Markus Spillmann, Chefredakteur der NZZ, entschuldigte sich via Facebook für einen veröffentlichten Kommentar zum Coming-out von Apples CEO Cook:
»Ich bedaure, dass Print/online das Reflexe »Von Missionen, Macht und deren Missbrauch« publiziert worden ist. Hier haben sämtliche internen Kontrollmechanismen versagt. […] Die Argumentation, dass Apple-Chef Cook »Machtmissbrauch« begehe, wenn er sich zu seinem Schwulsein bekennt, ist absurd. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass als Folge dieses Bekenntnisses sich die Geschäftspraxis von Apple verändern würde. […] Die Kritik an diesem Schritt, wie immer sie begründet sein mag, zeugt dagegen von mangelnder Toleranz und einem nach wie vor stigmatisierenden Umgang mit Schwulen und Lesben. Das aber ist definitiv nicht die Haltung einer auch gesellschaftlich liberalen Stimme wie jene der NZZ.«
Der angesprochene Kommentar ist ein Meinungstext, der in einem liberalen Medium, als Entsprechung zur freien Meinungsäußerung verstanden werden darf (die Ansprüche sind geringer als sonst, unkonventionelles ist gestattet, ein gewisser Qualitätsstandard sollte eingehalten werden, eine solide Argumentation ist entbehrlich); Widerspruch wäre in derselben Form und an derselben Stelle zu erwarten: Eine Meinung steht gegen eine andere (womit die Grenzen der Meinungsäußerung aufgezeigt wären). Der Rückzieher des Chefredakteurs wirkt seltsam, weil er einen halboffiziellen Eindruck hinterlässt: Nicht im Blatt, sondern via Facebook und im Kommentarbereich unter dem Text. Man hat den Eindruck, dass man einem Shitstorm und einer öffentlichen Anprangerung entgehen und nicht auf die nächste Ausgabe warten möchte. Und noch etwas anderes lässt aufhorchen, der vorletzte Satz: „Die Kritik an diesem Schritt, wie immer sie begründet sein mag, zeugt dagegen von mangelnder Toleranz und einem nach wie vor stigmatisierenden Umgang mit Schwulen und Lesben.“ — Warum sollte eine argumentierte Kritik, die dieser Satz mit einschließt, per se von einem stigmatisierendem Umgang zeugen? Ein etwaiger Machtmissbrauch ist im Zweifelsfall, aber eben nicht im Meinungstext, zu belegen und ist unabhängig von einer spezifischen Thematik. Hier setzt jemand Höflichkeit und Korrektheit, eine Erwartung, ein Sollen, an die Stelle der Offenheit des Diskurses; er beschädigt ihn, in dem er die Pflicht zu argumentieren, verletzt.
Der kurze Text des Chefredakteurs wirkt wie ein Hüftschuss, er scheint der Möglichkeit einer raschen Veröffentlichung im Zeitalter des Netzes geschuldet und ist in sich wenig konsistent. Oder ist der NZZ da tatsächlich ein Lapsus passiert? Sehen wir uns alles der Reihe nach an:
Zunächst Cooks Bekenntnis: Er spricht von seiner Privatsphäre, dem Unternehmen Apple und davon, dass er die Aufmerksamkeit eigentlich auf dessen Produkte gerichtet wissen möchte. Allerdings fühlt er sich Martin Luther Kings Frage »What are you doing for others?« verpflichtet. Cook stellt fest, dass ihn die Privatheit von Wichtigerem zurückgehalten hat; er habe zwar nie ein Hehl um seine sexuelle Orientierung gemacht, doch von einer öffentlichen Äußerung stets Abstand genommen; dann folgt der Satz: »I’m proud to be gay, and I consider being gay among the greatest gifts God has given me.« Er geht darauf ein was Homosexualität für ihn bedeutet und warum es bereichernd, aber keinesfalls einfach ist. Er spricht von gesellschaftlichen Fortschritten, die gemacht wurden und bestehenden (gesetzlichen) Diskriminierungen. Er hofft durch sein Bekenntnis etwas Gutes bewirken zu können (»bring comfort to anyone who feels alone, or inspire people to insist on their equality«). Seine Entscheidung war nicht einfach; er verweist darauf, dass die Identität des Einzelnen nicht auf einer einzigen Kategorisierung (Rasse oder Geschlecht) beruhe, sondern vielfältig bedingt sei (Interessen und soziale Rollen) und stellt abschließend sein Bekenntnis in den Anspruch von Apple, das für Gleichheit und Menschenrechte stehe. Er versteht dieses Bekenntnis als eine Hilfe für andere, eine kleine, im Lichte großer Vorbilder.
