Es ist noch eine der letzten Literatursendungen im deutschen Fernsehen: »Das blaue Sofa«, »von und mit Wolfgang Herles«. Herles befragt Schriftsteller zu ihren Büchern (daher das Sofa, das anfangs sogar zu allen möglichen und unmöglichen Orten – auf Kosten der Gebührenzahler – durch die Weltgeschichte geflogen wurde) und stellt dann noch ein oder zwei Bücher vor.
In der Sendung vom 24.10. auch Stephanie Barts »Deutscher Meister« (ab ca. 19:00). Herles liest einige wenige Zeilen aus dem Buch und lobt dann etwas mehr als eine Minute das Buch inklusive kurzer Nacherzählung des Inhalts. Dabei unterlaufen ihm massive Fehler. So schildert er wie Trollmann zu seinem letzten Kampf »mit blonder Perücke und weiß gepudert« erschien und sich »wehrlos bewußtlos schlagen« ließ, was Herles als »Provokation« bezeichnet.
In diesem Satz sind drei Dinge falsch. Zum einen färbte sich Trollmann die Haare blond und trug keine Perücke (»Deutscher Meister«, Seite 354). Zum anderen verwarf er ausdrücklich den Gedanken, sich mit Kolophonium die Haut weiß zu pudern (Seite 352). Und die »Provokation« bestand nicht darin, sich wehrlos zusammenschlagen zu lassen – das war ausdrücklich von den Nazis so »vorgesehen« und Trollmann durch »spezielle« Regeln oktroyiert worden. Das kommt im Buch ausführlich zur Sprache. Die »Provokation« bestand darin, dass er sich seine schwarzen Haare blond färbte und damit gegen den Rassenwahn der Nazis protestierte. Die Weißfärbung der Haut – in unendlich vielen Anekdoten und auch Filmen über Trollmann stets kolportiert – hat nach Recherchen der Autorin nicht stattgefunden.
So sitzt Herles also Irrtümern auf, die nur den einen Schluß zulassen: Er hat das Buch nicht zu Ende gelesen. (Wie auch Frédéric Schwilden von der Hamburger Morgenpost.)
»Ist das eigentlich nicht egal?«
»Nur weil er es lobt?«
»Es ist doch gleichgültig, ob er eine Perücke aufhatte oder sich die Haare blond gefärbt hat.«
»Der Sachverhalt selber ist für die breite Masse nicht wichtig. Aber hier geht es darum, ob jemand, der sich als Geschworener in Sachen Literatur an herausgehobener Stelle befindet, sein Handwerk seriös betreibt oder nicht.«
»Naja…«
»Diese Leute gerieren sich als Vermittler von Literatur. Literatur, die sie dann nur schlampig lesen. Man kann ihnen nicht trauen; sie sind Aufschneider.«
Ich bin zu dumm: der kleine Dialog im Nachwort, ‑ist das eine Anregung für Meinungsbeiträge?!
»Egal!«
Nun, dann gebe ich zu Bedenken: Literatur und Fernsehen sind sich weitgehend fremd. Man kann natürlich Autoren interviewen und Besprechungen durchführen, aber die beste Expertise kann man nicht erwarten. Sind Leseempfehlungen für’s Volk, stimmt! Kann man sagen. Dasselbe Niveau: Scobel’s Philosophie-Häppchen (sagt man nicht »Kanapee«, was wiederum »Sofa« bedeutet?!)
Es ist schwierig, das Verhältnis von Literatur und Gesellschaft kritisch zu deuten, weil die Verarbeitung in den Redaktionen und Werbe-Agenturen im wesentlichen dieses Verhältnis definiert. Das kann man nicht einfach umstürzen, das hat seine eigene beharrliche Realität.
Ich habe mich mal lange mit Stephanie Bart unterhalten, Jahre vor Veröffentlichung ihres neuen Romans, und ich hatte sehr schnell den Eindruck, sie weiß absolut, was sie da mit hohem Einsatz tut und was sie kann. Einer wie Wolfgang Herles, einer der Witzfiguren der Kritikerzunft, ist ihr da sicher piepegal. Unqualifizierter Blödsinn versendet sich sowieso. (Das ist überhaupt die Grundlage des TV-Geschäfts, egal was man tut, letztlich »versendet« es sich!) Was aber nicht egal ist, ist, daß da die (wenigen) Zuschauer für blöd verkauft werden, daß da ein viel zu gut bezahlter Moderator einfach mal mit dem Brustton der Überzeugung sozusagen falsche Werbung macht (wenn auch für einen guten Roman!), die ja zum einen von allen mit den TV-Gebühren bezahlt wird und zudem, weil die einflußreichen Verlage überall ihre Pfoten drinhaben, auch noch quasi einen gewissen Teil des Buchpreises ausmacht. Ließe man die Leser:innen ohne solche Buchbesprechungen »allein«, sie würden schon, da bin ich sicher, was zu lesen finden! Echte Buchbesprechungen allerdings, bei fixpoetry oder auch bei http://bersarin.wordpress.com/ weiß ich sehr zu schätzen, die im »Geschäftsbereich Buch« angesiedelten sollte man aber imgrunde ignorieren, denke ich.
@die_kalte_Sophie
Naja, der kleine Dialog sollte den üblichen Einwand entkräften. Ist wohl nicht so gelungen...
Ich sehr die Sache anders: Weder in der Werbung noch im überwiegenden Teil der Feuilleton-Rezensionen gab es diese Fehler. Das ist eigentlich ganz gut. Dass sich Fernsehen und Literatur nicht gut verstehen liegt womöglich nur an den Interpreten.
Norbert W. Schlinkert hat nämlich recht: Die Zuschauer werden für blöde verkauft. Und, was vielleicht noch schlimmer ist: Die Literatur wird an sich beschädigt. Solange solche Typen wie Herles darüber berichten.
Auf Pro7 oder RTL II würde die grobschlächtige Buchvorstellung kaum ins Gewicht fallen, oder?! Bliebe also nur die Frage: Warum im Ö.R.-Fernsehen...
Die Kultur-Themen sind eig. Sache der Sender 3SAT, ZDF neo, Arte & Co. Ich hab’ mir das nicht näher angesehen, aber vermutlich liegt auch hier kein ernsthaftes Interesse auf Seiten der Redaktionen vor. Schade. Nur noch im Deutschlandfunk gestaltet man ein hinreichend anspruchsvolles Programm. Ich fürchte, die Literatur hat einen Nischenplatz bekommen. Kann es sein, dass es gar kein breites Interesse daran gibt?
Es ist unredlich über ein Buch zu urteilen, das man nicht (zu Ende) gelesen hat, noch dazu öffentlich (wenn hier ohne weiteres ein Vorurteil zu erkennen wäre, könnte man es dabei bewenden lassen, aber es wird ja das Gegenteil vortäuscht). — Da geht es noch nicht einmal um Literatur.
Er tritt im Fernsehen auf. ’nough said? ’nough said!
(Ja, eigentlich »nough said’! Also auch von mir nur ein Sermon... )
Etwas aus der Reservatenkammer?
Dass jemand für ein Nacht- und Nischenformat die Standards nicht mehr erfüllt, wundert wohl noch: Er sollte sie ja gerade dort, wo er mutmaßlich auf eine geneigte und umso informiertere Zuschauerschaft stößt, erfüllen.
Aber dann wieder wundert es auch wieder so gar nicht. Vielleicht ist es aus seiner Sicht nicht einmal sinnvoll, ein Buch zu Ende zu lesen, das ihn selber nicht fesselt, sondern nur eine Info-Happen-Einheit in einem zu füllenden Format für ihrerseits unzuverlässige (oder gleich als zappende Quotenmasse betrachtete) Zuschauer darstellt? (Und die Geheimtipp-Masche, etwas abseits der medialen Trampelfade zu präsentieren, hat sich auch überlebt: Alles neben den einschlägigen Listen ist heute eine Minderheitensache, und die Minderheiten haben längst ihre spezielleren, also meist besseren Informationskanäle.)
