derzeit augenscheinlich leben. Und sonst? Einen Artikel für 2 Euro abzurufen – das habe ich bisher nur ganz selten gemacht. Das FAZ-Archiv habe ich für 30 Euro im Jahr abonniert (5 Freitexte im Monat; ich nutze das selten). Zudem sind nicht alle Texte verfügbar (bspw. aus dem FAZ-Magazin der 80er Jahre).
Stimme dem hier Gesagten prinzipiell zu, und klar: ich würde auch für eine solche Zeitungsflatrate bezahlen. (Sie müsste allerdings deutlich billiger sein als das Abonnement einer klassischen Papiertageszeitung, denn erstens fallen ja die Papier- und Druckkosten weg, zweitens wird kein durchschnittlicher Leser im Netz mehr lesen, rein mengenmäßig betrachtet, als eine normale Zeitung an Text beinhaltet.) Das Problem der Flatrate dürfte nur sein, wie man das Geld, das sich im Flatratetopf ansammelt, wieder an die Produzenten zurückverteilt. Denn ein Artikel, der 100.000 Klicks kriegt, wird wohl zurecht mehr Geld aus dem Topf fordern, als einer, der nur 100 mal geklickt wird. Abseitige, unspektakuläre (also intellektuell anspruchsvolle) Themen dürften also in diesem Flatratejournalismus auf der Strecke bleiben, reißerisch aufgebauschte Nullmeldungen à la heftig.co, die massenhaft auf Facebook geteilt werden, hingegen florieren und den Hauptteil des Kuchens bekommen. Diese Dynamik der Niveauverflachung durch Klickratenoptimierung erleben wir ja heute schon, da die Werbekunden auch nur auf die Klickraten schielen. Die Frage wäre, wie man dieser Dynamik in einem durch Flatrate finanzierten Journalismus etwas entgegensetzen kann.
Es ist gewissermaßen ein Fluch, dass durch die Messung der jeweiligen Klicks jetzt deutlich wird, was (an)gelesen wird und was nicht. Darunter leidet ja speziell das deutsch(sprachig)e Feuilleton. Bisher galt die Illusion, dass der Leser sozusagen alle Möglichkeiten hat. Jetzt steht fest, dass er/sie diese Möglichkeiten nicht nutzt und man kann genau feststellen, was quantitativ Interesse und Verbreitung findet. Entweder Verlage machen nun eine »Mischkalkulation«, d. h. abseitige Texte werden durch populäre »subventioniert«, oder man wird boulevardesker. Derzeit ist fast überall letzteres zu beobachten.
Den Wunsch nach einer Flatrate für den ganzen Kiosk hört man immer wieder. Aber wer wünscht sich das? Der Wunsch kommt von der raren Spezies der klassischen Intensivnutzer der Zeitungen. Diese Spezies ist aber möglicherweise (meine Vermutung) schwindsüchtig. Die Nutzermassen entfernen sich immer mehr vom »ruhig-intelligenten Lesen«, überspringen längst alle denkbaren Zeitungsallianzen und beuten das Netz für einen übereilten Eklektizismus (Hektizismus, könnte man sagen) aus, der weniger mit pluralistischer Nutzung nach alter Liberalität und Weisheitssuche, sondern eher mit Zerstreuung und Zerstäubung des Bewusstseins zu tun hat.
Der _innere_ Trend geht weg vom »Leseartikel« und hin zur schnellen Info, zum Neuronenfutter, zum »Aufreger«, zum kurz hoch geschossenen Thema des Tages. Oder anders gesagt: Die Zeitungen haben weniger das Problem, ein neues Geschäftsmodell aufzuziehen, als vielmehr das Problem, dass die Kundschaft sich nicht mehr in irgendetwas für länger als 30 Sekunden vertiefen möchte, auch weil ihnen dafür die Zeit gestohlen wird von Instanzen, die unweigerlich mehr und einfacher Aufmerksamkewit abgreifen können als ausführlich recherchierte und sorgfältig geschriebene Artikel. Man kann alles öffnen, man kann alles gratis machen, man kann auf Hunderte Arten einen Journalismus fördern, der sich einem tradierten Ethos verpflichtet – würde das der politischen Kultur, der Demokratie, der fundierten Meinungsbildung noch viel helfen? Es ist doch mit den Händen zu greifen: Die Alphabet-Kultur ist nicht mehr das, was sie mal war. Das »Lesebürfnis« der Jüngsten ist auf Bilder und Clips. Und wir sind erst ein paar Jahre hinein ins neue Jahrtausend, wo jede blödsinnige Kleinigkeit und jede »Lust« so sanft und komfortabel zu werden verspricht, dass immer weniger noch einsehen _können_, warum sie für irgendetwas Anstrengungsbereitschaft und Sublimation aufbringen sollten.