Der Kommentar von Christiane Henkel sieht die Berufung auf King und Kennedy als illegitim an und es nicht als Cooks Aufgabe, also die Aufgabe eines CEO, seine sexuelle Orientierung zu einem Thema in der Öffentlichkeit zu machen. Er kritisiert den Satz, dass er stolz auf seine Homosexualität sei und dass er sie als Geschenk Gottes sehe (Homosexualität ist kein Verdienst). — Cook gebärde sich arrogant.
Da Frau Henkels Text eine Meinungsäußerung darstellt, werden Argumente nicht explizit gemacht: Der Vorwurf des Machtmissbrauchs, siehe oben, kann als »nicht sachlicher« (also nicht explizit auf die Homosexualität gemünzt) verstanden werden; er ist auf die Position von der aus das Bekenntnis erfolgt, gerichtet (nicht die Moralität des Wollens zählt, sondern die Position, die ebendieses verbietet; ein Beispiel aus der Politik: Ist etwa die parteipolitische gefärbte Einmischung eines Bundespräsidenten in die Belange von Ländern und gewählten Vertretern von Amts wegen legitim?): Die Macht, die ihm seine Position verleiht, ist für diesen Einsatz nicht vorgesehen, deshalb wird er als Missbrauch angesehen, die Überschreitung, die Cook selbst thematisiert, wäre in die andere Richtung, zur Privatheit hin, aufzulösen. Ob sich die Geschäftspraxis von Apple darüber verändert ist für eine solche Argumentation, wie das Chefredakteur Spillmann anführt, irrelevant, es zählen die Aufgaben eines CEO; Aussagen über privates, hat der Privatmann zu tätigen (man kann, um das Argument zu verdeutlichen, an die Stelle der Homosexualität ein Eintreten für ein liberales Waffenrecht setzten).
Man kann die geäußerten Vorwürfe im Licht von Cooks Text als überzogen ansehen, argumentierbar sind sie und da es sich um einen Meinungstext handelt, dürfen persönliche Wertungen und Bedingtheiten eine größere Rolle spielen (wer weiß: vielleicht begeistert sich die Autorin für Martin Luther King und meint ihn gegen eine unzulässige Vereinnahmung verteidigen zu müssen?). Inwieweit die Aufregung gerechtfertigt ist, kann jeder selbst beurteilen, eine explizite Stigmatisierung von Homosexuellen lässt sich durch den Text nicht belegen; er mag ungeschickt formuliert, dem medialen Arbeitsalltag geschuldet oder zu rasch verfasst worden sein (letztlich eben Meinung, die berühmten »two cents«, die man nicht überbewerten sollte; dass es dennoch getan wird, ist eine häufig anzutreffende Praxis). Mindestens genauso »bedenklich« sind die Konsequenzen, die manch ein Kommentar unter dem Facebookeintrag enthält: »Ich frage mich nur noch, was mit der fehlbaren journalistin geschieht. Sie ist für eine liberale zeitung wie die NZZ untragbar. Entsprechende massnahmen müssten selbsverständlich sein.«