Allerdings kommt es mir schon lange wenig sinnvoll vor, sich so etwas überhaupt anzusehen und auch noch zu kritisieren – der Standard ist es eben entsprechend niedrig, und die Routiniertheit uninspirierter Redakteure kennt man auch. Die müsste man eigentlich alle spätestens nach zwei Jahren austauschen. Alle Sendeanstalten und –formate kranken meiner Meinung daran, dass sie sich (nach dem Muster womöglich noch von Show-Mastern: munteren Wiederkennungs-Gesichtern) auf solche Festangestellten-Platzhalter verlassen.
Es gibt wohl Formate, in denen Literatur (noch) vorkommen kann, aber dann auch wohl besser nur, wenn sie selber spricht. Das Allermeiste sekundäre Sprechen über Literatur kann eigentlich nur dümmer als sein Gegenstand sein, und das ist ein Grundproblem. Auch Autoren, die zur Abverkaufshilfe hier als Gesichtshinhalter und dort als sprechende Porgrammpunkte auftreten, tun das fast immer nur unterhalb ihrer Möglichkeiten – also sollten sie es eigentlich gleich sein lassen.
Das schaffte aber nicht nur Distanz zur (längst als zu eigen-gesetzlich hingenommenen, und das heißt meist verfälschenden oder den Gegenstand gleich herabwürdigenden) Marktschreierei. Das zwänge dann auch die Vermittler zu einer anderen Arbeit: Weg von der Personality- / Home-Story zur „Substanz“ (if any), oder, pathetisch gesprochen, zurück zu irgendeiner Art „ästhetischen Erziehung“ oder dem Bemühen darum. (Aber die kann eben bei dauernd und überall als souverän Angesprochenen anscheinend nur noch als Zumutung erlebbar sein.)
Also muss unter Menschen alles und unentwegt besprochen werden – das macht ihnen scheinbar alles so leicht. Allerdings dann bald auch den einen oder anderen Gegenstand ihrer Adoration so nichtig.
Ich denke weiterhin, dass – außer da, wo es eben genuin Fernsehen ist (also etwa „live“ oder sonst wie als Spektakel) – Intelligenz in diesem Medium flüchtig bleiben muss. Oder man schaut dort Tier- und Naturfilme, in denen immerhin etwas bewahrt wird, das es vielleicht bald nicht mehr gibt.
Aber vielleicht trifft das ja auch auf Literatur zu. Schließlich steckt sie ja jetzt schon mehr oder minder in Reservaten.
Nein, dieses »nough said« akzeptiere ich nicht. Fast im Gegenteil. Pauschalurteile sind meistens falsch. Mit Wohlwollen interpretiere ich das »nough said« als Beschreibung. Aber selbst das rechtfertigt nicht so etwas. Zyniker mögen das achselzuckend hinnehmen. Oder man ignoriert bestimmte Personen, was ich normalerweise hier auch tue, aber da ich Frau Bart persönlich kenne und ein wenig die Entwicklung dieses Buches verfolgen durfte, hat mich das »Urteil« von Herrn H. einfach interessiert. (Etwas anderes habe ich von dieser Sendung nicht gesehen; dass man vorher etwas von diesem Bodo Kirchhoff mitbekommen musste, nehme ich als Kollateralschaden.)
Literatur kann im Fernsehen auch »würdig« dargestellt, von mir aus auch »abgehandelt« werden. Das ist nur eine Frage des Herangehens. Ich sehe nicht ein, warum es im TV nicht gehen sollte, was im Radio manchmal klappt. Es mag ja schick sein, das Fernsehen auf der untersten intellektuellen Stufe anzusiedeln, aber es ist eben auch oft nur aus Distinktionszwecken so und dann – pardon – ein bisschen zu einfach.
Ich habe mir übrigens gestern die Sendung im DLF oder DLR Kultur über Rainer Stach verkniffen; da ist auch so eine Nicht-Leserin dabei gewesen, die Bücher nach Waschzetteln bespricht. Das habe ich mir erspart, weil mir solche Leute nicht mehr die Zeit stehlen sollen.
@herr.jedermann
Nun ja, aber andererseits gehört zu dem Grundproblem auch, dass die Literatur geradezu verlangt, dass man über sie (sekundär) spricht (oder schreibt). Und abgesehen davon, bleibt man auch bei der Wahl seiner Lektüre auf andere angewiesen.
[Er schreibt? Im Netz? — Genug!]
In der aktuellen Ausgabe von »Volltext« ist eine Art Bestandsaufnahme der aktuellen Literaturkritik von Felix Philipp Ingold zu lesen: »Laienherrschaft – in Klagenfurt und anderswo. Zum aktuellen Status von Literatur und Literaturkritik«, Volltext Nr. 3/2014, S. 26 ff.), der auch auf die Methodik der Buchbesprechungen in den großen Feuilletons der Zeitungen eingeht. Auch hier trifft man auf Buchkritiken von Rezensenten, die das Buch nicht gelesen haben (können): »Beispielhaft dafür ist die staunenswert rasche und positive Rezeption, die neuerdings den tausendseitigen, durchweg schwarzmalerischen Großromanen von Wallace, Littel, Vollmann oder Nádas zuteilgeworden ist – Werke, für deren Lektüre man viele Wochen investieren müßte und deren Verständnis höchste kritische Anstrengung erfordert. Keiner der voreiligen Rezensenten kann diese Bücher gelesen haben, aber jeder hat sie gesehen, hat wohl die Verlagswerbung zur Kenntnis genommen, dann den Text vielleicht diagonal durchgenommen (mehr ist in so kurzer Zeit ganz einfach nicht zu leisten), und von diesen Eindrücken dürften die weitgehend übereinstimmenden Statements hergeleitet worden sein, die den ungewöhnlich sperrigen, in mancher Hinsicht provokanten Werken zwar in keiner Weise gerecht werden, sie aber vordergründig in der literarischen Landschaft verorten, will heißen – sie domestizieren und eben dadurch für den allgemeinen Geschmack vereinnahmen.« (S. 29 a.a.O.)
[Ich finde den Artikel,der inhaltlich weit über die zitierte Passage hinausgeht, insgesamt lesenwert, Ingold ist mir aber gerade am Ende vor allem in Bezug auf das Internet doch ein wenig zu skeptisch. Interessanterweise sind nämlich z.B. die Kritikerangebote im Internet für ihn offenbar auch keine echte Alternative. Er spießt beispielhaft eine Rezension aus einem ungenannten Lyrikportal im Internet auf: »Solcher Trash wird keineswegs nur via private Blogs verbreitet, sondern gehört zum gängigen Angebot führender Internetplattformen für … ja, eben speziell für Lyrik und Kyrikkritik.« Zum anderen will er die »trendbestimmte Belletristik« (er hat vorher die Abfassung von massengeschmackstauglichen Büchern konstatiert – Stichwort Schreibschulen Hildesheim, Leipzig-) »vollumfänglich den elektronischen Medien zuschlagen und das Buch exklusiv der Kunstliteratur«, denn »Elektronische Medien sind für Texte mit saisonaler Halbwertzeit, die man bestenfalls überfliegt und sicherlich kein zweites Mal lesen wird, besser geeignet«.]
Wolfgang B.
Vielen Dank für den Hinweis auf Ingold.
Vor Jahrzehnten wurde mal Karasek befragt, wieviele Bücher er lese. Ich glaube, er beantwortete die Frage mit um die 50. Das schien mir realistisch (alleine vom Zeitaufwand her); fast ein bisschen wenig. Das dürfte sich wohl geändert haben. Hubert Winkels hatte beim letzten Leipziger Buchpreis darauf verwiesen, dass man insgesamt rd. 400 Bücher gelesen habe. Geht man einmal von einem Zeitraum von 6 Monaten aus, dann wird deutlich, wie oberflächlich mindestens zum Teil die Lektüre gewesen sein muss. Selbst wenn sich die Juroren die jeweiligen Bücher in einer Vorauswahl aufgeteilt hätten, ist das sehr schwer nachvollziehbar, weil sie ja immer noch für ihre jeweiligen Arbeitgeber geschrieben haben.
