Sogenannte Postings, also meist pseudonym formulierte Kommentare von Informationskonsumenten im Internet, haben keine Bedeutung, auch wenn sich die sogenannten Poster, wenn sie mit ihren Meinungen und Gefühlen in die Öffentlichkeit gehen, wichtig vorkommen mögen. Aus diesem Grund ist es mir ziemlich egal, wenn eines meiner Postings zensuriert wird. Die Zensur, die man in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für überholt hielt, ein historisches Phänomen, ist im 21. Jahrhundert wiedergekehrt. In der Regel wird sie automatisch vorgenommen, also von Maschinen, die den Inhalt der Texte nicht wirklich verstehen können, sondern auf Reizwörter und deren Kombinationen reagieren.
Meine Kommentare werden öfters am öffentlichen Erscheinen gehindert, und in der Regel vergesse ich den Vorfall gleich wieder. Neulich aber setzte sich die erlittene Zensur in meinem Kopf fest, weil sie mir vielsagend schien. Es ging im sogenannten Forum, das den altehrwürdigen römischen, auf die griechische Demokratie zurückverweisenden Namen nicht verdient, um Pädophilie, ein Thema, das im Internet kaum je mit Vernunftgründen besprochen wird. Den Wortlaut meines Postings habe ich nicht in Erinnerung, aber ich erwähnte unter Klarnamen – die Ano- und Pseudonymität lehne ich für mich persönlich ab – meine Erfahrung, daß sich meine kleine Tochter für meinen Penis interessiert. Ich bin überzeugt, daß ähnliche Erfahrungen die meisten Väter machen, ausgenommen die besonders verschämten, die sich ihren Kindern niemals nackt zeigen. Nur diese eine Tatsache habe ich im Posting kurz, ohne Emotionalisierung und ohne »schmutzige Wörter«, erwähnt. Nicht geschrieben habe ich, daß ich gegebenenfalls Berührungen meines Geschlechtsteils durch meine Tochter zulasse und daß meine Empfindung dabei ambivalent ist: zunächst gar nicht unangenehm, in einer zweiten, vermutlich moralgeleiteten Reaktion dann aber doch. Mein Körper reagiert dabei nicht so, wie er bei der Berührung durch meine Frau reagiert. Das erleichtert mich grundsätzlich und bestätigt: Ich bin nicht pädophil und habe keine Neigung zum Inzest. Ich bin aber auch froh, daß ich das in Erfahrung bringen konnte – empirisch überprüfen, würde ein Wissenschaftler sagen. Alles, was mich umgibt, macht mich neugierig; neugierig wie meine Tochter, von der ich immer wieder einiges lernen kann.
Also gut: jenes Posting wurde gelöscht, es konnte in der Tageszeitung Der Standard nicht öffentlich werden. Warum? Stand ich im Begriff, mich eines Vergehens schuldig zu machen? Hätte ich die Gefühle von jemandem verletzen können? Ich glaube nicht. Vielmehr glaube ich, daß der hier geschilderte Zensurfall stellvertretend für eine allgemeine, durch die herrschenden Massenmedien stillschweigend zum verbindlichen Standard gemachte Prüderie steht, die an den Viktorianismus des 19. Jahrhunderts gemahnt. Dieser Standard bestimmt sowohl das reale Verhalten der Bevölkerung als auch die virtuellen Welten und digitalisierten Diskurse. Es ist unmöglich geworden, über Phänomene, die zu den grundlegenden menschlichen Erfahrungsbereichen gehören, unbefangen zu sprechen. Wer es tut, hat mit Vorwürfen, Anschuldigungen, Shitstorms, Drohungen – und natürlich mit Zensur zu rechnen. Die Unbefangenheit, das Staunen, das Fragenstellen ohne Antworten vorwegzunehmen, ist nicht nur verpönt, es wird in bestimmten Fällen kriminalisiert.
Dies ist die eine Seite der Medaille; die andere Seite widerspricht ihr diametral. Die alltäglichen, medien- und computerbestimmten Lebensverhältnisse der Bürger in den sogenannten entwickelten Ländern sind in einem unerhörten Maß erotisiert, sexualisiert, pornographisiert. Werbung, die den Konsum immer und immer aufs Neue ankurbeln soll, kann auf erotische Stimulierung schon lange nicht mehr verzichten. Im Verlauf einiger Jahrzehnte wurde der gesamte öffentliche Raum sexualisiert. Im 21. Jahrhundert haben sich die Dinge nun buchstäblich verschärft. Es ist ein offenes Geheimnis, das viele nicht gern hören: Der Löwenanteil des im Internet angebotenen und konsumierten Stoffs, der dort zirkulierenden Daten, Dienstleistungen und Emotionen, ist pornographischer Natur. Vertreter der zeitgenössischen Prüderie mögen mir raten, ich solle meinen Penis lieber vor meiner Tochter verstecken – ihre Neugier wird sie dennoch befriedigen, und zwar ziemlich bald, bei manchen Kindern geschieht es schon im Kindergartenalter, dafür sorgt die allgemeine Zugänglichkeit der allermeisten Internetseiten (mitsamt der Unmöglichkeit, zielgruppenorientierte Filter einzubauen).
Ich rufe nicht nach Zensur, aber Tatsache ist, daß das Internet – wahrscheinlich für alle Zeiten – pornographieverseucht ist und die virtuellen Spielwelten gewaltverseucht sind, während ich andererseits in einem halbwegs seriösen Forum das Wort »Penis« nicht gebrauchen darf. Die alltäglichen, medienbestimmten Lebensverhältnisse sind zutiefst schizophren, und sie sind, wie es scheint, heillos schizophren. Der Durchschnittsbürger ist heute zugleich prüde und dauererregt, wo nicht pornographieverseucht. Verfolgt man die Postings der Poster zum Thema Pornographie, was durchaus lehrreich ist, kommt man zum Schluß, daß kaum jemand bereit ist, hierin überhaupt eine Problematik zu erkennen. Toll, daß man sich das alles reinziehen kann – man muß ja nicht! So sehr sich die selbsternannten Kinderschützer beim Thema Pädophilie empören, so träge, denkfaul, beschwichtigend sind sie, wenn es um Internetpornographie geht. Daß hier gewaltige Suchtgefahren liegen, wird schlicht geleugnet. Und daß das individuelle Verhalten im Umgang mit dem anderen (oder demselben) Geschlecht dadurch geprägt und dauerhaft verändert werden könnte, ohne daß dies den Akteuren auch nur zu Bewußtsein kommt, wird überhaupt nicht in Erwägung gezogen. Über warnende Stimmen macht man sich lustig, oft mit dem bigotten Humor, den man noch aus den alten Zeiten kennt.
Schizophrenie ist ein grundlegendes Merkmal jeder Art von Bigotterie. Über die Feststellung hinaus läßt sich nicht viel von ihr sagen. Da sie keinen Widerspruch entfaltet, sondern nur eine Seite hinter einer anderen versteckt, ist sie so unfruchtbar, so steril. Das einzige, was etwas gegen sie ausrichten könnte, ist Offenheit und Wahrhaftigkeit: eine Haltung, für die der Boden trocken geworden ist.
Zensur kommt allenthalben vor. Ich habe (subversiv investigativ) schon mit rechtsextremen Gedankengut öffentlich experimentiert, und bin natürlich auch öfter rausgeflogen.
Die Aufregung um die Pädophilie habe ich auch verfolgt, aber nicht subversiv begleitet. Es ist eine unheilbare Perversion, also eine ernste Sache. Dass die Gesellschaft enorme Schwierigkeiten hat, Perversion und sexuelle Identität abzugrenzen, ist klar. Die Norm ist weg, und damit ist (wie der Volksmund sagt:) Polen wieder offen.