Spillmanns Text ist bedenklich, wenn er schreibt, dass die Kritik an der Öffentlichmachung von Cooks Homosexualität »von mangelnder Toleranz« zeuge. Er übersieht dabei, dass Medialisierung und Orientierung zwei verschiedenen Dinge sind. Selbstverständlich ist die Orientierung nicht zu kritisieren. Meines Erachtens sollte sie gar nicht inszeniert werden, da sie dadurch immer noch etwas Besonderes darstellt. Dem gibt Spillmann übrigens indirekt Recht, wenn er schreibt, dass Cooks Outing von »Mut»zeuge. Wenn aber in einer liberalen Gesellschaft Homosexualität kein Stigma mehr darstellt, dann kann sie auch nicht von »Mut« zeugen. Sie dürfte dann auch gar nicht Gegenstand einer Betrachtung sein, da es ja vollkommen unerheblich ist, wie Cook sein Privatleben gestaltet. Aber Cook hat sich nicht nur »geoutet«, er hat auch noch von »Stolz« gesprochen. Das ist nun schwer verstehbar, da die sexuelle Orientierung damit als eine Art Leistung dargestellt wird. Das hat Henkel kritisiert und, wie ich finde, durchaus zu Recht. Den Schluss, den sie dann gezogen hat (»Machtmissbrauch«), kann ich wieder nicht nachvollziehen. Aber das wollte sie vermutlich, um ihrer Kritik einen gewissen Boden zu gaben. Das ist aber nun wirklich blühender Unsinn.
In deutschen öffentlich-rechtlichen Medien hat es sich ja längst eingebürgert, dass zu allen möglichen innen‑, außen und sozialpolitischen Fragen Redakteure ihre »Kommentare« (vulgo: Meinungen) abgeben. Da werden dann ganz schnell die Probleme der Welt mit wohlfeilen Ratschlägen gelöst – natürlich nur unter Auslassung aller möglichen Komplexitäten. In der Regel fallen einem schnell ein oder zwei Gegenargumente sofort ein, die man dann auch – welch ein Wunder – später in einer Art Gegenkommentar eines anderes Redakteurs findet. Das findet man dann vermutlich noch als besonders »ausgewogen«.
Kommentare machen m. E. nur Sinn, wenn sie in sich eine gänzlich neue Sicht der Dinge anregen. Leider sind diese Texte inzwischen nur noch »pro« oder »contra« Sterbehilfe, Bodentruppen, Waffenlieferungen oder Bahnhof. Das ist fast immer unendlich langweilig. Der Gewinn für den Leser, Hörer, Zuseher liegt bei exakt null. Aber irgendwo müssen die Journalisten ja ihre Existenzberechtigung hernehmen...
Die Rubrik unter der Henkel ihren Text publizierte heisst übrigens »Reflexe«.
Ja, Henkel nimmt die Rubrik quasi beim Wort und wird genau dafür abgestraft.
Ich hätte das Wort Machtmissbrauch nicht verwendet, aber im Meinungstext, wenn er noch dazu als Reflex verstanden wird, ist das tolerierbar (oder man sagt eben, dass das Unsinn ist). Was m.E. dahinter steckt, ist die Frage, was in die Kompetenz des CEO fällt und was Privatsache ist, warum Dinge medialisiert werden und inwieweit Unternehmen sich mit gesellschaftlichen Fragen überhaupt schmücken sollten, da das immer das Geschäft, die Produkte und das Unternehmen selbst beschönigt (die Realitäten sind meist komplexer und weniger anheimelnd). — Dass hier ein Geflecht aus Macht, gesellschaftlichen Themen, Ansehen und (unternehmerischen) Interessen besteht ist kaum von der Hand zu weisen, Apple ist da kein Einzel- und Sonderfall (es ist aber typisch für einen Kapitalismus, dessen Produkte immer mehr als bloß Produkte sein sollen). Die Frage inwieweit Unternehmen Träger oder Verhandler gesellschaftlicher Fragen sein sollten, ist berechtigt, auch hinsichtlich demokratiepolitischer Fragen (Unternehmen sind Vertreter von Interessen und besitzen keine demokratische Legitimation).