Interessant ist, dass auch Ingold offensichtlich auf den Reflex »Netz = Oberflächlichkeit« zurückgreift. Das ist natürlich auch eine Bestandsaufnahme, die oft genug stimmt, aber eben in der Pauschalisierung ebenfalls Unsinn. Man sieht ja, wie auch anspruchsvolle Rezensionsportale, die keine Blogs sind (»Glanz und Elend«, »Literaturkritik.de«, »Literaturkritik.at«) beispielsweise in der Bewerbung von Büchern kaum eine Rolle spielen. Da sind »Für Sie« oder »Goslarsche Zeitung»eher Referenzmedien als die oben genannten, was natürlich Bände spricht (Bände?, naja, einen Band mindestens). (Das Kriterium steht zugegebenermaßen auf wackeligen Füssen, da »Für Sie« sicherlich griffigere Schlagzeilen liefert als »Glanz und Elend«. Aber es geht mir um die Rezeption dieser Kritiken – auch in den Verlagen. Sie werden kaum rezipiert bzw. gelten als exotisch; als »Werbemedium« taugen sie nicht.)
Solange also die zeitgenössische Literaturkritik nicht aus ihren Vorurteilskäfig heraustritt und bestimmte Entwicklungen zur Kenntnis nimmt, wird es keine Impulse geben. Aber vielleicht will man diese Belebungen gar nicht, fürchtet um die Pfründe, die kleine Parallelwelt, in der es sich einige wenige doch ganz heimelig eingerichtet haben.
@ G. K.
Doch, es ist so einfach – man denke auch an solche Effekte a la „simplify your life“. Und warum soll ich es mir nicht auch einfach machen dürfen, wenn praktisch das komplette Medium eine (damit übrigens böse Effekte in der angeblichen Realität erzeugende) Welt-Vereinfachungsmaschine ist? Würde ich weiter mit dem Unsinn ringen käme es mir persönlich vor, als scheute ich eine vernünftige Konsequenz. (Und „schick“ ist das nicht gemeint, ich würde mich auch gerne ab und zu mal gut unterhalten lassen! Dringend!)
Aber wieso sprechen Leute, denen ich gerne zuhören würde auch in den Nischen in diesem Medium nicht? (Oder eben nur in den Zweieinhalb-Minütern im Rubriken-Magazinen, deren „anmoderierende Laber-Gesichter allein eine Zumutung sind.)
Es läuft irgendwann auf die Frage hinaus, liegt es an denen oder liegt es an mir? Und da ich als Einzelner die radikalst denkbare Minderheit bin – und auch immer weniger „social“ – nehme ich das auf meine Kappe.
Und @ Mete:
Ich denke nicht, dass die Literatur überhaupt irgendetwas Sekundäres verlangt. Andere Sichtweisen darauf können wie immer weiterführend sein – müssen es aber nicht. Überspitzt gesagt: Mit zwei Lesarten (Bibel / Koran) ist immer gleich der Krieg in der Welt.
@ Wolfgang B.
Ingold fand ich auch lesenwert, obwohl ich nicht in allem einverstanden bin. Dass so jemand (dem man zutrauen kann, dass er weiß wovon er spricht) etwas anhaltend Diffuses zu durchdringen versucht und sein Urteil dann ausspricht, erlaubt zumindest so etwas wie eine kurzfristige Orientierung. (Und ich glaube, man muss nicht immer auf den Gegenreflex bestehen, nämlich auszusprechen, dass es wie immer und zu allem auch Ausnahmen gibt.)
Auch „Laienherrschaft“ – als Beschreibungsterm – trifft es sehr gut – und es meint damit auch nicht die Rückkehr zur Hoheit irgendeines Spezialistentums.
Aber überhaupt: Sind die „Vorurteile“ denn wirklich alle noch VOR-Urteile? Kann man etwas als ungeeignet Erkanntes im Gegenreflex als oberflächlich abtun bei Leuten, die doch meist zu den Gewissenhafteren gehören, die überhaupt dauernd suchen, nach ihrer Stimme, nach einem Aktionsumfeld für sich, nach einer Lösung zu sprechen und Relevanz oder auch nur im prekären Medientotalitarismus noch vorzukommen? Sind die alle nur beleidigt ob ihres Kompetenzverlusts? Ist den Kritikern den Grass zu unterstellen nicht auch etwas einfach?
Ein großer Teil des Problems ist, glaube ich, die längst hingenommene oder zu wenig befragte „Alternativlosigkeit“ unseres schönen bunten Spielzeugs Internet. Bringt nicht manchmal ein bisschen Distanz oder erst ein zeitweises Sich-Entziehen die verlangten Impulse oder gar Perspektiven?
Übrigens neulich mal wieder Borges gelesen:
Nichts arbeitet so sehr gegen Fixierungen wie Literatur!
@herr.jedermann
Einen Werbespruch wie »simplify your life« ist nicht repräsentativ für ein Medium (höchstens für eine Haltung einer Gesellschaft). Es so »einfach« zu nehmen, bedeutet genau das machen, was andersherum das kritisierte Medium andauernd macht: komplexes einzudampfen auf die schlichte Wahl »gut« oder »böse«, oder, um Reich-Ranicki zu paraphrasieren, »taugt es was oder nicht«.
Das machen ja auch diejenigen, die sagen, dass alles das, was im Netz über Literatur geschrieben steht, Müll ist. Das aktuelle Faktum, dass sich Literatur im Fernsehen ausgesprochen schlecht zeigt (euphemistisch formuliert), liegt nicht am Medium, sondern an denen, die es machen, die es reduzieren auf eine Häppchen- und Eventmaschine, weil sie glauben, dem Publikum könne man nicht ein- oder zweimal in der Woche zur besten Sendezeit mit anspruchsvolleren Sachen kommen. Der anspruchsvolle Leser ist schon dankbar, wenn Herr Scheck Bestseller durch die Gegend schmeisst; die Rache des Intellektuellen ist eben auch nicht besonders kreativ.
Die Leute, denen Sie gerne zuhören, sprechen im Fernsehen nicht, weil sie von anderen Leuten daran gehindert werden. Neulich habe ich beim Zappen auf SWR3 eine Sendung à la Literarisches Quartett gesehen. Dort sitzen vier Menschen und reden über Bücher. Es waren Scheck und Mangold dabei, die man großzügig noch als Kritiker einordnen könnte. Dann Frau von Lovenberg – da habe ich schon Zweifel. Und schließlich Christine Westermann – eine Frau, die Lebensratgeber schreibt und Boulevard-Sendungen moderiert hat. Sofort war mir klar, warum Scheck bei einer seiner Spiegel-Bestseller-Buchwegwerfaktionen ein Buch von Frau Westermann nicht mit Karacho entsorgt hat. So funktionieren die Händel. Wie weit aber eine Literaturkritik gefallen ist, die Christine Westermann als seriöse Kritikerin ansieht – das ist wohl eindeutig.
Insofern haben wir längst eine »Laienherrschaft«: Lauter Diagonalleser, die aus Proporz- oder sonstigen Gründen dort sitzen, »bestimmen« über die Schwerpunkte im Betrieb. Dort, wo es seriöse Literaturkritik gibt (ich rede nicht von Literaturwissenschaft) tummeln sich vielleicht 500 oder 1.000 Leser. Da kann man dann fast schon wieder die Fernsehmacher verstehen, dass sie für eine solche winzige Minderheit nicht einen großen Apparat aufbieten. Umgekehrt tragen sie natürlich damit dazu bei, dass aus den 1.000 in zehn Jahren 250 geworden sind, usw.
@herr.jedermann
Das hieße, dass sie eindeutig wäre und ich würde sogar sagen: belanglos. Oder?
@metepsilonema
Vielleicht nur intentionslos?
(Nebenbei wäre dann der Diskurs über Literatur sinnlos, weil irgendwie egal.)
@Gregor
Der Leser muss zu vielen literarischen Werken »einen Beitrag« leisten; aus diesem resultieren unterschiedliche Interpretationen und Verständnisse, u.a. auch, dass man ein Buch immer wieder in die Hand nimmt, das meinte ich.
Natürlich hat das nichts damit zu tun, dass man einem Publikum ein Buch vorstellen muss; auch die Bewertung berührt es nicht zur Gänze; aber es hat damit zu tun, das manche Bücher Jahrhunderte überdauern und immer wieder gelesen werden (und diskutiert).