Die Argumentation um eine schizoide Prüderie würde ich dahingehend abschwächen, dass die Scham-Grenze in pluralen Gesellschaften nicht mehr eindeutig zu fassen ist. Die Sexualisierung schreitet sozusagen im Dissenz voran, darin liegt für mich aber kein Segen (Oh, Vielfalt!), sondern ein Fluch der Spätmoderne. Allerdings unterscheide ich strikt zwischen der Konjunktur der »Obszönität«, in Worten, in Bildern, in Bit-Streams, und der normativen Erschütterung, welche die Anerkennung der Homosexualität bewirkt hat. Wie gesagt: damit wurde die Differenz »Normalität« – Perversion außer Kraft gesetzt, denn es macht schlicht keinen intelligenten Sinn, wenn man sagt, Homosexualität sei normal. Nicht mal, wenn man ein Homo ist...
Die Anmerkung, dass es etwas ueberall und zu allen Zeiten gibt und gegeben hat, toernt mich immer ein bisschen ab. Klar doch, alles gibt es ueberall immer schon. Aber die Frage ist doch, welche – eventuell neue – Qualitaet das Phaenomen hier und jetzt hat. Natuerlich auch, was seine Vorgeschichte und sein Kontext ist. Schleichende Veraenderungen, nicht immer gleich sichtbare Transformationen. Digitale Zensur versucht in den westlichen Gesellschaften, ein Minimum an Zivilisiertheit zu sichern, waehrend die Impulse vieler Konsumenten – als Personen werden die Personen ja nicht mehr gesehen – zunehmend zur unbeherrschten Triebentladung gehen und diese Entwicklung von den Maerkten gefoerdert wird. Siehe Shitstorm, Kaufsucht, Demokratie als Der-Kunde-ist-Koenig-Haltung usw. Ein Problem dabei ist, dass die Zensur oft gegen ihre eigenen Intentionen wirksam wird, nicht zuletzt aus technisch-medialen Gruenden. Wie soll man die ganze Flut aus (ueberwiegend) Scheisse bewaeltigen? In Grossbritannien darf Pornographie nicht mehr automatisch an die Kunden der Server weitergereicht werden. Dem Vernehmen nach funktioniert das moralbedachte System dort auch nicht richtig.
Bei der erwaehnten oesterr. Tageszeitung, Onlineausgabe, habe ich inzwischen aufgehoert, mitzureden. Davor hatte ich ebenfalls experimentiert, und zwar um herauszufinden, weshalb meine Idee, den Begriff Verbrechen gegen die Menschheit (bzw. Menschlichkeit – crimes against humanity) zu ueberdenken anlaesslich der Ermordung von 43 mexikanischen Studenten vor einigen Wochen, nicht oder nur verzoegert publik werden kann. Dieses Verbrechen erinnert in seiner technischen Ausfuehrung an die Verbrechen von Auschwitz. Meine Kommentare habe ich in verschiedener Art formuliert, ausfuehrlich oder knapp, aber immer sachlich. Einiges davon ist mit zehn Stunden Verspaetung erschienen, anderes gar nicht.
Im Grunde ist es bei der herrschenden Postingflut voellig egal, ob solche Kommentare erscheinen oder nicht. Mich kuemmert es auch gar nicht. Wenn ich ernsthaft Stellung nehmen oder eingreifen will, muss ich es anderswo tun. (Und Begleitschreiben, so klein das Publikum ist, ist da immer noch eine bessere Adresse als diese Massenunterhaltungsorgane.) Es kuemmert mich nicht, aber der Symptomatik schenke ich doch Beachtung.
Widerspruch zwischen Moralismus und Sexualisierung; Unmoeglichkeit, neue Formen der Unmenschlichkeit oeffentlich zu diskutieren und begrifflich fassen; Heuchelei in Sachen Menschenrechte und Demokratie. Darum ging(e) es mir.
Ich wollte nur abschwächen, nicht widersprechen. Ich sehe den Neuen Moralismus wesentlich als Vergröberung. Die »ganz großen« Skandale können nur mit ganz großen Vokabeln (Begriffen) beschrieben/berichtet werden. Da schließt sich das (vorweg genommene) öffentliche Interesse mit den Axiomen der Aufmerksamkeits-Ökonomie im Zeitalter der Überinformation kurz. Ein Pragmatismus, der zugunsten der Portale Sinn macht. Ich bin es ehrlich leid.
Was vielleicht zu kurz kam: es muss eine Verbindung zwischen groben Maßstäben, grober Wahrnehmung und Zensur geben, denn es gibt schlichtweg nur drei Gründe zu zensieren: ‑jemand sagt etwas Abscheuliches; ‑jemand sagt etwas, was andere für »abscheulich« halten könnten; jemand sagt etwas, was der Zensor für abscheulich erachtet, aber nur weil er es falsch versteht. Zwischen Fall (1) und Fall (3) kann der Besucher (Poster) nicht unterscheiden. Das geschieht hinter dem Vorhang.
Meine Vermutung: die Verdummung ergreift auch die Portal-Betreiber, wenn die Begriffe immer nur von der Stange sein dürfen (Ist es nötig, um Menschen »für dumm zu verkaufen«, selber intelligent zu sein?! Eigentlich nicht...)
Sie können sicher sein, dass Ihre Kommentare beim Standard letztendlich per Hand aussortiert wurden; man geht dort so vor, dass zuerst automatisch gefiltert wird und was übrig bleibt, dann manuell gesichtet wird; bei heiklen Themen sichtet man nur manuell (siehe faq: Frage 3, Frage 4 und Frage 10). Ich gehe davon aus, dass eine Diskussion über Kinderpornographie heikel ist.
Ich habe zu Pseudonymen und zur Zensur andere Ansichten: Ersteres kann zum Glück jeder (noch) halten, wie er will. Ein Pseudonym schützt meine Privatsphäre und meine Person; sie geht mit zunehmendem Maß verloren, ist aber essentiell, weil sie uns Bürger gegenüber Staat und Ökonomie als un- oder weniger verfügbar erhält (es stellt ein Stück weit Freiheit sicher). Desweiteren erschwere ich damit das Erstellen von Persönlichkeitsprofilen und das Datensammeln; sicherlich: Man kann herausfinden wer hinter einem Pseudonym steckt und man verhindert diese Dinge nicht im Prinzip; aber es ist ein gewisses Hindernis. — Zudem spielen Sensibilitäten, persönliche und berufliche Hintergründe womöglich eine Rolle. Ausschlagebend ist für mich, dass Pseudonym und Person parallel geführt werden und nicht für jedes Posting ein neues erstellt wird; für das, was jemand sagt oder ist, spielt der tatsächliche Name keine Rolle.
Im strengen Sinn ist Zensur ein staatlicher Vorgang, aber man kann ihn mit Einschränkungen wohl auf meinungsbildende Medien übertragen: Ich sehe die Möglichkeit ein Posting zu verfassen, als Einladung und Ausstellung von Angreifbarkeit an, als Ehrlichkeit und Mittel des öffentlichen Diskurses. Ein Medium, wie etwa die FAZ, das Kommentare zensiert, die Fehler in Artikeln nachweisen, wie auf diesem Blog mehrfach durch den Inhaber belegt wurde, zeigt ein eigentümliches, ja schizophrenes Selbstverständnis. Darüber hinaus gebe ich mir Mühe, wenn ich ein Posting verfasse und ärgere mich wenn es nicht erscheint (da ich nicht sehr häufig bei Medien Postings verfasse, kam das fast nie vor). Kurzum: Postings spiegeln alle Probleme und alle Vorteile des demokratischen Diskurses und sie erscheinen in Medien, die sich als dessen Garanten verstehen.
Was in dem Text zu kurz kommt, ist, dass im Netz Privates und Öffentliches in einander fließen, darüber hinaus »genuine Postmoderne«, also die ungleichzeitige Gleichzeitigkeit von beinahe allem im Netz Realität wird: Daraus ergeben sich die oben angeführten und diskutierten Probleme zu Teilen von selbst: Unsere Maßstäbe, unsere Moral, gerät ins Wanken, weil sie machtlos ist, weil sie nicht mehr zu ordnen und zu verbannen vermag.