Das Problem ist ja, dass Apple eigentlich keine Werbung mehr zu schalten braucht, da deren Neuprodukteinführungen stets mit medialem Pomp berichtet werden, und das auch noch von öffentlich-rechtlichen Medien. Der »Machtmissbrauch« liegt aber viel eher auf seiten der Medien.
Bezüglich der Produkte nicht, aber Apple wurde immer wieder wegen der Arbeitsbedingungen bei Zulieferern und Umweltschutzbelangen kritisiert.
Wenn man versucht, den ganzen Vorgang aus gebührendem Abstand zu betrachten, so stellt sich für mich die Frage, wie es kommt, dass gerade bei den längst gegessenen Themen die Hysterisierung am zuverlässigsten klappt.
Zunächst: Was den Mut von Mr. Cook angeht, so würde ich den nicht kleiner reden, als er ist – seine Äußerung hat buchstäblich weltweite Bedeutung und wie jeder weiß, ist das Thema Gleichstellung von anders gepolten Menschen in einigen bevölkerungsreichen Märkten von Apple nicht so durchgekaut wie hierzulande. Insofern ist sein Statement durchaus mehr als eine Lappalie, vielleicht sogar eine Äußerung mit dem Charakter einer »Tat«.
Wenn dann aber Zeitungen in Europa meinen, an diesem Statement gäbe es irgendetwas zu würdigen oder zu bewerten, dann sind das Zeichen einer merkwürdigen Hysterisierung, wie dann noch mehr die Entschuldigung, dass die Bewertung möglicherweise bei einzelnen Lesern Gefühle verletzt haben könnte, statt nur Gelächter auszulösen. Da wird erst das Ereignis, dann der Kommentar um mehrere Level zu wichtig genommen.
Warum eigentlich? Es erinnert einen an frühere Empfindlichkeiten gegenüber schmutzigen Wörtern, die ja nie echte Empfindlichkeit waren, sondern nur ein aufgezwungenes gutes Benehmen. Dieses herkömmliche gute Benehmen ist inzwischen weitgehend verschwunden bzw. es stellt nur noch eine altfränkische Skurilität dar, vulgär sind wir längst alle und die verbale Freiheit soll leben, wie sie mag — außer eben bei den nachnominierten Hysterie-Themen wie Schwulsein, Frauenförderung, »Menschen mit Migrationshintergrund«, Islam etc. Die Hysterie muss nicht völlig unbegründet sein, sie ist aber eine Art verordneter Sensibilität, so wie man früher gefälligst sensibel gegenüber »Scheiße« sein sollte.
Es fällt nur auf, dass die hysterischen Sprachzuchtmeister ein Stück _hinter_ der allgemeinen Entwicklung zurück sind. Die Gesellschaft ist weiter, als die Sprachpeitschenschwinger meinen. Erinnert sich noch jemand an das spektakuläre Coming-out von Hitzlsperger? Das galt immer als ein unberührbares Thema, dass echte Profifußballer schwul sein könnten. Und dann ... war nicht viel. Aufregung in der breiten Bevölkerung nicht annähernd so viel wie in den Kreisen der Hysteriker.
So dürfte es auch hier sein. Das gemeine Volk regt sich keine Sekunde lang auf, gähnt und wendet sich interessanteren Themen zu – die Hysteriker in den Zeitungen erörtern »Machtmissbrauch«, entschuldigen sich, entschuldigen sich für die Entschuldigung in dieser Form, entschuldigen sich, dass es überhaupt zu dieser Entschuldigung in dieser Form kommen konnte, wollen zukünftig beherzigen, stehen dem Apple Chef EMEA gerne für ein klärendes Gespräch zur Verfügung, werden ins Ministerium für Gleichstellung und Sprachverwaltung zitiert, geben sich neue Leitlinien, etc.