@ Mete
Das kann man wie jede gute Wortverdreherei auch umkehren: Demnach wäre Literatur erst recht belanglos, wenn sie das notorisch nach Eindeutigkeiten verlangende Gerede über sich brauchte.
Aber im Ernst.
Es gibt (und es gilt mehr oder minder immer noch) seit Duchamp die Regel: Der Betrachter macht das Bild. Das war (und ist in seiner bis heute anhaltenden Wirkung, nämlich als erleichternder, das Werk letztlich obsolet machenden Gedanken) eine kleine Revolution.
Analog: Die Werbung ist die neue Kunst (Schirner). Jeder Mensch ist ein Künstler (Beuys). Der Hörer macht den Pop (Diederichsen). Der Leser im Lovely-Books-Klick-Club macht das Buch (die einschlägig interessierten Einflüsterer). Und der Konsument ist der Souverän (Media-Markt). Und so weiter.
Das stimmt zwar alles nicht, nichts davon, beschreibt aber die als heutig und irgendwie „demokratisch“ geltende Betrachtungsweise, die denen gut in den Kram passt, die von dem angeblichen Empowerment des Verbrauchers als Agent eines ubiquitär zu werden verlangenden Marktes profitiert. (Am besten in Form des demnächst sich auf die Kühlschränke und die Zahlungsvorgänge und die Gesundheitskarten ausdehnenden Netzes.)
Nur sind leider die allermeisten nachfolgenden Künstler-Verbraucher kaum auf der ästhetisch-inventorischen / „meta-ironischen“ Höhe eines Marcel Duchamps.
(Ich setze hier Kunst, weil sie es deutlicher zeigt als die langwelligere, noch unverdrossenere Literatur. Aber eigentlich sind beide schon sozusagen in einem neuen Aggregatzustand des Marktes – Stichwort: „Kreativ-Kapitalismus“ -, in dem dieser sich selber an die Stelle des „Werkes“ setzen will. Man denke hier auch an die „Geschäftsmodelle“ für den zur eigenen Ermächtigung aufgerufenen, de facto nur leider längst entweder prekarisierten oder eh zu alimentierenden Autor.)
Unterstellen Sie mir jetzt bitte nicht, dass ich im Umkehrschluss für die Rückkehr zum Genietum bin. Ich verweise lediglich (in diesem Beispiel) auf die bewährte Geschichte etwa der (von M. D. so zu ihrer Anschaffung genannten) „Netzhaut-Malerei“. Allerdings gibt es die nun mal seit Lascaux oder sogar früher. Sie sollte also als Kulturtechnik doch ihren akkumulierten Stellenwert für sich reklamieren dürfen und vielleicht doch nicht so einfach aufgegeben werden wegen ein paar ästhetischen Innovationen, einem Schub neuer Technologien oder (womöglich eben deshalb) daraus resultierender allgemeiner Erschöpfung. (So dann analog für die eh lächerlich behäbige, immer so schrecklich viel Zeit für ihre Umständlichkeiten brauchende Literatur: Sie kann meiner Meinung nach eigentlich gar nicht anders, als sich selber aus dem Gequatsche so weit es geht raushalten.)
Natürlich will auch ich nicht mehr ernsthaft dahinter zurück, aber ob die mit den Umstürzen der Moderne eingeführte Egalisierung von ästhetischem Ausdruck und den Kulturtechniken von dessen Behandlungen (bösartiger auch schon mal „Herunterdemokratisierung“ genannt) wirklich eine Errungenschaft ist, ist noch nicht entschieden.
@herr.jedermann
Die Literatur braucht das Gerede nicht, wie sollte sie auch, aber sie erzeugt es schon aus der einfachen Tatsache, dass Schriftsteller bewusst Leerstellen (jenseits der stets vorhandenen Uneindeutigkeit von Sprache) in ihren Werken anlegen (das zeigt sich auch daran, dass manche Werke ganz entgegen den Intentionen ihrer Schöpfer verstanden werden). Diese Leerstellen führen zu anderen Lektüreerlebnissen und ‑ergebnissen; erstaunt stellt man Differenzen fest, selbst wenn dieses oder jenes Werk nur zufällig erwähnt wird. Das hat nichts mit Demokratisierung, sondern mit Werkimmanenz zu tun.
@GregorKeuschnig, 27. Okt. 2014 um 8:34: Für den Verlag wird es bei der Werbung für oder vielleicht sogar bei den Folgeauflagen von ”Deutscher Meister« verkaufsfördernder sein, wenn sie sowas wie »empfohlen vom blauen Sofa« dranschreiben können, auch wenn der Moderator das Buch nicht oder nicht vollständig gelesen hat. Das wird dann aber keinen mehr interessieren, wer weiß. (Was für ein tolles Buch, möchte ich übrigens sagen, möge es sich gut verkaufen! »Goodbye Bismarck« steht auch noch auf meiner Liste.)
»Goslarsche Zeitung« als Empfehlung auf dem Umschlag ist fast schon ein wenig subversiv (und unter diesem Aspekt gleichzeitig auch sehr lustig).
@herr.jedermann, 27. Okt. 2014 um 9:48: Dass das Netz nicht alternativlos ist, sehe ich genauso, nur, wenn Ingold in seinem Artikel »in der alten Welt« der Literaturkritik Beispiel um Beispiel für die Laienherrschaft bringt und Unprofessionalität bei den Kritikern feststellt, sozusagen in seinen ‑gut begründeten Ausführungen- »keine Gefangenen« macht, dann müßte man eigentlich schon erwarten können, dass er in der Lage sein sollte, die zweifellos vorhandenen guten (Alternativ-)Angebote im Netz aufzutreiben, wenigstens ein paar. Aber für ihn scheint vieles rund ums Netz qualitativ nicht erwähnenswert zu sein oder wenn nur in einem negativen Sinne, was zu bedauern ist.
–
Nach dem Text von Ingold findet sich eine Besprechung von »Der Distelfink«, die fast schon ein Paradebeispiel für die von ihm bemängelte Literaturkritik sein könnte, denn sie kommt kaum über eine reine Inhaltsangabe und ‑besprechung des Buches hinaus (aber man ist ja schon froh, dass es nicht, wie beispielsweise in der FAZ von von Lovenberg (!), als ein »Meisterwerk« tituliert wurde).
Nur kurzer Einwurf: Hier der Text von Ingold.
Morgen mehr.
Herzlichen Dank!
Ein paar ungeordnete Bemerkungen zum Ingold-Text...
Ingolds Text unterscheidet sich in seiner Diagnosekraft kaum von dem, den er vor sechs Jahren publiziert hat, und der auf seiner Webseite ebenfalls zu finden ist. Am Rande interessant ist, dass seine – in nahezu allen Punkten m. E. richtigen – Diagnosen zum Zustand der Literaturkritik im allgemeinen 2008 ausgerechnet im »Perlentaucher« erschienen sind. Handelt es sich doch um den Aggregator, ja Verstärker der von Ingold gegeisselten »Laienherrschaft«.
Natürlich ist das alles längst heruntergebrochen auf das Niveau des Geschmackstheaters. Das fällt womöglich in Klagenfurt stärker auf, weil die Jury dort derart heterogen war, dass das gefälle besonders deutlich wird. Ingolds Hieb gegen die »Demokratisierung« (Botho Strauß paraphrasierend), die sich bspw. in solchen (tatsächlich lächerlichen) Aktionen wie dem »Publikumspreis« zeigt, ist ein bisschen wohlfeil.
