oder: Leben mit 00
Jeder, der etwas hat oder hatte, sagen wir, einen Partner aus einem anderen Land, eine Krankheit, ein bestimmtes Alter, ein Kind, mehrere Kinder, Zwillinge, Fünflinge oder kein Kind, einen Beruf, egal welchen, keinen Beruf, keine Arbeit, die Ernährung umgestellt, früher eine andere Heimat, einen Kurs gemacht, eine Sportart ausgeübt, einen toten Verwandten, Geschwister oder keine Geschwister, Adoptivkinder, Stiefkinder, keine Eltern, kranke oder böse Eltern, mehrmals geheiratet, eine Sucht oder den Tod überwunden, alles verloren, einen Suizidversuch überlebt, ein Vermögen oder eine Reise gemacht, einen Geist gesehen, mit Toten gesprochen; wer im Krieg war oder jemanden kennt, der im Krieg war, wer ausgewandert oder zuhause geblieben oder von einer Krankheit genesen oder älter geworden ist; wer einen Angehörigen hat, der irgendetwas hat, hatte, getan hat, tut, ist oder war, schreibt darüber ein Betroffenheitsbuch (...). Oder zumindest ein themenbezogenes Kochbuch.
Damit man einerseits das eigene Problem rasch im Regal findet und andererseits sich auch mit jedem beliebigen Nachbarproblem identifizieren kann, tragen diese Bücher immer dieselben Titel:
Leben mit 00
Leben ohne 00
Leben trotz 00
00 überleben
Weiterleben nach 00
00 und ich
Ich allein gegen 00
Tabu 00
Warum über 00 immer noch geschwiegen wird
Das Schweigen brechen! 00
Eine Abrechnung mit 00
Das unterschätzte 00
00 geht alle an (auch wenn nur ich 00 habe)
00 steht als Platzhalter für den Namen einer Krankheit, eines Zustands, eines Umstands, eines möglicherweise durchaus schwammigen Schicksals, denn selbstredend steht in jedem dieser Bücher auch irgendwo: jetzt, da es endlich einen Namen hat, bin ich erleichtert, denn nun nehme ich mich selbst ernst! Ja, inzwischen schreibt jeder, der irgendeine Erfahrung gemacht hat, jeder, der recht eigentlich untot ist, ein solches Betroffenheitsbuch. – Aus: »Leben mit 00. Betroffenheitsliteratur«, unveröffentlicht, 2008.
Ich habe schon immer damit geliebäugelt, einen Ratgeber zu schreiben. Es gibt 49 Konflikte, zu denen ich kraft meines Erfahrungsschatzes und Grössenwahns schon in meinem zarten Alter Ratgeber verfassen könnte – wie also jeder eigentlich. Das Elende am Roman ist ja dies: er verlangt, dass zumindest eine Hauptfigur einen Konflikt hat. Dabei wünsche ich mir und diesen Hauptfiguren im Leben, Lesen und Schreiben nichts als Sorglosigkeit. Die Konflikte machen mürbe und müde, sie ziehen runter und sind zumeist auch an den Haaren herbeigezogen, denn es gibt bei genauer Betrachtung nicht allzuviele Konflikte, die wir uns nicht selbst zuzuschreiben haben und die nicht von selbst abserbeln würden, wenn wir sie nur nicht mit unserer vollen Aufmerksamkeit fettmästen würden (selbiges gilt für die Romanprotagonisten). Als Konsument und Produzent von Geschichten will ich das Happy End! Nichts dagegen, dass am Ende alle tot sind, im Gegenteil!, aber glücklich sollen sie untergehen. Nichts schlimmer als eine lektüregetriggerte Tragödiendepression ... Noch grauenhafter, ja schluddrig, sind die heute so gefeierten »offenen Enden« – sowas macht mich massiv ranzig. Nein, als Leser will ich sicher nicht »selbst die Geschichte zuende denken«, nein, ich will nicht noch wochenlang darüber nachgrübeln, ich will einfach präzis wissen, wie die Geschichte ausgeht, Punkt. Das gehört verdammtnochmal zuoberst ins Pflichtenheft des Sängers, auch wenn ein paar lose Fäden kaum zu vermeiden sind.
Deshalb wäre es so attraktiv, einen Ratgeber zu schreiben. Er besteht aus einer knackigen Exposition, in der man den Leser zur Schnecke macht und ihn gleichzeitig im Geschnecke bestärkt (»Kennen Sie das? Sie sind nicht allein!«), sowie aus einem einzigen episch langen Happy End, ganz ohne die Mühsal eines vielfach mäandernden »Mittelteils«. Konflikt und Tragödie sind nicht IM Buch, sondern outgesourcet, im Leser!