P.S. Am meisten fällt ja – das ist für uns Literaturinteressierte interessant – in dem Heldentext von Cook die Wendung »ich bin stolz« auf. Das ist eigentlich so unsinnig wie zu sagen, ich bin stolz darauf zwei Füße zu haben. Meine Vermutung ist, dass hier eine unlösbare sprachliche Schwierigkeit steckt. Der Gedanke, der gesagt sein soll, lässt sich nur negativ formulieren: »Ich schäme mich nicht ...« Aber wie so marketingorientierte Redentexter sind, raten sie natürlich von der negativen Formulierung ab – »Herr Cook, das müssen wir positiv ausdrücken«. Und dann kauen Cook und 3 Redenschreiber im kleinen Konfi am Bleistift und überlegen, mit welchem Sprachdesign sich das lösen lässt. »Ich freue mich ...« wäre zuviel. Und so landet man bei diesem auch nicht besonders glücklichen »stolz sein«, dass den Vorteil hat, dass das Wort schämen nicht geäußert werden muss. Vielleicht wäre eine bessere und weniger Fragen aufwerfende Lösung gewesen: »Ich bin stolz darauf, hier und heute zu sagen, dass ich gay bin.« Das wäre eine nette Ambivalenz.
Danke für den Kommentar. Eine Art neue Höflichkeit für die es kein Interesse und keine Notwendigkeit gibt. Gut möglich (das interessiert mich auch noch in einem anderen Kontext, vielleicht komme ich noch darauf zurück). Es passt recht gut zu meinem Rezeptionsverhalten: Auf Cooks Text wurde ich zunächst per Twitter hingewiesen; ich lies ihn allerdings links liegen (ich interessiere mich weder für Apple noch für die sexuelle Orientierung anderer Menschen; ich bin erst über das Dementi wieder darauf gestoßen).
Der Text ist grundsätzlich in Ordnung und mutig; der geäußerte Stolz ist zu kritisieren, der Vorwurf des Machtmissbrauchs (von Frau Henkel) erscheint überzogen, allerdings bleibt da etwas, das bedenkenswert ist, auch wenn man diesen Gegenkommentar in der Zeit liest: Für mich stellt sich die Frage, ob es gut sein kann, dass viele gesellschaftlich relevante Themen derart stark von nicht demokratisch legitimierten Organisationen forciert werden (führt das nicht auf Dauer zu einer Schwächung oder Aushöhlung der Institutionen, die über diese Angelegenheiten entscheiden sollten?). Ich zitiere eine Stelle aus dem Kommentar aus der Zeit ausführlicher (Ausgangspunkt ist Frau Henkels Kommentar):
»Wer ihre Zeilen liest, traut seinen Augen kaum. Man fühlt sich in Zeiten zurückversetzt, in denen Wirtschaftsführer allein dem Mantra folgten: »The business of business is business« (Milton Friedman). Gesellschaftliche Verortung und gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen sind in diesem verirrten Managementdenken vollkommen ausgeblendet.
Ein solches Verständnis von Unternehmenswelt können wir nicht wollen. Über diesen Geist des sogenannten Shareholder-Value sollten wir mittlerweile hinaus sein.
Doch nichts da. Genau in diesem Geist argumentiert Henkel, wenn sie sagt, sie respektiere Cooks Leistung als Apple-Chef, er sei aber kein Politiker oder Bürgerrechtler – und habe daher, so der Subtext, gefälligst zu seiner Homosexualität zu schweigen. Die NZZ-Chefredaktion distanzierte sich zwar mittlerweile von Henkels Kommentar, doch ihre Worte bleiben ausgesprochen und finden nicht wenige Anhänger.
Dabei ist das Gegenteil ihrer Auffassung richtig. Ein Unternehmensboss – ob Mittelständler oder Apple-Chef – ist nicht nur Chef, sondern Teil der Gesellschaft und in die wirkt er hinein. So oder so. Das gilt für einen heterosexuellen Dax-Vorstand, der mit seiner Frau zu einem Galaabend geht, ebenso wie für Tim Cook, wenn er über seine Homosexualität spricht.