Vielleicht resultieren die neue Höflichkeit oder Bürgerlichkeit, die politische Korrektheit oder eben Bigotterie – sie alle sind doch schizophren – aus dieser Herausforderung, zumindest dann, wenn unsere Gesellschaft und Zeit tatsächlich auch jenseits des Netzes durch diese ungleichzeitige Gleichzeitigkeit gekennzeichnet sein sollte (vielleicht genügt auch schon ein Übermaß an dem einen oder andern). — Es wäre der Versuch, Probleme und Gefährdungen auszublenden und gleichzeitig die Stabilität des Ich zu erhalten. Gerade die Sexualisierung ruft Abwehrreaktionen hervor, die sich dann dergestalt formulieren.
Hinter der Heuchelei in Sachen Demokratie und Menschenrechten stehen meist handfeste Interessen von Staaten.
Ich hatte vor einiger Zeit, als Nicht-Vater, ein ähnliches Erlebnis: Ein kleiner Junge, einer allein erziehenden Mutter, den ich gut kenne und der mich immer wieder besucht, erzählte mir immer wieder von seinem Penis, zeigte ihn mir sogar, fragte mich über meinen und lief mir sogar aufs WC nach um ihn sehen zu können: Das war mir zunächst sehr unangenehm, weil es nicht einmal mein Kind war, beruhigt hat mich ich aber das Ausbleiben sexueller Erregung meinerseits. Ich dachte mir: Gut, der kleine (noch nicht fünf Jahre alte) »Mann« entdeckt gerade seine Sexualität, stellt Fragen, ist neugierig und dem wollte ich nicht im Weg stehen. Ich zeigte ihm, was er sehen wollte, er stellte noch eine Frage und war zufrieden. Irgendwann erzählte er, dass er seinen Penis (er verwendete natürlich ein anderes Wort) nicht mehr brauchen würde, er sei verklebt und etwas müsse weggeschnitten werden. — Ihm war angekündigt worden, dass er beschnitten werden sollte und das hatte ihn (vielleicht neben der normalen Neugierde) wochenlang beschäftigt.
Als mein Neffe noch Kind war schauten wir eine Folge von Mr. Bean, in dem dieser Sketch ausgestrahlt wurde. Es geht darum, dass die Queen ein herrschaftliches Haus besucht und dabei auch das Personal begrüsst, wozu Mr. Bean gehört. Dieser bemerkt plötzlich, dass der Reißverschluss seines Hosenschlitzes defekt ist und dieser sich nicht mehr schließen lässt. Beim Abendessen fragten die Eltern was wir gemacht hätten. Mein Neffe erzähle erzählte ziemlich aufgeregt: »Wir haben xxx Penis angeguckt«, wo er zunächst meinen Namen nannte. Die Gesichter versteinerten. Dann relativierte er, dass wir Mr. Beans Penis angeschaut hätten. Mit behutsamer Hilfe klärte er die Sache dann selber auf, dass es eben nur so ausgeschaut habe. (Zum Glück gab es noch einen »Zeugen«, der mitgeschaut hatte...)
Um die im Ausgangstext angesprochene Diskrepanz noch einmal zu verdeutlichen, sei auf diesen Artikel inklusive Links im Standard verwiesen.
Auf der einen Seite wird die Sexualisierung der Öffentlichkeit toleriert, ja gefördert, auf der anderen kann oder will man sensible und schwierige Themen, wie Pädophilie oder das Verhältnis von Sexualität und Kindern nicht ausschöpfend diskutieren, dahingehend, dass man »im Zweifelsfall« eher »zensiert«. Das deutet entweder auf Abwehrmechanismen, gewisse Unfähigkeiten oder Dysfunktionalitäten öffentlicher Diskussionen hin oder eben Tabus (die m.E. aber durchaus ihre Berechtigung haben können).
@metepsilomena
Diese Argumente zugunsten der Pseudonymität lese ich häufig. Mir persönlich würde es genügen, daß hinter einem Pseudonym eine Identität erkennbar ist (wie bei metepsilomena der Fall). Die meisten pseudonymen Poster nützen ihre Unerkennbarkeit aber, um ihre Identität aufzubrechen, zu multiplizieren oder zu verwischen. Was früher ein Zeichen der Avangarden war, nämlich Identität zu unterlaufen, ist unter digital-massenmedialen Bedingungen zu einem frivolen Spiel geworden, das es den Individuen ermöglicht, sich von aller Verantwortung für von ihnen Abgesondertes freizumachen. Die Ergebnisse solchen Sich-Äußerns sind meistens nicht »avantgardistisch«, sie dienen in erster Linie der Triebentladung, sind Ausdruck davon (und als solcher bis zu einem gewissen Grad auch von Interesse).
Ich halte trotz allem dafür, daß Verantwortlichkeit stärker eingefordert ist, wenn sich der Betreffende offen äußert, d. h., im digitalen Jargon, mit Klarnamen. Für das Schutzbedürfnis, das metepsilomena ebenfalls anführt, habe ich einerseits Verständnis, andererseits frage ich mich, in welchen Zeiten wir leben, wenn freie Meinungsäußerungen psychischen oder physischen Terror befürchten lassen. Wenn es tatsächlich diese reale Verwilderung gibt, dann muß doch dringend Anhilfe geschaffen werden, im realen Bereich und nicht im symbolischen oder virtuellen. Das aber wird nicht in der Ano- und Pseudonymität gelingen.
Es wird eher so sein, daß die User, also die digitalen Konsumenten, sich heillos überschätzen. Es wird doch zu jedem Furz millionenfach kommentiert, wer will all dem ernsthaft nachgehen? Welcher Arbeitgeber, Staatsschüter, Nachbar oder persönliche Feind wird sich durch so ein Dickicht schlagen? In der durch digitale Kommunikationstechnik ermöglichten Riesenmasse wird die einzelne Meinung, scheinbar demokratisch aufgewertet, tatsächlich ins Bodenlose entwertet.
Ich stimme zu, dass man (auch) anders Abhilfe schaffen muss. Verantwortung ist ebenso in Ordnung und ich finde Triebentlastung zwar nicht verdammenswert, aber sie muss nicht regelmäßig an Orten der öffentlichen Diskussion stattfinden. — Dennoch: Vielleicht ist das ein Übel, das man in Kauf nehmen muss. Es passt nicht ganz hierher, aber Wahlen sind in Demokratien aus guten Gründen anonymisiert (man kann nachvollziehen wer gewählt hat, aber nicht was), man könnte hier doch dieselben Argumente ins Feld führen.
Dies etwa ist Geschichte. Was kommen wird, wissen wir nicht, aber der Zugriff auf Privates ist ein Faktum, von Seiten der Ökonomie, der Geheimdienste oder Hackern. Und es wird zu Zwecken der Diskreditierung eingesetzt werden und für anderes auch. Vielleicht bin ich da überempfindlich, aber dass nach einem Bewerbungsgespräch jemand über google oder profilerstellende Suchmaschinen meine politischen Ansichten und etliche private Details erfahren kann, will ich einfach nicht (ich könnte natürlich schweigen, ja). —Ich fürchte Klarnamen spielen den falschen Leuten in die Hände.
Ich habe auch immer gedacht, dass die immensen Datenmengen nicht handhabbar sind, ich wurde eines besseren belehrt (ich glaube wir alle). Es geht auch nicht nur darum, dass jemand etwas über mich erfährt, es geht darum, dass all diese Daten auch falsch verknüpft werden, es landen dann Menschen auf Flugverbotslisten, durch irgendwelche Zufälle für die sie nichts können oder sie bekommen einen Kredit nicht, weil jemand einen ähnlichen Namen hatte (mir ist etwas Ähnliches schon passiert). — Kündigungen wegen Facebookpostings gab es bereits und Straßenzüge werden nur nicht auf Personenebene kategorisiert und gerastert, weil das gesetzlich untersagt ist (man könnte es und das ökonomische Interesse daran ist vorhanden).
Ergänzt sei noch, dass ich das über einige Jahre hinweg anders gehalten und vor allem in einem Diskussionsforum mit Klarnamen geschrieben habe (jeder dort verfasste Kommentar war über google auffindbar). Mit dem Start meines Blogs habe ich das dann aufgegeben.