Seine Diagnose hat aber auch Schwächen. So steht dort: Den einstmals dominanten Großkritiker hat ein Großaufgebot kleiner Rezensenten und Rezensentinnen abgelöst, die sich punktuell über saisonale Texte auslassen, aber nicht mehr bereit oder in der Lage sind, die Arbeit und Entwicklung eines Autors längerfristig zu beobachten und ihre Erkenntnisse in den kritischen Diskurs einzubringen. – Dieser Satz suggeriert das einstige Vorhandenseins eines Paradieses. Das ist aber bei genauer Betrachtung mitnichten so. Der gemeinte Großkritiker – es ist wohl bewusst im Singular geschrieben – ist unschwer als Marcel Reich-Ranicki erkennbar. Vergegenwärtigt man sich aber die Klagenfurter Auftritte von MRR (und nur die), so stellt man leicht fest, dass alles das, was Ingold am Status quo kritisiert, von ihm bereits vorgemacht wurde: Die Gleichsetzung von Autor-Ich und Erzähler-Ich; der Authentizitäts-Wahn; der Biographismus; die fehlende Auseinandersetzung mit der Ästhetik eines Textes, usw. Auch ein kleiner Rekurs in die Geschichte des Bachmannpreises hätte die Sache etwas entspannt: MRR (und einige andere) wollten hier die Jahre zuvor sich totgelaufene »Gruppe 47« bzw. deren Mechanismen wieder re-implementieren. Die Namenspatenschaft von Ingeborg Bachmann war seit jeher ein Etikettenschwindel.
Die Eventisierung der Literaturkritik ist nicht die Schuld die aktuellen Protagonisten. Diese re-agieren nur auf Mechanismen; müssen sich, wenn sie denn reüssieren wollen, den Gegebenheiten anpassen. Der einzige Vorwurf, den man ihnen machen kann, ist, dass sie es tun und zwar ohne nur ein Gran von Subversion zu zeigen. Aber wenn man erst einmal fest angestellt ist, fällt es schwer, subversiv zu sein. Das war aber übrigens auch noch nie anders.
Ein bisschen fransig wird Ingold, wenn er auf die Lyrik zu sprechen kommt und sich dem Meraner Literaturpreis widmet. Dabei fällt auf, dass er alle Namensnennungen vermeidet, was ich als ziemlich lächerlich empfinde, weil man es ganz gut herausbekommt (es geht um Thomas Kunst, Uwe Kolbe, Nikola Richter). Der »Phrasendrescher« ist Thomas David, der über John Banville in der NZZ schreibt. Das »Literaturmagazin« ist dann ein amerikanisches, in dem über William T. Vollmann räsoniert wird; es ist also kein deutsch(sprachig)es Phänomen. Am Ende wird die »führende Gedichtplattform« (dasgedichtblog.de) und eine Kritik von Paul-Henri Campbell sozusagen exemplarisch »Trash« genannt, um die elektronischen Medien pauschal zu diskreditieren. Ein schwacher Schluss, der sich in den Elfenbeinturm flüchtet. Immerhin.
Vielleicht sollte man zunächst einmal zwischen Literaturkritik und Literaturjournalismus unterscheiden? Dabei haben wir es dort lediglich mit einer Form von Berichterstattung (wie Sportberichte etc.) zu tun, wo die Schreiber als Hauptauftrag haben, für Quote zu sorgen. Im TV ist der Verfall gegenüber der einstmaligen redaktionellen Selbständigkeit am deutlichsten nachzuweisen – erinnert sich noch jemand daran, was die 3. Programme einmal waren? Heute entstehen die Sendungen alle nach dem gleich Verhaltenszwang: »Was interessiert unsere Zuschauer? Was mögen sie gar nicht? Etc.« Ich meine, vor einiger Zeit hat Misoga einmal gesagt, dass die Soziodemographie der Kultursendungen im TV gerade nicht durch Akademiker und Kulturbeflissene bestimmt sei. Entsprechend müssen die Moderatoren reden, die Themen ausgewählt werden, bildschirmflach müssen die »Besprechungen« sein. Ich meine, die Leute muss man machen lassen. Die Kritiker sind PR-Helfer der Verlage, bestsellerorientiert, führen die Schriftsteller in der Manege vor, entdecken nur, was sie entdecken sollen.
Anders die Kritiker in den »bedeutendenZeitungen«. Die müssen einerseits dem Zeitungspublikum gefällig sein, andererseits die eigene Reputation und ihren Rang im literarischen Betriebsmanagement verteidigen. Daher tendieren die Feuilleton-Schreiber zu Formulierungseitelkeit, zur Show-Kritik, zur Wichtigmacherei.
Insgesamt hat die Literaturkritik aber auch deshalb intellektuell aufgegeben, weil die Literatur selbst nicht mehr die Rolle spielt wie ehedem. Die »Großkritiker« wuchsen in Deutschland heran, als Bücher noch Fokuspunkte für die Debatten unter »gebildeten Menschen« waren. Hat nicht Bohrer neulich gefragt, wann denn zum letzten Mal ein Roman »skandalisiert« hätte? Das ist lang her, ebenso lang ist es her, dass Kritiker für wichtige Leute gehalten wurden. Das war ja seinerzeit epochemachend, wie die Schriftstellergruppe »47« quasi von den Kritikern übernommen wurde. Das ist vorbei — und vielleicht ist das gar nicht schlecht?!
Jetzt haben wir das Gegenteil – die »Laienherrschaft«. Auch da würde ich fragen: Muss das nur schlecht sein? Mir sind Laien, die vom Herzen weg über ihre erlebte Begegnung mit einem Buch schreiben, lieber als die professionellen Buchberichterstatter, die die Zeilen oder Minuten so hastig füllen, dass sich ihr Aufwand pro Stunde bloß rechnet. Lieber ein naiver Leser, der, ohne recht zu verstehen, wie und warum, im Faszinosum eines Buches versinkt, als das seminaristische Gewäsch von wackeren Doktoren der Germanistik. Die Literatur kann ja nur dann weiter gären, wenn ihr die natürlich aufmerksamen Leser nicht ausgehen. Die guten Leser, bei denen ein Buch zsozusagen innerlich laut wird, die sind ja das Pendant, das sich die Schriftsteller ersehnen, nicht die Karriere-Kritiker und Routiniers der eleganten Kurzkritik. Die sind nur Mittelsmänner – gerade in TV, Zeitungen und Magazinen haben wir da heute viel geflissentliches Kellnertum. Manche denken noch, sie nähmen große Positionen ein, wenn sie für FAZ, TAZ, ZEIT oder sonst was schreiben – sie sind aber nur noch Kellner. Wenn sie das Interesse an Büchern, die nicht ganz verkehrt sind, wieder wach kitzeln, sollte man schon dankbar sein. Wirklich bedauerlich, besser: beängstigend ist nur, dass diese Bücherkellner ganz und gar der Mut verlassen hat, etwas zu entdecken, was nicht vorher schon vom Verlag »groß angekündigt« wurde. Diese Fraternisierung mit dem Bestsellerbetrieb bis in die alleruntersten Stufen, ist letztlich eine wilde Ehe mit dem Marketing der Verlage. Aber »Kritiker« führen kaum aus dem Dilemma heraus, eher Leser und eher die Laienschar im Internet, wo ich – jedenfalls manchmal, hier (!) und dort – eher Leben spüre als bei den Berufsträgern des gewerblichen Lesens.
Sehr schöner Kommentar; besonders die Unterscheidung zwischen Literaturkritik und Literaturjournalismus gefällt mir. Wobei natürlich der Journalismus als Kritik auftritt, sich sozusagen mit falschem Zeugnis ausstattet und aufwertet. Die Camouflage findet hinter Worthülsen und persönlichen Geschmacksurteilen, die qua Autorität daherkommen, statt. So fliesst dann beides zusammen: Journalismus = PR-Mensch (zum Teil wider Willen) und Kritik mit einem Baukasten von Phrasen, die je nach Lage dann das Geschmacksurteil »begründen«. (Literaturwissenschaft zeichnet sich dann dadurch aus, dass sie auf Geschmacksurteile per se verzichtet.)