Und beide sind in dem, was sie tun, auch immer politisch. Beide sind Bürger in herausgehobener Stellung, die ihre Rechte ausüben und zudem Pflichten und Verantwortung haben. So gesehen ist Tim Cook selbstverständlich auch politisch und bürgerrechtlerisch unterwegs. Gerade weil er mit seinen Äußerungen zu seiner Homosexualität zu verstehen gegeben hat, dass das Unternehmen und er selbst – als Boss und Mensch – Teil der Gesellschaft sind, ist er auch ein guter, wahrhaft engagiert-bürgerlicher Boss.«
Unternehmen als politische Subjekte und Akteure? Ist das gemeint? In Zeiten in denen Freihandelsabkommen hinter verschlossenen Türen verhandelt werden und Unternehmen Abgeordneten Gesetzesvorschläge unterjubeln? Unternehmen haben sich an Gesetze zu halten und diese umzusetzen und – um beim konkreten Fall zu bleiben – dafür zu sorgen, dass auch homosexuelle Mitarbeiter nicht belästigt werden. Sie tragen darüber hinaus Verantwortung, agieren politisch, weil sie Interessen haben, ja, auch weil sie durch ihr ökonomisches Handeln automatisch Themen setzen, aber ihnen wird keine politische Macht zugesprochen, diese geht vom Volk aus, es wählen immer noch Bürger und keine Unternehmen; und Gesetze werden von deren Vertretern in Parlamenten beschlossen. Das wurde wahrscheinlich aus einem einzigen Grund so formuliert: Weil die Sache die richtige ist. Und weiter gedacht wird dann nicht mehr (Ethik scheint neuerdings zu bedeuten, dass die falschen Mittel für die richtige Sache erlaubt sind).
Warum in Klammern?: « Ethik scheint neuerdings zu bedeuten, dass die falschen Mittel für die richtige Sache erlaubt sind«. Das ist eine konzise Beschreibung für die gesinnungsästhetischen Anwandlungen der selbsternannten Vierten Gewalt.
Ein ähnliches Beispiel: Der deutsche Bundespräsident Gauck bezeichnete in einem Interview die Mitglieder bzw. Sympathisanten der NPD als »Spinner«. Diese zog damals vor das Bundesverfassungsgericht, welches eindeutig feststellte, dass diese Meinungsäußerung des Bundespräsidenten zulässig ist. Nahezu alle Parteien und Politiker begrüßten das Urteil.
Seit Sonntag weht nun Gauck für eine ungleich mildere Aussage der Wind ins Gesicht. In einem Interview hatte er zu der Möglichkeit eines Ministerpräsidenten der Linken in Thüringen gesagt, nein: gefragt: »Ist die Partei, die da den Ministerpräsidenten stellen wird, tatsächlich schon so weit weg von den Vorstellungen, die die SED einst hatte bei der Unterdrückung der Menschen hier, dass wir ihr voll vertrauen können? Und es gibt Teile in dieser Partei, wo ich – wie viele andere auch – Probleme habe, dieses Vertrauen zu entwickeln. Und wir erleben gerade in Thüringen einen heftigen Meinungsstreit: Ja, was ist denn diese Partei nun wirklich?«
Und prompt gehen die Ratschläge aus Politik und Publizistik los. Sie zeihen Gauck fast schon einen Amtsmißbrauch; »Oberschiedsrichter« würden nicht benötigt, so ein besonders ekelhaftes Subjekt aus der SPD.
Lassen wir die fachliche Diskussion (Linker als MP ja oder nein) mal weg. In der Publizistik scheint die Maxime zu herrschen: Jeder kann eine Meinung haben – aber es sollte schon meine Meinung haben. Auf den Gedanken, dass sich der Rezipient seine Meinung, sein urteil selber bilden kann, kommt man kaum noch. Stattdessen wird mit paternalistischen Parolen Stimmung erzeugt.
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Ich finde die Art der Distanzierung das befremdlichste. Was hätte denn dagegen gesprochen, einfach ein Replik zu veröffentlichen? Dann hätte man eine interessante Debatte um die Funktion von Star-Unternehmern in der öffentlichen Debatte etc. etc. So sieht das für mich so aus, als wäre es den NZZ-Oberen peinlich, mit so einer reaktionären Schnalle zusammen gesehen zu werden. Aber wir sind doch hier nicht auf dem Schulhof.