@metepsilomena
Vor kurzem ging eine Meldung durch die österreichischen Medien: eine PR-Firma hatte für mehrere Kunden eine große Zahl von Postings verfassen und an einschlägige Foren schicken lassen. Die Kunden waren große, finanzkräftige Firmen sowie eine alteingesessene politische Partei. Freie Mitarbeiter der Firma hatten, selbstverständlich unter Pseudonym, ca. 100.000 »falsche« Kommentare geschrieben (mit Rechtsschreibfehlern, damit es echter aussieht) und verschickt. Also Fakes, um es in heutigem Deutsch zu sagen. Auf Nachfragen von Journalisten fand die Firma an diesem Vorgehen keinerlei ethische Bedenklichkeiten. Die Lüge ist im Werbegeschäft und offenbar auch beim normalen Konsumenten (sprich User) ein völlig normales Mittel, oder sogar die vorherherrschende Lebensform.
Mein persönlicher Schluß daraus: Ich traue dem, was an »demokratischer Meinung« veröffentlicht wird, weniger denn je. Es interessiert mich nur mehr, wenn ich geistige und psychische Verfassung des Durchschnittsbürgers studieren will. Mein Entschluß, in den Massenmedien nichts mehr zu äußern (es sei denn als Autor), ist dadurch bestärkt.
Foren wie Begleitschreiben interessieren mich aber weiter. Wichtige Faktoren dabei sind die Überschaubarkeit – wie in der alten griechischen Agora oder auch im bürgerlichen Salon. Am Verhalten Keuschnigs (ebenfalls ein Pseudonym, aber klar identifizierbar) schätze ich, daß er sich nicht bloß wie ein Moderator verhält, den man auch automatisieren könnte, sondern wie ein Gastgeber in einem Salon. Wenn jemand gegen wichtige Regeln verstößt oder das Forum mehr stört als bereichert, bittet er ihn, zu gehen. Und wenn jemand willkommen ist, drückt er es ebenfalls aus. Dieses Verhalten hat etwas von der analogen, der wirklichen Welt. Ich finde es wichtig, daß etwas davon in digitalen Räumen bewahrt wird. Wo nicht, setzt sich diese neue, anarchische, unethische, zugleich dauererregte und moralinsaure »Diskussionskultur« durch.
@Leopold – Schöner Beitrag. Habe exakt dieselbe Adaption hinter mir. Erst Neugier, Partizipation, dann Ärger, Distanz, zuletzt die Meta-Ebene Beobachtung, durchaus mit Gewinn.
Was mir aufgefallen ist: der Begriff »Vertrauen«. Völlig zurecht, denn die demokratische Öffentlichkeit setzt ein Mindestmaß an Vertrauen voraus. Das war mir schon als ganz junger Mensch bewusst. Dann musste ich feststellen, dass in der theoretischen Reflexion dieser o.ä. Begriffe keine Rolle spielen. Und ich musste feststellen, dass jede links-lastige Analyse den Antagonismus Kapital-Bürgerlichkeit betont, also die Wirtschaftinteressen als »Fremdinteressen« und Demokratie-Gefährdung einstuft. Dabei ist der »Widerstreit« (Kant), also der bewusst antagonistische Meinungswettbewerb der eigentliche Demokratie-Verbraucher (inkl. der Abgründe in den Foren). Der Kapitalismus kann sich längst nicht so viel Misstrauen leisten wie die Demokratie tagtäglich aufwirft.
Will sagen, bald schon war mir klar, dass an allen Ecken und Enden getrickst und gefremdwörtelt wird, wenn’s ans Öffentliche geht. Mit Schopenhauer: mir kam die distinguierte Diktion des typischen Demokraten (Journalist, Intellektueller, Funktionär) ausgesprochen undeutsch vor...
Flieg ich jetzt raus, Georg?!
@Leopold Federmair
Leider wird heute vielerorts ähnlich gearbeitet; nicht dass ich diese Praktiken gutheiße, aber man übersieht dabei, wie demokratische Diskurse funktionieren: Wenn man sich daran erinnert, relativiert sich das Problem von selbst: Entscheidend ist nicht, wer etwas sagt oder was er sagt, sondern die Argumente die er verwendet; die Struktur, die Logik seiner Äußerung, die Belege, die er anführt und die Form (bei offensichtlichen Rechtschreibfehlern, hingeworfenen Halbsätzen, sollte man skeptisch werden). Dann kann man fragen, was für eine Schilderung vorliegt und ob sie überprüft werden kann (bin ich gezwungen der Quelle zu vertrauen oder nicht?), usw. Daran ist Geschriebenes in der öffentlichen Diskussion zu messen oder sollte es gemessen werden: Meinung ist völlig uninteressant (allerdings: nicht unbedeutend).
Der Text der das Thema auf die Tagesordnung gesetzt hat, findet sich dort(für die die ihn noch nicht kennen); in der SZ wurde das kurz danach auch aufgegriffen, glaube ich.
Sie haben völlig recht, dass die Diskussion hier (und auch an anderen Orten) weit »gewinnbringender« ist: Man hat ähnliche Interessen, legt auf ähnliche Dinge wert und kennt einander (vielleicht nicht persönlich, aber durch das was man schreibt und das was mitschwingt). Umfang und Größe spielen auch eine Rolle. Es hat nur einen (gravierenden) Nachteil: Man schmort, wie Gregor das auch immer wieder ausdrückt, im eigenen Saft (Widerspruch und Antithesen sind etwas Wichtiges, kommen aber eher von außen oder »Neuzugängen«).
Vielleicht kann man das Standard-Forum mit einer Fahrt in der U‑Bahn oder der Straßenbahn vergleichen: Dort wo viele Menschen zufällig oder desselben Bedürfnis wegen zusammenkommen, rempelt man einander oder tritt dem anderen auf die Füße. Manchmal ist man auch freundlich, sonst bestenfalls höflich. Ich glaube dennoch, dass beides gebraucht wird, allerdings nicht von allen (Zwang gibt es in dieser Hinsicht ja zum Glück nicht).
@Leopold Federmair: Der Artikel tauchte auch in meiner Linkliste auf und ich war zunächst auch so empört wie Sie. Mittlerweile hat die Empörung nicht nur abgenommen, sondern sich beinahe ins Gegenteil verkehrt. – Grund war zunächst, dass ich über den Wikipediaeintrag zu »Claqueur« stolperte und die Vielfalt der Aufgaben führte mir noch einmal sinnfällig vor Augen, wie lange der Mensch schon »social engineering« betreibt, das geht eben auch ganz analog... Und vielleicht ist der Artikel ja selbst auch ein Beispiel; weil er dezent auch diese FAZ-Akkorde der Digitalapokalypse anklingen lässt, dass die digital-sozialen Klickwerke uns allmählich in Cyborgs morphen. Das vermarktet sich in kulturellen Mileus (auch des Internets) doch ganz gut.
Die Skepsis mag generell angebracht sein.. Und auch ihr Unwohlsein gegenüber der Masse (Kierkegaard: »Die Menge ist die Unwahrheit«) kann ich nachvollziehen, aber ein Stückweit muss man das in einer Demokratie doch aushalten, auch wenn es bequemer wäre die Massenkultur und das alles als Leben im falschen abzutun.
PS. Aus dem Wikipediaeintrag zu »Claqueur«: «Die Aufgaben der Claque wurden auf spezialisierte Personen verteilt. Im Einzelnen gab es:
Chauffeurs (Heizer): Sie standen tagsüber vor den Ankündigungen und hatten das Stück vor den Umstehenden zu loben.
Chatouilleurs (Kitzler): Sie äußerten sich vor Anfang der Vorstellung und in den Pausen positiv über die Darbietungen.
Connaisseurs (Kenner): Sie hatten die Aufgabe, während der Vorstellung positive Bemerkungen fallen zu lassen.
Rieurs (Lacher): Sie hatten die Umsitzenden mit ihrem „spontanen“ Gelächter anzustecken.
Pleureurs (Heuler): Ihre Aufgabe war es, während rührender Szenen zu schluchzen.
Tapageurs (Aufsehenmacher): Sie hatten heftig zu applaudieren.