Natürlich wurde die Gruppe 47 irgendwann von den Kritikern »gekapert«. Jemand wie Handke hat sein ganzes Leben gegen diese Kasperle-Figuren gewettert; ohne Erfolg. Wenngleich mir dann Bohrer mal sagen soll, was »skandalisiert« bedeutet: Die künstlich erzeugten Erregungen über lächerliche Figuren wie Charlotte Roche? Oder der PR-mässig aufbereitete Coup gegen Walsers »Tod eines Kritikers«? Vielleicht Littells »Wohlgesinnte«? Die Bücher, die »Skandale« auslösten (Handke; Strauß; Kracht) wurden alle moralisierend, nie ästhetisch abgestraft. Eine Diskussion fand nicht statt – jeder, der »Partei« ergriff, wurde sozusagen aus dem Club der Buchkellner und Politdoktoren ausgestossen (bzw., im Fall von Kracht, sollte es). (Ich erinnere mich einen Text Bohrers zu Handkes Jugoslawien-Engagement, der absolut unleserlich und unverständlich war; so fürchtete sich Bohrer vor einer zu eindeutigen Parteinahme zu Gunsten des Schriftstellers).
Bemerkenswerte Beiträge, herzlichen Dank von meiner Seite. Die Sezession von L‑Kritik und L‑Journalismus kann ich gut nachvollziehen. Mir scheint sogar, Literatur und Kritik verändern sich parallel. Einige Autoren suchen bewusst Distanz zum Meinungs-Integrationsapparat aka »freie Presse«, und einige Kritiker gewinnen aus analogen Erfahrungen ein neues Berufsimage. Qualität und Ästhetik sind die zentralen Motive. Was mir fast überkommen erscheint: der Begriff der Kritik selbst wird obsolet, wenn pädagogische & repräsentative Aufgaben wegfallen. Das erste Ersatzwort, das mir eingefallen ist, lautet: Compagnon. Diese Gefolgschaft, die man früher Kritiker nannte, führt mich zu der Formulierung »Literatur & Co.«.
Wenn ich an Eduard Hanslick denke, ein Art Großkritiker der Musik (späteres 19. Jhd.), dann steht zu vermuten, dass in die öffentliche Kritik wie sie in den Zeitungen geäußert wurde und wird, immer auch persönliche Urteile einfließen (die Zustände heute mögen speziell sein, Hanslicks Urteile über die Musik Bruckners, Mahlers und Wagners [den er teilweise auch wohlwollend besprach] sind dafür Beispiele [bei Wagner mag hinzukommen, dass Hanslick eine jüdische Mutter hatte]; Brahms, dem er freundschaftlich verbunden war und dessen musikalische Richtung er bevorzugte, hatte einmal gemeint man könne seine Kritiken auch umgekehrt lesen). — Rechtfertigung ist das keine, aber sicherlich eine Bestätigung der Unterscheidung die Fritz oben getroffen hat (wobei Journalismus schon einen Anspruch beinhaltet, aber eben keinen wissenschaftlichen).
Interessant ist die konservative Wende am Schluss: Ob ich den Kohlhaas auf einem Ebook-Reader lese oder auf Papier ist hinsichtlich der Kriterien, die er für eine zurückgezogene und genaue Lektüre anführt, egal. Und seine Forderung nach experimenteller bzw. innovativer Literatur könnte sich gerade auf neuen Medien erfüllen (zumindest ist fraglich warum neue Formen gleich indirekt Abrede gestellt werden sollten; Beispiele dafür gibt es).
Ökonomisierung und verwandte Begriffe kommen überhaupt nicht vor, was mich ein wenig verwundert, denn die Literatur und ihre Kritik sind ja in gesellschaftliche Entwicklungen und Kontexte eingebettet; vielleicht rührt daher der (im Raum schwebende) Eindruck einer »Verschwörung« von Kritikern, Laien und Autoren gegen die Literatur.
Ich möchte gar nicht in Abrede stellen, dass das allermeiste stimmt, was in dem Text angeführt wird, aber, wie das auch Fritz schon anspricht: Es gibt doch eine Menge Leser, die Literatur schätzen und ein intuitives Gefühl für Sprache und Texte haben und die sehr viel lesen; das mag ein eher emotionaler, eben: Bücher sprechen lassender Zugang sein, aber den sollte man nicht gering schätzen (das sind Leute die sehr wohl über Bücher sprechen und sie beurteilen können, sie haben halt wenig Interesse an formalen Analysen, aber es sind ja auch Laien).
Ich möchte mal »Danke!« in die Runde für diese (wieder einmal) interessante Diskussion sagen.
Nach DER AUFSCHNEIDER kommt jetzt DER ABRECHNER.
Oder wie sollte man den Aufsatz von Ingo Meyer betiteln?!
http://www.klett-cotta.de/media/14/mr_2014_11_0965-0979_Ingo_Meyer_Niedergang_des_Romans.pdf
Liegt schon auf meiner Festplatte; muss ich noch lesen. Generell sind Texte über den Niedergang des Romans aber irgendwie nicht so ganz originell, oder?
Stimmt. Ist ein Klassiker der Erbauungskritik.
Der Text ist eine Diagnose, keine Abrechnung, mit einem ähnlichen Resümee wie schon zuvor, einer Ausdifferenzierung und Verstärkung der Bindung der Autoren an ihr Publikum; an ästhetischer Neuheit bestünde daher wenig Interesse.
Es lässt sich kaum von der Hand weisen, dass die meisten neu erscheinenden Romane alten Pfaden folgen, zumindest ist das ein Eindruck, den ich selber habe, bei einer zugegebenermaßen sehr eingeschränkten Stichprobe. Andererseits frage ich mich manchmal, ob man einem Werk mit einer Erwartung von ästhetischer Neuheit gerecht werden kann, das so etwas gar nicht anstrebt (wobei Meyer durchaus zu Konzessionen bereit ist und handwerkliches Können goutiert). Hinzu kommt, dass die Sondierung der gegenwärtig vorliegenden Werke nicht abgeschlossen ist und der Vergleich mit vergangenen Epochen (oder Zeitabschnitten) daher schwierig bleibt (wobei die Menge der Neuerscheinungen kaum mehr zu überblicken ist).
Ein wenig erinnert er mich mit seiner Betonung formal-ästhetischer Neuheit an Adorno (hier zeigt sich, er spricht das auch an, eine gewisse aber keineswegs eindeutige Diskrepanz, zwischen der Mehrheit der Leser, ihren Gewohnheiten und Vorlieben und ebendiesem Anspruch; da kann ein Autor schon hin- und her gerissen sein; interessant wäre, ob ästhetische Erneuerungen immer bewusst und um ihrer selbst Willen »entwickelt« wurden, wie man das, der Betonung dieser Forderung folgend, annehmen möchte).
Danke @metepsilonema. Andere sind eingeladen, den Meyer-Beitrag auch zu kommentieren. Meine Stellungnahme folgt noch; habe erst quer gelesen.
Noch ein paar Bemerkungen, diesmal zu Ingo Meyers Roman-»Sondierungen«
Das ist ein kerniger Text, der dem Autor in den entsprechenden Kreisen bestimmt ganz viel Schulterklopfen einbringt. Die Romandefinition bleibt schwammig, wird anhand zweier Entwürfe vorgenommen, die von zwei zeitgenössigen Kritikern stammen (wobei Drews ja bereits – leider – verstorben) ist. Da ist von einer Wirklichkeitssättigung die Rede und am Ende geht es um »Totalitätsrepräsentation«. Zieht man diese Kriterien für den »Roman« heran, so wäre tatsächlich ein krisenhafter Befund vorprogrammiert, denn wer maßt sich heute noch an, die Welt sozusagen »abzubilden«? Meyer nimmt in seinem Befund nun Texte auf, die dezidiert nicht als Romane gekennzeichnet wurden (Handkes »Pilznarr« und Grass’ »Im Krebsgang«). Andererseits übernimmt er die Rubrizierung der Verlage, die auch 200 Seiten-Erzählungen zu Romanen aufplustern um damit – ja was eigentlich? Dem Publikum die Totalität der Welt zu suggerieren?