Das Problem sind meiner bescheidenen Ansicht nach nicht das Geld, nicht der Zugang (im Wunderhaus des Netzes diffundiert sowieso alles, auch das Zurückgehaltene), es sind die Leser, die halb nicht mehr können, halb nicht mehr wollen.
Ob und wie »schlimm« das wäre, weiß keiner. Der frühere »Zeitungsjunkie« war auch eine komische Figur, ein Allesverschlinger – die tägliche Sucht nach Banalitäten ist ja nicht ganz neu. Die Lokalteile, Sporteile, »Mörderseiten« sind von dieser Wahllosigkeit des Lesevergnügens und der »persönlichen Interessen« geprägt – wenn das verschwindet, was verschwindet dann schon? Und andererseits, wenn der »Geist schon früh komplett war« (J. Burckhardt), dann wird er auch zuletzt untergehen? Die Nischen werden kleiner, aber vielleicht waren frühere « verbreitete Auflagen« eben auch nur Simulationen, hinter denen eine viel kleinere Lesewirklichkeit steckte?
Für mich als alten Alphabetisten sind das natürlich keine besonders guten Nachrichten, aber ich fürchte, die Analyse ist zutreffend. Und in der Tat: vielleicht erscheint das nur auf den ersten Blick als »schlimm«, nur weil man jetzt erstmals sieht, wie klein die Nische immer schon war, in der man sitzt.
@Gregor
Jede Form der Bezahlung im Netz muss entweder eine Pauschale sein (als Abo oder Flatrate) oder, wenn pro Artikel bezahlt werden soll, möglichst rasch (ein Klick) und einheitlich (am besten bei allen gleich), sonst wird es nicht funktionieren. — Eine Lösung kenne ich natürlich nicht. Klar ist mir, was ich schätze und praktiziere: Ich verfolge Themen (oder Interessen), auch über lange Zeit, und lese gerne entgegengesetzte oder sich ergänzende Betrachtungen (auch über Empfehlungen und Aggregatoren). Des weiteren gibt es natürlich auch ein Bedürfnis nach Übersicht: Was ereignet sich, was könnte verfolgenswert sein? Und Anlässe wie Diskussionen und Recherchen. Es ist wie Du schreibst, ein Archiv würde ich nicht zum Schmökern verwenden.
All das deutet, wenn ich meine Gewohnheiten betrachte, auf einen Wandel im Gegensatz zu früher, wo man eine oder vielleicht zwei Zeitungen befragte (gut, im Kaffeehaus war es immer schon anders möglich). Ich habe den Eindruck, dass die Markenbindung abnimmt, vielleicht auch, weil die (berechtigte) Kritik überall nachzulesen ist.
@Andreas Wolf
Die Flatrate war die Folgerung aus meinen Gewohnheiten und Beobachtungen, dass eine Verwirklichung nicht ganz einfach ist, stimmt. Man könnte die Einkünfte (zunächst?) in gleichen Teilen auf die beteiligten Zeitungen aufteilen (es ist ja so, dass ich die Flatrate wegen allen in Anspruch nehme, nicht wegen einzelner; darüber hinaus wird es sicher noch klassische digitale Abos geben, für die, denen ein Angebot reicht).
@Fritz Iversen
Ich tendiere mal in die eine, mal in die andere Richtung, aber ohne gute Empirie wird sich in dieser Frage nichts Verbindliches feststellen lassen, da bleiben persönliche Beobachtungen und Spekulationen, der Jammer ist ja nicht neu. Gibt es weniger Vielleser als früher? Ich weiß es nicht, es kann so oder so sein (das Netz kann durch seine Vielfalt und Zugänglichkeit auch Interessen wecken). Außerdem ändert man sich im Lauf der Jahre, als Jugendlicher haben mich Zeitungen kaum interessiert.