Bisseurs („Nochmaler“, „Zugabe“-Rufer): Sie riefen nach der Vorstellung „Da capo“ und „Zugabe“.»
[Ich muss gerade an die Fernsehserien (»Komödien«) denken, in denen kurz nach einem Witz oder einer komischen Situation, Gelächter eingespielt wird. — Das passt im Grunde auch hierher, ist aber für jeden erkennbar.]
Vielen Dank für das Kompliment mit dem Gastgeber des Salons. Ein Salon, der wenige Wortmeldungen hat und damit zwangsläufig das Gegengewicht zu den Foren des Standard oder heise sein muss. Ich glaube, hierin liegt auch der Punkt: In kleinen und kleinsten Foren können Diskussionen noch geführt werden. Wenn es 600 oder mehr Kommentare gibt (von vielleicht 80 oder mehr Personen) ist das nicht mehr möglich, weil die einzelnen Diskussionsverästelungen nicht mehr nachvollziehbar sind, selbst wenn es noch um das jeweilige Thema gehen sollte. Selbst solche sehr guten Blogs wie wiesaussieht kommt da an Grenzen, weil es immer genügend Leute gibt, die vorbei kommentieren und zwar nicht fruchtbar, sondern eher furchtbar. Es entsteht dann eine Kakophonie, vor der ich ganz schnell kapituliere.
Interessant ist, dass Bestrebungen von Forumsbetreibern, diese Knäuel zu entwirren, fast regelmässig mit Empörung abgewiesen werden, wie hier. (Rötzer ist für mich zwar nicht Ernst zu nehmen, aber die Argumente sind immer die gleichen.) Dabei gibt es nur einen Grund, dem Störer und Troll weiterhin ein Feld zu geben: zur Abreaktion dunkler Gedanken, als Affektabbau. Insofern wären solche Foren psychopolitische Rauminstallationen, am ehesten vielleicht vergleichbar mit Boxsportvereinen, in denen labile Jugendliche über den Umweg des institutionell geregelten Faustkampfs ein gewisses gesellschaftliches Rüstzeug erwerben. Der Unterschied: Boxgruppen haben sehr gute Erfolge zu verzeichnen; die Trolle in den Foren bleiben eskalationsbereit.
@metepsilomena
Ich würde das Anonymitätsprinzip bei demokratischen Wahlen nicht mit Stellungnahmen in anderen Kontexten in Zusammenhang bringen. Das Argument ist mir manchmal untergekommen, in überzogener Form: Wer sich für Klarnamen ausspricht, untergräbt die Demokratie. Diskussionen sind aber keine Abstimmungen. Bei ersteren geht es um individuelle Äußerungen, eventuell um Überzeugung. Bei zweiteren geht es darum, die Meinungsstruktur einer Gesamtheit (alle Wahlberechtigten...) zu erfassen.
(Das reale Leben hält mich oft tagelang von der digital world fern, deshalb dann meine verspätete Reaktion. Auch ein Problem des Digitalen: daß man sich dauernd zur sog. Echtzeit gedrängt fühlt.)
@Phorkyas
Demokratie war mir jahrzehntelang eine Selbstverständlichkeit. In letzter Zeit nicht mehr so ganz, ich frage mich in bestimmten Fällen, ob Demokratie zielführend ist oder ob nicht andere Kriterien wichtiger sind. Es gibt in der westlichen Welt einen unbewußten Reflex, etwa in dem Sinn: Hauptsache Demokratie, dann wird alles gut.
»Gerissen« (so würde ich es in der Realwelt nennen) hat es mich einmal, als Keuschnig die Bemerkung machte, Demokratie sei in gewisser Weise immer mit Populismus verbunden. Es kommt natürlich auf die Definition der beiden Begriffe an. Zahllose Forendiskutierer, die sog. User, fühlen sich heute als Repräsentanten von Demokratie. Ich beobachte aber, daß ihr Kommunikationsverhalten eher dem kommerziellen »Der Kunde ist König«-Prinzip verpflichtet ist als der Annäherung an das, was man früher als Wahrheit bezeichnet hat. 30, 40 Jahre Neoliberalismus haben die westliche Demokratie tiefgreifend verändert. Vielleicht ist mehr Skepsis angebracht.
Christoph Möllers hat einmal formuliert, dass Populismus und Demokratie zu unterscheiden, aber nicht zu trennen sind. Für ihn sind populistische Strömungen, die sich bspw. in Medien, an Stammtischen oder auf der Straße äußern nicht Beweis für eine »Mehrheit«. (Die heftig geführte Diskussion um den Stuttgarter Flughafen gibt ihm da bspw. Recht: Alle Medien suggerierten im Vorfeld, dass die Bevölkerung dagegen ist – bei der Abstimmung stellte sich dann das Gegenteil heraus.) Für Möllers besteht eine Demokratie vor allem aus in freien Wahlen hervorgegangenen und entsprechend verwalteten Institutionen, die am Ende verlässlich Mehrheiten abbilden, nach denen sich politische Entscheidungen orientieren. Das Problem ist, ob populistische Strömungen von politischen Mandatsträgern aufgenommen, verstärkt oder ignoriert und konterkariert werden. Da Politiker auf Mehrheiten angewiesen sind, müssen sie balancieren. Ignorieren sie alle sich bildenden populistischen Strömungen (das kann in alle politische Richtungen gehen), werden sie schnell als abgehoben und elitär angesehen. Geben sie aus Gründen der Machtbeschaffung den Strömungen willig nach, sind sie »Populisten«. Dennoch kann kein Politiker gegen mächtige Willensäußerungen der Masse agieren (hier spielen die Medien eine wichtige Rolle). Wohin eine elitäre Politik führt, kann man anhand der EU in Deutschland sehen: Das Thema wurde jahrelang parteiübergreifend nicht diskutiert und per se wurden alle Entwicklungen gegen durchaus »populistische« Strömungen umgesetzt. Das Resultat solcher Politik zeigt sich in Protestparteien, die sich angeblich außerhalb des politischen Spektrums verorten (in Wahrheit ist das natürlich ein Märchen) und dem Volk nach dem Mund reden. Genau dies geschieht immer häufiger: Parteien geben sich keine Programmatik für die sie dann werben, sondern scannen Meinungsströme ab, die sie variieren und dann übernehmen. Ich behaupte, dass das immanent ist für Mediendemokratien.
Es gibt im übrigen Untersuchungen, die die Unsinnigkeit zeigen, in sich neu konstituierenden Staaten, die gerade eine Diktatur abgeschüttelt haben, als Erstes Wahlen abzuhalten. Einer der Gründe ist, dass es oft genug keine politische Infrastruktur gibt und auch kein entsprechendes Personal. In Deutschland wurde erst 1949 im Bund gewählt; vorher wurden Institutionen und Grundlagen geschaffen. Heute drängt der Westen zumeist übereilt auf »freie Wahlen«; in Wirklichkeit ist das reine Symbolpolitik.
@Gregor
Ich finde diese Diskrepanz zwischen wieesaussieht und Begleitschreiben interessant, kann sie aber nicht erklären (Ist das nur Zufall? Hängt es an den Personen selbst? An der Thematik, die hier doch breiter ist?).
@Leopold Federmair
Für beides (Pseudonyme und Wahl) gilt doch: Entweder ist etwas zu befürchten oder nicht; die Konsequenzen können in beiden Fällen individuell sein oder ein »Kollektiv« (welcher Größe auch immer) betreffen (diejenigen die »falsch« wählen verlieren Wohnung oder Beruf, müssen bei Ämtern länger warten, bekommen keine Förderungen, ... diese Konsequenzen sind für politische Äußerungen, die auf Personen bezogen werden können ebenso denkbar; dazu kommen dann noch die oben bereits erwähnten [möglichen] Konsequenzen).
Ja, Aktualität ist ein Problem der digitalen Welt im Speziellen und der Moderne im Allgemeinen. — Mich stört es nicht ein paar Tage zu warten.