Meyers Urteile sind zum Teil harsch. Bei Grass werden die autobiographischen »Romane« schlichtweg ignoriert und Reich-Ranickis Diktum weitergesponnen. Grass sei seit einem halben Jahrhundert »kein ästhetisch relevanter Text mehr gelungen«. Auch Martin Walser bekommt seine Watschn; neben dem Altherrenvorwurf wird Walsers »Ahnenpflege« kritisiert. Überraschend gut kommt Paul Nizon weg; die Manierismen, die Meyer bei anderen Autoren gerne bereit ist zu entdecken, übersieht er hier. Hart auch sein Urteil über Juli Zeh, deren allgegenwärtiges Aktivistentum mit einem Wunsch verbunden wird: « Bleibt zu hoffen, dass in Zukunft möglichst wenig Zeit für fiktionalen Ausstoß bleibt.«
Meyers Bewertungen erscheinen eher willkürlich. Mal beklagt er Zehs politisch korrekte Plot-Konstruktionen, die ohne Sprache daherkommen (man könnte auch einmal untersuchen, warum eine solche Autorin den »Thomas-Mann-Preis« bekommt), dann wiederum lobt er Clemens Meyers’ Blick auf die »subproletarische« Unterwelt Leipzigs. Mal führt er die Feder gegen die »anachronistische Attitüde des Erzählens« (»Der Turm«), dann wiederum vermisst er genau das und ist verwundert, »dass heute kaum noch der Mythos adaptiert oder erfunden wird«. (Vermutlich hat er etliche Bücher des Ahnenpflegers [!] Peter Handkes nicht gelesen; entweder weil dort die Gattung »Roman« nicht erwählt wurde oder weil es einfach zu anstrengend war.)
Alles, was nicht in Meyers These passt, wird ignoriert. Kein Stephan Thome, kein Ulf Erdmann Ziegler, Christian Kracht oder Michael Kleeberg. Oder wie wäre es mit Gertrud Leutenegger, Christopher Ecker, Reinhard Kaiser-Mühlecker oder Esther Kinsky? Nein, natürlich nicht. Stattdessen wird Charlotte Roche zur satisfaktionsfähigen (weil hier aufgenommenen) Schreiberin und als Symptom für – den »Niedergang« des Romans genommen? Oder vielleicht nur zum Niedergang der Literaturkritik, die solches hypt? Ach nein: »Die Reflexion der Form bleibt Sache von Philologie und der vergleichsweise begrenzten Öffentlichkeit professioneller Kritik«, denn, so wird nonchalant festgestellt, das Netz »hat keine neuen Kriterien gebracht, sondern das Niveau im Gegenteil abgesenkt.«
Was aber, wenn die »Reflexion der Form« durch die Kritik immer mehr ausbleibt, wenn sie am Ende verschwindet zu Gunsten von Kriterien, die fast nur noch im außerliterarischen Bereich liegen (Biographie des Autors; Plot / Thematik; Gesinnung)? Wäre der »Niedergang des Romans« nicht auch eine Folge von einem Niedergang der Kritik, die, statt ihrer Aufgabe gerecht zu werden, unterschiedslos Texte miteinander in Bezug setzt – wie am Ende Ingo Meyer auch?
»Die Romandefinition bleibt schwamming« war auch mein Eindruck. Das trifft es ganz gut.
Ich muss zugeben, dass ich bei einem solchen Generalthema nicht wirklich mitreden kann, weil ich nicht so viele neueste Bücher gelesen habe bzw. ständig verfolge. Ich empfand den Beitrag allerdings merkwürdig doppelzüngig, weil Meyer auf der einen Seite das Reflexionsniveau historisch ganz hoch einpflockt, auf der anderen Seite dann aber vor allem mit Schmiss eine geschmäcklerische Predigt vorgetragen wird, der die historische Reflexion eher fehlt, insofern er die beklagte Malaise so sehr an schreibenden Personen festmacht. Denn irgendwie scheinen diverse Schriftsteller schuld zu sein, dass dem Meyer die Bücher alle nicht mehr gefallen.
Ein britischer Schriftsteller (Name vergessen) hat neulich ähnlich über das »Verschwinden des Romans« geklagt – das ist um eine entscheidende Nunace etwas anderes als ein »Niedergang« – und landete dementsprechend bei dem Problem, ob dem anspruchsvollen literarischen Roman die Leser entfliehen? Wenn man so will, sprach dieser Romanschrifststeller also vom Niedergang der Romanleser (was meiner Meinung nach einiges für sich hat, z.B. dass die Masse der Leser und selbst diejenigen, die zu den Konsumenten von Buchpreislistenware zählen, zur Sprachlichkeit der Sprachkunstwerke kaum mehr äußern können, als das, was das Werk bei ihnen an spontanem Empfinden ausgelöst hat (»echt lustig«, »super toll geschrieben«, »mag ich gar nicht, der/die schreibt so komisch«, »echt geile Formulierungen« etc.)).
Bevor man da in Apokalyptik verfällt, müsste man aber klären, wann denn »peak novel« gewesen wäre? Ich weiß es nicht. Das 19. Jahrhundert hat doch, jedenfalls im deutschen Sprachraum, kaum mehr als ein Tischregal an nennenswerten Romanen hinterlassen. Gerade bei Betrachten der deutschen Literaturgeschichte meldet sich zu dem die Frage, ob ein Roman nur dann ein »großer« Roman wäre, wenn er den Bataillonen von Schreibern ästhetisch voraus marschiert? Ich habe Zweifel daran, dass in der Ästhetik eine Fortschrittslogik gelten müsste wie in der Technologie. Die Disruptionsforderung hat sich in der Ästhetik eigentlich tot gelaufen (wenn nur einmal die Romane sich »klanglich« halb so breit auffächern würden wie die Musik!). (Insofern war ich unendlich dankbar für Michaels Fehrs Erscheinen beim diesjährigen Bachmann-Preis, der wie lange keiner mehr auch tatsächlich mit der Kunst befasst war, schon im Video-Porträt »oder vielleicht das Wunder der Fähigkeit zur Artikulation ... und daraus Repitition, Variation ... und daraus eine existenzielle Geschichte mit einer gewissen Musikalität ...«)
Und die nächste Frage wäre, ob es denn jemals eine so große Dichte an Meisterwerken gegeben hätte, dass alle naslang die Buchhandlungen von bahnbrechenden Novitäten zugeschüttet worden wären? Sicherlich, im Rückblick hat die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Menge zu bieten. Vielleicht war das eine besonders reichhaltige Zeit ... aber es war auch eine Zeit, in der die Schriftsteller noch nicht mit so viel Distinktionswahn behaftet waren. Es reichte fast, auf der Höhe der Zeit zu sein und entweder einen Trick erstmalig anzuwenden oder ein fantastischer Stilist zu sein, dann bekam man schon genug Aufmerksamkeit, um noch heute etwas zu gelten. Aber war nicht auch schon seinerzeit vieles epigonal?
Und noch ein Gedanke: Welche Bücher, die heute geschrieben werden, auserwählt sind, noch in 50 oder 70 Jahren von jemandem zur Hand genommen zu werden, deren Autoren und Titel man dann noch kennt, das entscheiden eben weder die heutigen Autoren noch die Kritiker noch die heutigen Leser, sondern vor allem wohl die Leser des Jahres 2090. Was das wohl für Leute seinwerden! Vielleicht haben die ja wieder so viel Muße zum Lesen wie mittelalterliche Mönche? Vielleicht sind die nur mit seltsamsten, schwierigsten, tiefsten Büchern zufrieden? Oder gibt es dann nur noch so viele Romanleser wie heute Lyrik-Leser? Ist die Buchmesse dann eine Messe für Entainment Media & Content-Brokerage, und in einem Seitengang noch ein paar kleine Kabuffs, in denen Romane feilgeboten werden? Und im Merkur schreibt dann ein Ingo Meyer etwas über den Niedergang des großen Computerspiel-Epos ...
Something is happening and you don’t what it is, do you, Mr. Jones?
Der Text hiess »Der Roman ist tot« und war von Will Self. Mit einer ähnlichen Toterklärung hat ja schon einmal im 19. Jahrhundert ein Philosoph beträchtlichen Nachruhm geerntet – da kann man vielleicht nicht widerstehen. Self ging vom gegenseitigen Auslöschen aus: Sowohl der anspruchsvolle Roman wie auch der anspruchsvolle Romanleser sind Relikte einer vergangenen Zeit (auch hier ist natürlich die digitale Revolution schuld).