Der Hektizismus hat m.E. auch mit dem Endgerät zu tun; ich kopiere mittlerweile alle längeren Texte auf meinen Ebook-Reader und kann dann in Ruhe und ungestört lesen (keine Emails die eintrudeln, kein Twitter, usw.). Klar, man muss sich die Zeit nehmen.
»Gibt es weniger Vielleser als früher?« Jein. Viele Menschen lesen heute wahrscheinlich weit, weit mehr »Buchstaben pro Tag«, als sie je zuvor gelesen haben. Die Menge ist aber nicht der Punkt. Der Punkt ist, welche Anstrengungen noch damit verbunden sein dürfen, welche mentalen Gratifikationen beigemischt sein müssen, welche Qualitäten der Leser sich zumuten lässt.
Es ist hoch wichtig, was du, Metepsilonema, sagst, nämlich dass die längere Lektüre entsprechende Lesesysteme benötigt. Lesen erfordert Ablenkungsfreiheit. »Überfliegen«, »Scannen« geht immer, hat auch gerade bei simplen Nachrichten sein berechtigstes, fast würde ich sagen: empfohlenes Anwendungsfeld. Aber die Zahlungsbereitschaft erfordert Lesewünsche in einem mehr emphatischen Sinne, daher die Bereitschaft, das ganze Anbrandende für z.B. eine halbe Stunde still zu stellen. Deswegen kaprizieren sich ja jetzt einige Angebote darauf, die Zielgruppe Wochenend-Leser zu treffen (»Spiegel« will auf Samstag vorziehen, auch »Freitag« folgt dem Konzept).
Empirisch liegt insofern Material dazu vor, dass die Zeitungen ja seit Jahrzehnten ihre eigene demographische Katastrophe erleiden – abgesehen davon, dass die Zahl der Geburten abnimmt (absolut), nimmt auch die relative Zahl in den nachwachsenden Jahrgängen ab (prozentual). Und neulich zu lesen (FAZ, glaube ich), dass selbst im Haushalt, wo der Vater vom Zeitungschreiben lebt, die Kinder kein Stück Zeitungspapier mehr in die Hand nehmen, also eventuell noch nie in ihrem Leben eine Zeitung von vorne bis hinten durchgegangen sind.
So mitten in der Transithalle stehend und bereits ziemlich müde, können wir vermutlich gar nicht erkennen, wohin die Reise geht. Es ist sicherlich mehr als ein läppischer »Medienwandel«, hoffentlich weniger als ein »Menschenwandel«.
Für uns alte Alphabetisten ist aber jetzt schon erkennbar, dass das durchschnittliche Sprachvermögen gefährdet ist. Das Präzisionsvermögen. Das wird erkennbar, wenn man alte Beschreibungstexte aus dem 18./19., sogar 20. Jahrhundert liest, z.B. Reisebriefe. Neulich ging der »Wanderfalke« herum – dieses Vermögen, in der Sprache Beobachtungen zu fassen, kann man da museal bestaunen (wen interessiert schon das Thema, staunend stehen wir vor der Art, Sprache zu nutzen; noch empfehlenswerter als einen Hochpunkt der Beschreibungsliteratur finde ich übrigens Gerard Manley Hopkins »Journal«, z.B. – ich schlag einfach auf: »... etwas graue Bewölkung zwischen Schauern gerippt und faltenfallend und einiger wilder leuchtender großer Zausflaum an der Grenze einer weiten Drift mit dahinter aufsteigendem Blau – obwohl es zu große Lettern waren, um als Flaum bezeichnet zu werden.«) Heute immer mehr und weiter durch die Welt reisen, aber nichts mehr mit einem Wort fassen, sondern nur Photo plus Sofort-Manipulation. Wie soll da nicht eine ganze Sprachschicht, die sich mit der Beschreibung von Gerüchen, Farben, Stimmen, Lauten beschäftigt, aus dem Leben der Menschen verschwinden – das Residuum ist da tatsächlich nur noch die Literatur, ein klitzekleiner Teil der Literatur, sonst ist das definitiv auf dem Weg ins Vergessenwerden, was früher in Millionen Tagebüchern, Briefen, Büchern, auch Zeitungsartikel beheimatet war, das ist alles immer weiter im Jenseits von uns. Vor uns die Nachzeit ... das nächste große Menschheitsprojekt ist der Robotertext ;)))
Nun ja, @Fritz Iversen, sowohl J. A. Baker als auch George Manley Hopkins waren auch schon ihrer Zeit völlige Ausnahmen. Eben eine hochraffinierte Kunstsprache, an der sie jeweils ein Leben lang gearbeitet haben. Sowas mit der Gebrauchsschreiberei in Konsummedien zu vergleichen ...