Zur Demokratie: Ich kenne kein »besseres« System als unsere Demokratien (Menschenrechte, Gewaltenteilung, Minderheitenschutz, Konsensfindung, ...). Das bedeutet aber nicht, dass sie perfekt sind oder nicht missbraucht werden können, etwa durch Interessen verzerrt, weil diese sich nicht dem üblichen Gang der Dinge fügen, sondern die Hintertüre nehmen. Die öffentliche Diskussion braucht »Popularisierung«, also Vereinfachung, die aber keine Komplexitätsreduzierung darstellen sollte (demokratische Entscheidungsfindung und Diskurs sind keine wissenschaftlichen Angelegenheiten, fußen aber u.a. auf ihren Ergebnissen; wie man zu diskutieren hat, verbietet unsere Demokratie vorzuschreiben, was die systematischen Vereinfacher in ihr Recht setzt ... ich weiß daraus keinen Ausweg).
@ Leopold
In der Tat, es gibt keinen Ausweg. Die »systematischen« Vereinfacher bestimmen das diskursive Milieu, es ist die Demokratie mitnichten philosopher’s darling. Ich nehme die Sache überdies persönlich und sage (mir): Unnötig, da mit zu verhandeln. Das allgemeine Niveau ist zur Beurteilung der Errungenschaften des Westens sehr viel wichtiger als die Idealisierung. Überhaupt gibt es zwischen einer realistischen Einschätzung und einer idealistischen Beschreibung, etwa durch einen Funktionär, einen Himmel weiten Unterschied. Für den einen ist die Wahrheit wichtig, für den anderen der Erhalt der sozialen Konstruktion.
Nebulös wird die ganze Sache, wenn Intellektuelle daran gehen, eine gemischte Einschätzung vorzunehmen. Dann weiß man eigentlich gar nicht mehr, was man davon halten soll. Abschaffung?! Interne Kritik?! Dialektik?!
Nö, Demokratie ist einfach nur... selbstbegründend. Sie braucht imgrunde keine Legitimation.
@die kalte Sophie
Dass Demokratie selbstbegründend und per se ohne Legitimation ist, finde ich interessant. Wäre sie dann immer das richtige? Ist das nicht – pardon – eine typisch eurozentristische Sicht? Müssen wir dann Dissidenten wie bspw. in China per se unterstützen, auch wenn es zu Bürgerkriegen führt? Und was sagen wir den Stammesführern in Afghanistan, die diese Legitimation nicht gelten lassen?
Will sagen: Demokratie ist immer dort ohne Legitimationsdruck, wo sie bereits installiert ist. Sie ist dann (nochmals pardon) alternativlos. Aber sie kann nicht Gesellschaftssystemen, die seit ‑zig Generationen in anderen politischen Formen leben, oktroyiert werden. Übertrieben formuliert: Demokratie hat sich in Europa im Laufe der Jahrhunderte in evolutionären wie auch revolutionären Prozessen herausgebildet. Im 20. Jahrhundert bedurfte es dafür zweier schrecklicher Kriege. Deren Ziel war nicht Demokratie, aber es war das Resultat.
@ Gregor
Exakt das, was ich sagen würde. Demokratie legitimiert sich a posteriori, und ist deshalb kein Export-Schlager.
Müssen wir den Dissidenten helfen?! Ja und nein. Dissidenten haben das Recht, politisches Asyl zu beantragen. Das geht nicht über meinen Schreibtisch, oder rührt an mein demokratisches Selbstverständnis. Gelegentlich sieht es ja so aus, als sei der demokratische Mensch der unglücklichste von allen. Denn er kann ja keine Ruhe finden, solange noch ein Mensch auf der Welt aufgrund seiner politischen Überzeugungen verfolgt wird. Aber das sind sehr bewusst platzierte Übertreibungen, die eine »totale Empathie« in Anspruch nehmen. Wer garantiert mir denn, dass der Dissident nicht ein querulantes A***loch ist, der die Werte gegen den Strich liest?! Keiner. Es gibt kein Heldenschema »für« Demokratie, gegen »Autoritarismus«, das eine generelle Gültigkeit aufweist. Es kommt, wie es so schön heißt, darauf an...
De facto, wird ein solches Heldenschema natürlich kommuniziert, und man höre und staune, sogar besonders gern bei Ausländern angewendet. Das wiederum erklärt sich leicht: Wir sind in Deutschland.
@metepsilomena
Ein besseres als das demokratische System wüßte ich auch nicht – und ohne »System« werden wir wohl nicht auskommen. In der Demokratie wählt man meistens ein kleineres Übel, und Demokratie ist an sich das kleinere Übel. Nichts für Idealisten (@Sophie).
@Keuschnig
Für die meisten Parteien gilt, und zwar in immer stärkerem Maß (auch für die Grünen): Sie haben, wollen und brauchen kein Programm. Das heißt aber, daß sie keinen längerfristigen Perspektiven folgen. Andererseits wäre eine langfristige Politik in vielen Belangen, zum Beispiel Umwelt- und Energiepolitik, unbedingt nötig. Das Schlagwort »Nachhaltigkeit«, das hin und wieder fällt, ist in den meisten Fällen nur ein weiterer populistischer Slogan.
Statt dessen werden Meinungsströme abgescannt – das nehme ich auch so wahr. Diese Ströme werden wiederum über die Medien vermittelt (auch den Politikern und den PR-Agenturen, die ihnen vorgeschaltet sind). Aber spiegeln die Medien Meinungsströme wider, oder erzeugen sie sie? Oder genauer: Erzeugen sie vielleicht nur solche Sachverhaltsdarstellungen und Urteile, die leicht konsumierbar und deshalb gut verkäuflich sind? Der Neoliberalismus hat alle Ebenen im Griff, das Alltagsleben der Bürger und ihr Denken, die Medien, die Politik. Ziel ist jeweils der kurzfristige, quantitativ, d.h. meistens finanziell, zu bemessende Erfolg.
@Leopold Federmair
Ich tue mich schwer mit dem Rubrum »Neoliberalismus« – zum einen, weil er eigentlich etwas anderes bedeutet, zum anderen weil damit der Begriff der Liberalismus m. E. unzulässig diskreditiert wird. Aber egal, darauf kommt es nicht an.
»Nachhaltigkeit« ist dahingehend kein Kriterium, mit dem sich politisch Wahlen gewinnen lassen, weil es keinen unmittelbaren Effekt gibt. Wenn die Steuern gesenkt oder erhöht, Glühbirnen verboten oder neue Schulformen implementiert werden – dann sind die Auswirkungen (so banal sie auch sein mögen) unmittelbar greifbar. Die SPD hat mit Schröder 1998 den Wahlkampf u. a. damit gewonnen, dass man eine Zuzahlung zu Medikamenten, die die Kohl-Regierung beschlossen hatte, wieder zurücknahm. Ich glaube, die Summe, die man da maximal sparen konnten waren damals 4 oder 8 Mark (2 bzw. 4 Euro). Aber das war sofort nachprüfbar. Was Menschen fehlt – darüber habe ich neulich noch etwas gelesen – ist die Abstraktion, Zukünftiges in das aktuellen Handeln hineinzunehmen.
Die Frage ob Medien Meinungsströme erzeugen oder nur abbilden ist m. E. eindeutig: In der Regel forcieren sie Meinungsströme, spitzen zu, vereinfachen oder – seltener – verharmlosen. Beides stellt sich immer mehr als ungut heraus, weil Problematiken unzulässig vereinfacht werden. Das hat mit den (angeblichen ) Gesetzmäßigkeiten von Medien zu tun: Gehört, gesehen, gelesen wird nur dasjenige, dass sich pointiert gibt und überzeichnet. Das wiederum dürfte seine Ursache in der Fülle der unterschiedlichen Medien haben, die um Aufmerksamkeit buhlen und dabei immer versucht sind, die andere Schlagzeile zu übertreffen.
Demokratie steht mit der europäischen und später auch amerikanischen Geschichte in Verbindung; sie wurde spätestens mit dem Ausklang des 20. Jahrhunderts aus unterschiedlichsten Gründen als die Staatsform angesehen, die auch außerhalb sogenannter westlicher Gesellschaften anzustreben und zu implementieren wäre (das war teilweise ein Missverständnis [auch im Zuge der Rede vom Ende der Geschichte], ist eine euro- oder westlich zentrierte Sicht, eben: ahistorisch, idealisiert und mit Machtansprüchen verknüpft, also eigentlich kolonial gedacht [Afghanistan, Irak, Ukraine]).