Der Hinweis auf den Leser von 2090 finde ich sehr wichtig. Denn wenn man die inzwischen kanonisierten Literaten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts Revue passieren lässt, dann zeigt sich in sehr vielen Fällen, dass es erst über den Nachruhm funktionierte. Man muss nicht auf den ewigen Kafka kommen; die Beispiele dürften sich beliebig erweitern lassen. Umgekehrt ist es schwieriger: Welche damals arrivierten Werke sind heute längst vergessen?
Ein m. E. sehr wichtiger Grund für die permanenten Leichenreden auf die Literatur durch die Kritik und/oder Literaturwissenschaft liegt auch in der narzisstischen Kränkung der Sekundärtexter, dass ihre Schreibereien in 50 Jahren mit allergrößter Sicherheit keinerlei Spuren mehr zeitigen werden. Bei den Schriftstellern ist die Sache dagegen nicht ausgemacht, was diese mindestens hoffen lässt.
Meyer, Ingold, Self – und alle Literaturbetriebsprofis, die sonst noch in das Horn des »Frühee war alles viel früher« blasen, machen auf mich immer den Eindruck, als gehe es wirklich nur um Abgrenzungsrituale und Status-Panik. Deswegen gab es ja auch zur Buchmesse wieder die Artikel, in denen Literaturkritiker schreiben, auf welchen wichtigen Parties sie gewesen sind. Unsereins wird da natürlich nicht eingeladen – und das ist dann der Unterschied zwischen Profis und den HoiPolloi.
Aber die Schlacht ist einfach geschlagen: Gerade in der Literaturkritik ist die Bedeutung des klassischen Kritikers bzw. der klassischen Rezension vorbei, stattdessen hat das Internet, das ja gerade an passionierte LeserInnen unglaublich viele Angebote macht, die eigenen Erfahrungen und Leseeindrücke zu veröffentlichen, so eine Art »level playingfield« etabliert. Es gibt Amazon-Rezensenten, Blogger und LovelyBooks-Mitglieder, deren Bedeutung für den Verkauf und die Verbreitung eines Buches gleich und teilweise sogar höher ist als die der journalistischen Rezensentenschar. Das Internet vereinfacht natürlich auch den Qualitätsvergleich zwischen den Profis und der Laienkritik – und löst damit die Unterscheidung de facto auf. Da stehen wir aka der auch an der Reflektion des eigenen Lesever- und missvergnügens interessierten Teil der Menschheit aktuell. Wie das sich weiterentwicklen wird, weiß keiner. Aber meine Vermutung: Leser- und Blogger-Beschimpfung wird die klassische Kritik nicht retten. Und das Reflektieren wird wieder eine Tätigkeit von Gentlemen and ‑women, die sich die Muße nehmen, über das, was sie lesen, zu schreiben. Innerhalb von Kreisen von Gleichgesinnten. Organisiert im Internet.
Bei Ingo Meyer würde ich ebenfalls die Doppelzüngigkeit kritisieren, denn (wie Iversen bereits anspricht) er erhitzt damit nur die Kartoffel, welche dann hastig herumgereicht wird. Leser?! Rezensenten?! Junge Autoren?! Alte Autoren?! Irgendwer muss ja am Niedergang Schuld sein...
Der letztlich nicht zu beweisen ist, –und das aus ganz anderen Gründen als die Anti-These (von Gregor) bezeugt.
Der Roman als Kunstwerk (korrigiert mich!) ist schlecht definiert, da er aus der Unterhaltungsbranche stammt. Deshalb kann man eine Übertreffung des Gewöhnlichen nur mit POSITIV-Beispielen belegen. Nach unzählig vielen Jahren der Lektüre, mittels einiger intellektueller Anstrengung, mag es dann so scheinen, als ob auch die Umkehr der Argumentation Sinn macht, aber...
Das ist nicht der Fall.
Wenn man über die heutige Zeit aber sagt: es gibt nur wenige beachtliche Romane, dann liegt man sicher richtig. Aber das ist nichts Neues!
P.S.: das Nabokov-Zitat war geil,– in der Hand zerreiben, um den Duft wahrzunehmen...
»Der Roman als Kunstwerk (korrigiert mich!) ist schlecht definiert, da er aus der Unterhaltungsbranche stammt.« – Schlecht definiert würde ich nicht sagen, sondern eher unglaublich weit definiert, weil es schon immer die Definition für erzählende Texte war, die man sonst schwer zuordnen konnte. (So jedenfalls der Tenor in meinem Germanistik-Studium). Alle Versuche, da definitorische Präzision rein zu bringen, sind an der Empirie zerschellt, so scheint es mir. Roman als Paradedisziplin des bürgerlichen Zeitalters macht halt genau so lange Sinn, wie es ein bürgerliches Zeitalter gibt.
Wer sich nochmal in die Komplexität der Roman-Definition – und überhaupt der Gebrechlichkeit aller literaturwissenschaftlicher Begriffsbildung – einlesen will, dem kann ich den Wikipedia-Artikel zu Roman empfehlen. Der ist umfassend und sehr ordentlich: http://de.wikipedia.org/wiki/Roman
Als die Zeitung als Massenmedium aufkam, wurde aus dem Roman eine (triviale) Fortsetzungsgeschichte, zumeist als Liebesroman. Das hielt sich bis weit ins 20. Jahrhundert (hat die FAZ noch ihren täglichen Roman?). Die Bedeutung als literarische Gattung, die sozusagen eine Welt verdichtet, kam erst später, lief dann aber parallel. Bis heute ist das nicht ausdifferenziert. Der Glaube der Verlage am Etikett »Roman« speist sich aus der Bedeutung als reines Unterhaltungsmedium: er verspricht kaum bis wenig experimentelle Elemente, also konventionelles Erzählen und einen Plot mit einer am Ende abgeschlossenen Handlung. »Erzählung« als Gattungsbezeichnung gilt als eher abschreckend; daher ist alles »Roman«.
Den Gedanken, den Roman ausschließlich an Positiv-Beispielen festzumachen, finde ich sehr interessant. Schon aus dem Grund, weil es immer mehr schlechte als gute Beispiele geben wird. Meyer favorisiert ja Nizon und Schimmangs »Das Beste, was wir hatten«. Interessant ist, dass Meyer im Zusammenhang mit Schimmang andeutet, dass eine gewisse Erfahrungswelt beim Romanschriftsteller nicht falsch sein könnte...
Es gibt einige Repliken auf Meyer. Im Merkur-Blog hat Dominique Sylvestri ihre/sein (?) Bedenken sehr schön dargestellt http://web.archive.org/web/20141108005446/http://www.merkur-blog.de/2014/11/kommentar-zu-ingo-meyers-niedergang-des-romans/
Auch die Kommentare lesen, die sind hier sehr gut! Meyer antwortet.
Dirk Knipphals von der TAZ schreibt in seinem eigenen Blatt eine weitere Replik: http://www.taz.de/!149243/
Danke für den Hinweis. Haben meinen Senf auch bei Meyer gepostet.
Ergänzung: zur Definition des Romans, besagter Schwammigkeit und kultur-immanenter Flexibilität vergleiche folgende (wie ich meine) hoch interessante Einlassung von Jörg Lauster,
von der »Erfindung des Romans aus dem Geist der Puritaner«.
Lesbar als Leseprobe bei BECK
https://web.archive.org/web/20150606111116/http://www.chbeck.de/fachbuch/zusatzinfos/Leseprobe_die-Verzauberung-der-Welt.pdf
Hier ist nochmals Herr Meyer – ganz schwach, übrigens (mp3; 8 Min.).
Jesses – schaue gerade 3Sat, der fährt der Wolfgang Herles durch Los Angeles und »interviewt« amerikanische Schreiber, so auch James Ellroy. Der arme Kerl – musste sich mit Wolfgangs Fragen auseinandersetzen, die immer etwas Naiv-Vorwurfvolles hatten. Er musste sich rechtfertigen, warum fiktive auf reale Charaktere prallen, warum Bette Davies mit einem Killer schläft usw. und warum er, James Ellroy, sowas »tut«. James Ellroy wird sich auch gedacht haben, was da an fassadenhafter Pseudo-Tiefe über den großen Teich schwappt.