Selbstverständlich gibt’s das heute auch noch, und nicht nur bei Peter Handke.
Wenn ich das alles hier so überlese – das Meiste im Scan-Modus – kann ich mich des Eindrucks schwer erwehren:
Mit all dem an uns nun auch noch delegierten Nachdenken über »Geschäftsmodelle« (wie wir ja auch das Obst im Supermarkt selber abwiegen und dabei ehrlich zu sein versuchen), sind wir alle selber schon kleine Amazons: Komplizen der Verluste, versuchen wir damit zu wachsen.
Mir kam während des Nachdenkens folgende Assoziation: Als die digitale Fotografie aufkam, gab es vielleicht vergleichbare Diskussionen, von einem befürchteten Qualitäts- bis zu einem Handwerksverlust, etwas wie Richtungsstreitigkeiten entbrannten. Wer nie analog fotografiert hat, dem geht es vielleicht ähnlich wie jemandem der nie eine Zeitung aus Papier in seinen Händen hielt. Technisch gesehen gibt es in beiden Fällen, analog wie digital, gute und schlechte Fotoapparate, gute und schlechte Fotografen; sehr wahrscheinlich können digitale Fotoapparate all das, was früher analoge konnten und noch einiges mehr; fotografieren ist einfacher geworden und komfortabler (bequemer), da man probieren und wieder löschen kann; was sich vielleicht tatsächlich geändert hat, ist, dass früher keine unmittelbare Korrektur über das Ergebnis möglich war, man musste wahrscheinlich ein sehr gutes Gefühl entwickeln welche Einstellungen man benutzt und wie man sie variiert, das ist heute weniger zwingend (darüber hinaus hat die Digitalisierung natürlich auch das Betrachten der Fotos u.a. verändert). Trotzdem wirken die Diskussionen im Rückblick etwas überzogen (meine Einschätzung).
Zum Thema: Die entscheidende Frage ist, ob die gesellschaftlichen Gegebenheiten, jenseits von Demographie, den Kreis derer, die sich Zeit nehmen wollen, beschränkt (man könnte auch sagen, die Sozialisierung; darauf wollte ich mit der Empirie hinaus). Scannen hat natürlich seinen Platz (Überblick, Nachrichten, weniger Wichtiges).
Das Netz hat vielleicht den Vorteil, dass ein per mail oder Twitter verschickter Link Sozialisierungen oder Gewohnheiten durchbrechen oder zumindest anregend sein kann. — Und war es früher (18/19. Jhd.) nicht um den Durchschnitt viel schlechter bestellt?
Das mit der Sofort-Manipulation stimmt, man lässt sich womöglich auch weniger auf die entsprechende Situation ein, ist mehr Außenstehender, was die beschriebenen Auswirkungen noch unterstützen sollt (aber da dürfte man dann auch keinen Fotoapparat in die Hand nehmen).
Mit einer Leserbeschimpfung wird man nicht weiterkommen. Zu Goethes Zeiten war Kotzebue der meistgespielte Autor an den deutschen Theatern. Die »Unterhaltung« hat immer einen Vorsprung gehabt vor dem hohen Wort. Zu Lebzeiten kannte kaum jemand Kafka; Proust musste seine Recherche anfangs als »Self-Publisher« zu vermarkten. Der Olymp öffnete sich so manchem Autor erst 30, 40 Jahre nach seinem Tod. Und auch damals war Literatur ein Nischenkonzept (wie man heute sagen würde). Aktuell glaubt jeder, der eine Schreib- oder Journalistenschule absolviert hat, dass die nun angelernten Kenntnisse zwangsläufig zu einem festen Einkommen zu führen haben.
Die Balance zwischen Autor und Rezipient ist gestört, weil die bestehenden ökonomischen Verhältnisse nur ein quantitatives Denken zulassen. Man muss Masse erreichen. Masse ist oft genug das Gegenteil von Klasse. Also muss man sich »anpassen« – als Journalist, Autor, Blogger, Stimme. Alles was sich diesem Diktat verweigert wird dann im Zweifel als elitär gebrandmarkt und abgeräumt.