Medien erzeugen letztendlich und gemeinsam mit unserem Gehirn Realitäten, je nachdem welche man nutzt und welche nicht, was man anerkennt oder verwirft und dem was irgendwie unbemerkt (unbewusst) weiter wirkt; das war schon immer so, weil man vieles was man wissen möchte oder muss, nicht durch eigene Anschauung prüfen kann, sondern auf Vermittlung angewiesen ist; heute allerdings hat die Präsenz und die Nutzung elektronischer (digitaler) Medien ein Ausmaß angenommen, das früher nicht denkbar war (und eine eigene Dynamik entfaltet).
Der Begriff »Neoliberalismus« ist ein Kampfbegriff geworden, der für einen radikalen Liberalismus steht, für möglichst wenig Staat und große individuelle und ökonomische Freiheit: Historisch gesehen ist das wenig verständlich und es scheint auch den offensichtlichen Interessen derjenigen zu widersprechen, die den Begriff verwenden (der Neoliberalismus war zumindest auch die Idee soziale Gedanken mit dem freien Markt zu verbinden; heute würde man noch »öko« anhängen). Für Leute, die Positionen nahe des Libertarismus vertreten, ist der Neoliberalismus (historisch gesehen) »Linksabweichlertum« (weil er einen Zusatz zum Liberalismus darstellt, der nicht benötigt wird, eben »neu« ist).
Wie auch immer: Diejenigen die für Freiheit eintreten, müssen (oder müssten) sich damit auseinandersetzen wie Freiheitskonflikte gelöst werden können. Daran sind sie zu messen. Und das bedeutet auch, dass man über Konzepte nachdenken muss (»Werte«), die jenseits der Freiheit Berechtigung haben und diese Konflikte lösen.
Da muss ich widersprechen: der Begriff »Neoliberalismus« war nie ein designativer Begriff, sondern von Anfang an ein kritischer, bzw. polemischer Begriff, zunächst gegen Morton Friedman. Er ist nicht mal ambivalent, und nie als Bezeichnung einer Wirtschaftspolitik gebraucht worden, für die man selbst gerne eintreten würde. Neoliberal sind immer die anderen...
Ich verwende den Begriff »Neoliberalismus«, um eine Ideologie zu bezeichnen, die sich zur Legitimierung einer bestimmten Wirtschaftspolitik herausgebildet hat. Diese Wirtschaftspolitik wurde in der Ära Thatcher und Reagan begonnen und in zahlreichen westlichen Ländern ohne große Unterbrechungen, natürlich mit Adaptionen, bis heute fortgesetzt. Die Ideologie, die ich meine, hat sich von Anfang an als ideologiefrei (in diesem sinn »freiheitlich«) ausgegeben. Und sie ging und geht einher mit der Kommerzialisierung von kulturellen Produkten, die ihrerseits zu einem immer bedeutenderen Wirtschaftsfaktor wurden und werden. Eine Autorin hat in einem frühen Rückblick auf die Anfänge des Neoliberalismus von »Terror der Ökonomie« gesprochen. Anfang des 21. Jahrhunderts kann man vielleicht spezifizieren: Terror der Finanzwirtschaft. Was m. E. zu wenig bemerkt wird, ist, daß diese ideologiefreie Ideologie ohne dirigistische Maßnahmen in die Denk- und Verhaltensweisen der Massen eingesickert ist. Oft auch in die Köpfe von Leuten, die ihrem Selbstverständnis nach »gegen« den Neoliberalismus sind. Für die Praxis von Demokratie hat das natürlich gewisse Folgen.
Ob das Wort »Neoliberalismus« angemessen ist für die Beschreibung dieser Prozesse, weiß ich nicht. Mit »liberal« wurde in der Geschichte schon allerlei verbunden worden.
Das ist ne gute Beschreibung. Insbesondere die Glatteisigkeit, die alle Varianten des Freiheitsbegriffs inzwischen bekommen haben. Ich stehe mit all diesen Begriffen auf Kriegsfuß und benutze keine dieser Vokabeln: Wer »Freiheit« sagt, betrügt.
Auch richtig: das Denken, die Prioritäten haben sich »ideologiefrei« verändert, d.h. die Einwirkung einer Ideologie lässt sich nur indirekt belegen. Sie tritt nicht explizit auf. Freiheit ist wichtig für die Wirtschaft; die Erfordernisse der Demokratie stehen hintan. Wozu war dieses Teilnahme-System gleich nochmal gut, das fragt man sich allmählich... Braucht man das, nur weil es alternativlos ist?!
Wie gesagt: Wer für Freiheit eintritt, sollte auch anführen wie er Freiheitskonflikte lösen möchte; tut er das nicht, vertritt er den eigenen Vorteil oder die Interessen irgendeiner Klientel.
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Zu etwas, das mir zur Ausgangsthematik zu passen scheint: In der österreichischen Presse wurde unlängst ein Artikel zur Kindererziehung veröffentlicht, der einigen Wirbel hervorgerufen hat (das Versagen interner Kontrolle hat vor einiger Zeit die NZZ eingestanden, nun die Presse).
Ich finde den Umgang mit diesem Text seltsam, andererseits aber auch wieder logisch, durchaus im Sinn des Widerspruchs der oben geäußert wird, wir haben eine hohe Präsenz von Gewaltdarstellungen in Kino, Fernsehen, Nachrichten und Computerspielen, können aber kaum damit umgehen, wenn sich jemand – durchaus entgegen dem gesellschaftlichen Konsens – für den Einsatz von moderater Gewalt als ultima ratio in der Kindeserziehung ausspricht (Stellungnahmen auch dort und dort; angeblich wurden auch Kleinigkeiten nachträglich geändert).
Man findet einige abwägende postings unter der Stellungnahme der Redaktion, aber auch viele, die ich als selbstgerecht oder bigott beschreiben würde; es scheint mir, dass wenige, das, was der Artikel auch anspricht, tatsächlich nachvollziehen oder genau genug lesen, wie wohl ich damit nicht sage, dass ich dem Autor überall zustimme: Tatsächlich aber muss ein Kind, das nicht als Erwachsener an einer Persönlichkeitsstörung leiden soll, lernen wo und was Grenzen sind und welche Konsequenzen sein Handeln hat (wofür glaube ich, die Strafe stehen soll). Manche fordern, so scheint es, eine Art heile Welt, die nur ein Betrug sein kann (Schmerz, Tränen, Entbehrung und Enttäuschung sind nicht immer zu verhindern und stehen meist in Zusammenhang mit einem Lernvorgang [dass ich einmal als Kind auf eine heiße Herdplatte gegriffen habe, weiß ich heute noch]). Dass Konsequenz im Umgang mit Kindern wichtig ist, kann man kaum leugnen, dass es Situationen gibt, mit denen man praktisch kaum fertig wird, auch nicht: Was tut man, wenn ein Kind eine Milchschnitte, die man ihm aufgemacht hat, wutentbrannt auf den Boden wirft und eine neue fordert, bloß weil die beim Öffnen in der Mitte auseinander gebrochen ist? Ihm eine neue bringen?
Ich meine nicht, dass man es schlagen soll, aber alle die sich da recht wohlfeil zu Wort melden, könnten das mal praktisch erläutern.