@Gregor
Die Klammern kann man natürlich weglassen (ich hatte das mehr auf den konkreten Fall hin formuliert).
Zwischen Gaucks Äußerungen ist nicht einmal viel Zeit vergangen ... schönes Beispiel, danke. Der »Oberschiedsrichter« fügt sich gut in die angewandte Taktik: Die Methode ist unwichtig, das Ziel alles; es existiert eine Reihe von Begriffen und Formulierungen, die man je nach Bedarf verwenden kann: »es macht mich betroffen«, »das erinnert an«, »das geht gar nicht«, »... ist untragbar«, usw., Hauptsache man muss eines nicht: Ein Argument formulieren (und vor allem: ein Argument macht verwundbar).
Die Massenmedien (die sozialen und digitalen besonders) belohnen so eine Strategie: Die Datenmenge ist groß, das Zeitfenster klein, die Verbreitung, Vervielfältigung und Verstärkung ist problemlos möglich: Ein knackiger Tweet, ein Meinungsartikel, eine rhetorisch geschickte Formulierung kann so große Wirkungen erzielen: Meinungshoheit und ‑kampf sind über die allgegenwärtigen Quantifizierungen systemimmanent (oder ‑logisch; aber nicht zwingend im strengen Sinn).
@Doktor D
Meine Hypothese ist, dass das ökonomische Gründe im weitesten Sinn hat (zunächst aber geht es um das Ansehen des Mediums [das eben ökonomisch von Bedeutung ist]). Ein paar Hinweise lassen sich leicht finden: Der Autor des Kommentars in der Zeit, hat unter Frau Henkels Kommentar auf seinen eigenen verwiesen (und gleich zu verstehen gegeben von welcher Warte aus er schreibt); jetzt kann man überlegen: Was hätte er geschrieben, wenn Spillmann anders (oder eben: nicht) reagiert hätte? Oder wie wäre das Thema dort weiter behandelt worden (in einem mit Smiley versehenem Kommentar unter Spillmanns Facebook-Eintrag steht man werde das Schießpulver wegpacken)? Das passt zu dem was ich in der Antwort an Gregor schon geschrieben habe: All diese Kanäle können sehr gut für Kampagnen, Lobbying, u.ä. verwendet werden, es geht dann wieder um Hoheiten, nicht um Überlegungen und Argumente.
Noch ein Nachtrag: Dieser Facebook-Kommentar der Henkels Text eigentlich widersprechen möchte formuliert und bestätigt ihre hingeworfene These des Machtmissbrauchs (und der Autor scheint das nicht einmal zu bemerken). — Das ist verrückt. Beinahe.
Hier ein interessanter Text zur Causa in der SZ. (Man liest dort allerdings diesen Blog nicht. Naja, Fehler machen alle.)
Danke. Muss ich noch lesen. Dieser passt auch hierher (Du kennst ihn vielleicht schon).
Chronistenpflicht: Markus Spillmann tritt zurück/ist zurückgetreten worden, wie auch immer.
Tja, damit haben wir ein weiteres Beispiel für die Intoleranz der Toleranten, der Liberalen, oder wie auch immer sich diese Medienmacher-Clique apostrophiert. Wer die Keulen der Meinungsvorherrschaft unsachgemäß gebraucht, indem er etwa den privat-schwulen Firmenchef Cook schräg von der Seite angeht, der muss seinen Hut nehmen. Man sollte gegebenenfalls sofort sein Abonnement kündigen. Heuchlerbande.
Ich bin nicht sicher, ob die beiden Vorgänge miteinander in Verbindung stehen. Das wollte ich übrigens auch nicht suggerieren.
Ich glaube nicht, dass es da einen Zusammenhang gibt; da geht es wohl um verschiedene Einschätzungen wohin man sich publizistisch und ökonomisch orientieren soll (womöglich ist es aber symptomatisch für mangelnde Konfliktlösungskompetenz).