Dass das die Literatur betrifft – geschenkt. Aber es gilt auch längst für den Journalismus. Wer über Geschäftsmodelle für den Journalismus im Netz nachdenkt, muss auch darüber nachdenken, wie man Rezipienten dem Superlativ- und Gesinnungs-Journalismus wieder entwöhnt. Wenn die SZ wahrheitswidrig heute schreibt, Putin hätte gesagt, er könne in zwei Wochen in Warschau sein, dann richtet so etwas mehr Schaden für den Journalismus an als eine übliche Falschmeldung.
Vielleicht brauchen wir ein »Geschäftsmodell« für einen bezahlbaren Journalismus im Internet. Aber zeitgleich bräuchte man einen Journalismus, der einem nicht seine Meinung aufzwängt und mit Propaganda nach Belieben würzt. Dann werden auch Menschen bereit sein, dafür zu bezahlen. Was wir womöglich zuerst brauchen ist eine Medienkritik, die nicht zählt wie oft der EuGH fälschlich als EU-Gericht bezeichnet wurde oder moniert, dass irgendein mutmaßlicher Straftäter nicht ordentlich verpixelt wurde. Wir brauchen eine Medienkritik, die den Journalismus dort enttarnt, wo er manipulativ wird. Wir brauchen eine Medienkritik, die Sprachkritik betreibt – und zwar nicht, um uns – wieder einmal! – vom Gegenteil zu »überzeugen« und selber suggestiv vorgeht, sondern die dem Rezipienten die Bewertung selber überlässt. Die Krise des Journalismus ist auch eine Krise der Journalismuskritik.
Dass »die Balance zwischen Autor und Rezipient« gestört ist, wäre eine genauere Betrachtung wert: Ist das bloß Unzufriedenheit mit der Berichterstattung, weil sie nicht die eigene Meinung (also die des Lesers) vertritt (etwas das es immer gab)? Oder hat sie vielmehr mit der angesprochenen Quantität zu tun (also einem Qualitätsverlust)? Und dann müsste man weiter fragen: Haben sich die Gewohnheiten im Netz so stark geändert, dass jene Leser, die Qualität in Papierform gelesen haben, das nun nicht mehr tun (bzw. sich bei »Junglesern« das Verhalten von Anfang an anders entwickelt)? Nehmen wir die Ukraine-Krise her: Da wurde die Berichterstattung vielfach (und zu Recht) als einseitig kritisiert (mittlerweile nicht nur von den kommentierenden Lesern, siehe ARD, das wäre also ein Beispiel, dass die angesprochene Entwöhnung möglich ist). Daraus könnte man folgern, dass es nach wie vor ein nicht unbedeutendes Bewusstsein für die Qualität der Berichterstattung gibt (und damit auch ein Verlangen nach ihr). Warum existiert diese Diskrepanz? Ökonomisch gesehen ist sie unverständlich, weil man damit auf mittlere Sicht seine Kunden nicht mehr erreichen wird und weniger Geld verdient (man müsste in Qualität investieren; das Gegenteil befeuert bloß den Abstieg). Im Netz ist es technisch gesehen auch relativ unkompliziert, dass Qualität eine entsprechende Masse an Lesern findet (Probleme wie Zugänglichkeit und Geschäftsmodelle einmal außen vor gelassen). Daran kann es auch nicht liegen. Wenn die Qualitätsprobleme in hohem Maß tatsächlich daraus resultieren, dass man zu quantitativ denkt und handelt, muss sich zu aller erst genau das ändern. Ja, das hieße Sprach- und Journalismuskritik betreiben um ihn, salopp formuliert, in eine andere Richtung zu bringen; zugleich müssten die Leser aber das fördern, was sie für gut (also Qualität) halten (da sind dann Projekte wie die Krautreporter vielleicht kein schlechter Ansatz).
Die SZ schrieb übrigens von zwei Tagen (!).
Zur Balance: Es ist natürlich zunächst eine Unzufriedenheit. Aber inzwischen ist es mehr. Aus der Unzufriedenheit scheint eine Gewissheit zu werden. Das sind Erfahrungen, die sich da angesammelt haben. Da sind z. B. die Kriege und Kriegsinterventionen nach 1989, in denen »der Westen« seine »Werte« »verteidigt« hat (Irak/Kuwait; Jugoslawien; Afghanistan; aktuell: Ukraine). Nachträglich stellte sich die Situation wenn nicht als anders, doch zumindest als differenzierter und schwieriger heraus, als die Medien es transportiert hatten. Im Gegenteil: Viele Medien ließen sich in die Propaganda der einen oder anderen Seite einbinden.