Aber das Geilste daran kommt erst noch: ein Ratgeber muss und darf nicht funktionieren, sonst wäre er der letzte seiner Art, und das will niemand. Die Ratgeberautoren würden nicht ihren Goldesel schlachten. Die Leser solcher Bücher würden ihren Konflikt um keinen Preis hergeben, sie wollen sich doch vielmehr daran festbeissen. (Ich muss es wissen, ich habe ein paar Ratgeber gelesen.)
Noch ein Geilstes daran ist, dass Ratgeberautoren eine Stange Geld verdienen, wenn sie es nicht allzu doof anstellen. Sie werden zu sexy Seminaren als Referenten eingeladen, und die Gäste bezahlen satt, um sich zur Schnecke machen zu lassen, anders als bei Lesungen, wo man immerhin versucht, etwas irgendwie Tröstliches (?) zu bieten; oder zumindest nicht das Ende aller Sorgen verspricht. Unbezahlbar wäre es, beruflicherdings dem therapeutischen Schreiben zu fröhnen. Lebenserhaltendes Selbstmitleidselixier, das man sich leider nicht mehr leistet, sobald man den steinigeren Weg der Belletristik eingeschlagen hat. Man kann ja in der Freizeit nicht auch noch schreiben, so steht halt in den privaten Journalen nur noch stichwortartig Wetter; Essen; Verdauung; die Post ...
Allerdings wäre man sogar als Belletrist besser bei den Leuten und im Rennen, wenn man sich eine Scheibe Untabupop abschneiden würde, von diesem Rausgebrüll der angeblich tabuisierten Misere, von der ALLE leiern bis zur Heiserkeit. Weiteres Zitat aus »Leben mit 00«, eine Anleitung, um Literaturwettbewerbe zu gewinnen – sie funktioniert übrigens, ich habe einmal so einen Text wo hingeschickt und prompt einen 1. Preis à 700 Euro dafür gekriegt (...es ist kein Unfall, dass sich das Miserable wiederholt, wiederholt, wiederholt!):
Die richtige Perspektive heißt »ICH, das Opfer«. Der richtige Inhalt: niemand versteht mich, ich verstehe mich nicht, ich verstehe die anderen nicht, ich wurde missbraucht, ich habe Krebs, ich wurde verlassen, ich habe ein totes Kind geboren, bin ungewollt schwanger oder werde ungewollt nicht schwanger, ich bin geschieden und/oder unglücklich verliebt, entweder gleichzeitig oder nacheinander, in eine oder mehrere Personen (während ich eine Affäre mit meiner Lehrerin bzw. meinem Arzt habe), meine Großeltern waren im Krieg, ich habe einen Migrationshintergrund, ich bin ein Waisenkind oder alleinerziehend, jemand ist gestorben, das Leben ist unerbittlich!, vor allem das des ICH-Erzählers.
Ich weiss aber, dass es ausser mir noch viel mehr Leser geben muss, die sich konfliktfreie Happy-End-Lektüre auf hohem Niveau wünschen, es klafft sogar ein Vakuum in diesem Bereich. Das Problem ist, dass eine Epik ohne Konflikt unmöglich zu schreiben ist, sogar wenn sie nachher lesbar wäre (zumindest entspricht diese bisweilige Kapitulation dem momentanen kryptogeographischen Entwicklungsstand). Aber immerhin, das Happy End wäre nicht zuviel verlangt. Figuren wie »Er, der Held«, »Sie, die Kaminfegerin auf dem zweiten Bildungsweg«, »Es, das Einhorn«, »Ihr, die ausgestorbenen Völker« ... Sowas müsste doch drinliegen, auch für uns Kinder einer Unzeit? Schluss mit Waschlappen-Antiheld, der jedermann sein könnte. Fertig neurotische Innenperspektiven, der allwissende Erzähler muss wiedergeboren werden. An der Historie interessiert schliesslich auch nicht, wie das einfache Volk von Tag zu Tag gelebt hat (na wie wohl?!), obwohl dieser Mittelmasskult auch in der Forschung leider zum Trend geworden ist. Ich will wissen, wie Herrscher Reiche aufgebaut und zerstört haben, wie Hohepriester ganzen Völkern das Denken austrieben, wie Erfindungen und Entdeckungen die Landkarten veränderten. »Die kleinen Dinge des Alltags«, sind die etwa poetisch? Nein, bloss langweilig! Wenn schon Konflikt, dann bitte am bombastischen Ende der Richterskala. So fährt das Happy End ein wie diabetisches Koma.
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