Daraus entsteht am Ende bei vielen eine Abneigung gegen alles, was »Mainstreammedien« so publizieren. Und natürlich suchen sich dann Rezipienten erst einmal das heraus, was ihnen meinungsmässig nahe ist, da die Instanz nicht mehr existiert. Inzwischen gibt es ja auch für jede auch noch so krude Meinung genug »Experten«, die da mühelos etwas belegen. Das Problem ist aber hausgemacht: Durch die Eventisierung von Nachrichten und die ohne Not häufig vorgenommenen Verallgemeinerungen bleiben differenzierte Betrachtungen oft genug auf der Strecke. Zudem glaubt man, dem Zuschauer, Leser, nur ein bestimmtes Quantum an Fakten zumuten zu können. Journalisten neigen inzwischen auch dazu, ihre eigene Meinung zu verabsolutieren. Hinzu kommt das Gefühl, zu allem etwas sagen zu müssen. In einer Live-Schaltung mehr als 1x »Das weiß ich nicht« zu sagen, trauen sie sich nicht, also kolportieren sie ein Gerücht. Der Konjunktiv, den sie vielleicht noch verwenden, wird später dann in der Nachricht getilgt.
Ob »Krautreporter« die Lösung ist, wird sich zeigen. Zum einen muss der Rezipient in Vorlage treten, d. h. die Katze im Sack kaufen. Kann man mal machen. Dass da der Journalismus neu erfunden wird – das sehe ich noch nicht. Aber vielleicht irre ich mich ja.
Ja, der Experte, als Beleg sui generis, ist etwas Antidemokratisches, was gerade dann gebraucht wird, wenn es Einschätzungen abzugeben gilt, dann wenn eigentlich gar niemand weiß, wie sich z.B. eine Krise entwickeln wird. — Dass Unsicherheiten bei öffentlichen Personen zu selten Raum finden, hängt sicherlich mit dem Zwang zur »Vermarktung« zusammen, man möchte oder kann (?) nicht »schlecht« dastehen (im schlimmsten Fall geht man einfach nicht auf die Frage ein).
Inhaltlich stimme ich Dir, an dieser einen Ankündigung gemessen, was vielleicht ungerecht ist, zu. Ich dachte aber eher an das Geschäftsmodell, die Entscheidung des Lesers, was er für finanzierenswert hält; gefällt ihm die Richtung nicht mehr, dann hört er auf und leitet sein Geld zu anderen um (man müsste eine flatrate so ähnlich organisieren, dass jeder sein Geld auf bestimmte Medien aufteilt, nach einem Schlüssel den er selbst bestimmen kann; tut er das nicht, gibt es einen Automatismus; und die, die ohne hin nur ein Medium lesen wollen, wählen das klassische Abo).
Ich wende mich weniger gegen den »Experten« an sich, sondern an denjenigen (oder diejenige), die zum »Experten« ernannt wird, weil damit eine bestimmte Gesinnung verifiziert werden soll. Mit der »Expertenmeinung« soll dann das Urteil erhöht und als verbindlich dargestellt werden. Das, was dann nicht in das Bild passt, wird als »PR« oder sogar »Propaganda« weggewischt.
Zu den Geschäftsmodellen kann ich wenig sagen, aber von Gießkannenlösungen halte ich nichts. Am Ende wird es ein Bezahlsystem sein müssen, dass pro Artikel einen geringen Betrag (50 Cent bis max. 1 Euro) verlangt. Notwendig wäre ein einfaches System, dass praktisch mit einem oder zwei Klicks verbindlich wird. Dann taucht aber noch das Problem der Weitergabe auf: ein pdf beispielsweise kann ich unendlich oft verschicken.
Deswegen finde ich ein Gießkannenprinzip (mit Lenkungsmöglichkeit) gerade gut: Die Hürden würden zumindest für alle Beteiligten wegfallen. Aber egal wie die Lösung aussieht, Einfachheit ist entscheidend (und ein Preis, der es verschmerzen lässt, wenn man den einen oder anderen Text und aus Mangel an Zeit dann doch nicht liest).