Eine nachdenklichere Betrachtung im Profil:
»Der Tod eines durch eine siedend-heiße Strafdusche malträtierten Mädchens löste in der Wiener Twitter-Bubble evidentermaßen weniger Furor aus als Grebers Text. Diese wahre Tragödie wurde in anderen Foren abgehandelt – wo schlechter verdient und gelebt wird: in den Leserbriefspalten von „Heute“ und „Krone“. Die einzige Gemeinsamkeit der Fälle bestand in der Kritik an der mangelnden Härte des Staatsanwalts gegenüber dem jeweiligen Kindsvater.«
Es ist schon interessant und beinahe beängstigend wie da Mechanismen greifen und sich verstärken; in Zukunft wird man warten müssen, bis sich der Sturm gelegt und die Karawane weiter ist, um überhaupt noch diskutieren zu können (oder sich wo anders hin zurückziehen müssen). — Und was da alles auf der Strecke bleibt: Bedacht, Argument, Vernunft, Genauigkeit, Lesevermögen, Nachdenken, ... gerade weil der Text ambivalent ist und ja, einen Normenverstoß beinhaltet (der auch zurecht kritisiert wird). — Können diese Momente von Fremdheit, die Konfrontation mit etwas anderem, von einer angeblich liberalen Gesellschaft nicht ertragen werden? Müssten sie das nicht? Hieße das andernfalls nicht beinahe gleiches mit gleichem zu vergelten?
Reflexhaft, archaisch, triebgebunden, so kommen mir viele der Antworten vor; eine unbewusste »Fehlfunktion« von demokratischer Öffentlichkeit (so wie Demagogie und Populismus bewusste sind).
Zu Greber und dem Sturm-Gezwitscher: es gibt Themen, die haben den Jedermann-Status. Dazu gehören: Sex, Krieg, Verbrechen, Geld, Nahrungsmittel, etc. Da gibt es (im Prinzip) keine Schichten, Parteien, oder Weltanschauungsfraktionen, das ist ein »offenes Feld«, wie der Dichter sagt.
Wenn’s um Erziehung geht, und ein Verbrechen im Kontext vorkommt, ist natürlich der Teufel los. Der einzige Aspekt, den auch ich von anderen Medien-Ereignissen her kenne, ist der Konflikt zwischen »Verbietern« (non-normativ) und »Erlaubern« (normativ). In der Tat ist die Matrix ein bisschen Schizo... Wir kennen sie allzu gut. Vor 100 Jahren war das noch keine Über-Kreuz-Kommunikation. Spätestens mit Habermas (als Datum) haben die reaktionären Kräfte eine neue Strategie entdeckt. Und ja, darin liegt auch eine der größten Herausforderungen für den Liberalismus. Sprich: der Feind steht nun im eigenen Lager.
Mit Nietzsche, würd ich so sagen: die liberale Gesellschaft verteidigt die Anarchie des guten Gewissens. Jedem Machtproblem (Erziehung) geht sie aus dem Weg, oder bekämpft die aktiven Kräfte mit Polemik, Lärm, Denunziation.
Diesen Artikel in der Presse – Verfasser ist ein bestallter Redakteur der Zeitung! – habe ich nun gelesen. Man muß es zunächst einmal in aller Klarheit feststellen: Greber verteidigt Gewalt gegen Kinder als Erziehungsmittel. Danach aber empfiehlt sich, wie metepsilomena betont, genaue und abwägende Lektüre. Tatsächlich kann auch ich vieles von dem, was da geschrieben wird, unterschreiben, vor allem die einleitenden Bemerkungen. Bloßes Laissez-faire ist keine Erziehung, nützt den Kindern nicht und ist eines der Strukturprobleme in den Gesellschaften westlichen Typs.
Allerdings hat es mich gleich zu Beginn meiner Lektüre gerissen (passiert bei aufmerksamem Lesen häufig). Der Mann bezeichnet sein ach so wunderbares Kind als »pflegeleicht«. Gewiß, eine flott hingeworfene, in der Umgangssprache heutzutage verbreitete Floskel – was anderes soll man erwarten von der Journaille, die es eingestandenermaßen viel zu eilig hat, um Sprachbewußtsein walten zu lassen. Als »pflegeleicht« würde ich Gebrauchsgegenstände bezeichnen, aber keine Menschen. Der bewußtlose Gebrauch von Floskeln sagt etwas über Menschen. Mir ist die ostentative Kinderfreundlichkeit Grebers sofort suspekt geworden. Ich glaube ihm nach der Lektüre seines Artikel nicht, daß die Erziehung in seinem Haus so wunderbar glatt (inklusive kleiner Gewaltanwendungen) abläuft, wie er vorgibt. Mein Bigotterieverdacht hat sich nach dem Ende der Lektüre erhärtet. Da finde ich unbewußte Selbstwidersprüche, hervorlugende Schizophrenie (@Sophie). Greber legt sich seinen kleinen Sohn über die Schenkel, um ihn – natürlich nur »leicht«, eh klar! – zu versohlen. Die Handlung wird aber sogleich abgebrochen, Vater und Kind lachen darüber. Was ist das, wenn nicht Inkonsequenz? Dieselbe Inkonsequenz, die er anderen Eltern vorwirft. Wer macht sich da zum Clown, wenn nicht Greber? Was für ein Erziehungsmittel soll diese Lustigkeit sein?
Ich lese und überdenke solche Stellungnahmen wie die des Presse-Redakteurs ohne dauernden Bezug auf theoretische, ideologische usw. Fragen. Ich bin selbst Vater, meine Tochter ist jetzt acht Jahre alt. Ich habe sie nie geschlagen, an den Ohren gezogen, versohlt. Anders als Gerber (oder wie er heißt) finde ich diese Mittel nicht angemessen. Vor allem aber: Ich kann mir mich als vorsätzlichen Gewalttäter gegenüber einem Kind nicht vorstellen und habe mich in einem inzwischen schon recht langen Erwachsenenleben nie in dieser Form betätigt. Ich kann mein Kind nicht schlagen. (Einmal wurde es von mir sogar gefordert. Abgelehnt! Unmöglich!)
Was ich allerdings verstehen kann, ist Gewaltanwendung im Affekt. Das Zusammenleben mit manchen Kindern ist schwierig, nervenaufreibend, anstrengend. Wenn ich meinem Kind zum Beispiel sage, es soll sich beeilen (was ich meistens nicht gern tue, aber je größer sie werden, Schule etc., desto häufiger ist es »notwendig«), kann es sein, daß ich es schubse, wenn es meiner Aufforderung nicht nachkommt. Auch solche Handlungen sind nicht »gut«, allerdings verständlich, kaum jemand wird von sich sagen können, er hätte sowas nie getan oder werde es nie tun. Die Grenzen zwischen Auffordern, Schubsen, Gewaltanwendung sind freilich unklar, es gibt da eine Zone des Übergangs. Genauso wenig wünschenswert wie Gewalt im Umgang mit Kindern finde ich die Tendenz zur Unkörperlichkeit, die der bigotte Moralismus des 21. Jahrhunderts fördert.
Wie gesagt, ich beziehe mich hier auf Handlungen im Affekt. Vorsätzliche Gewaltanwendung als Erziehungsmittel gegenüber Kindern ist abzulehnen, die entsprechende Norm sollte gesellschaftliche (und rechtliche) Gültigkeit haben.
Erziehung ist passé, das ist des Pudels Kern. Erziehung war, als die Mutter noch zuhause war. Es war eine Aufgabe. Die sog. Erziehung wird heute von den Disziplinarmächten (Foucault) vorgenommen, die Organisation der Gesellschaft lässt nichts anderes mehr zu. Deshalb lacht der Redakteur: weil er weiß, dass er sich nicht drumm kümmern muss. Erziehung ist »leicht« geworden.
Allerdings sollte man nicht vergessen, dass die Elternschaft eine »Rollenaufgabe« und kein »Brutpflegeprogramm« ist. Alle Eltern sind angelernte Hilfskräfte. Die anfallende Rollendistanz (Nachdenken über Erziehung) greift heute schneller als vor 40–50 Jahren. Dazu kommen die Paradigmen der Körperlosigkeit und Gewaltfreiheit. Intellektuelle Albernheit und Unredlichkeit sind deshalb vorprogrammiert.
@Sophie
Daß Erziehung obsolet wird, glaube ich nicht. Aus dem einfachen Grund, daß Eltern ja mit ihrer »Brut« zusammenleben müssen. Das kann unter Umständen die Hölle sein.
Endgültig von extrafamiliären Disziplinarmächten übernommen wird die Erziehung der Einzelnen erst dann, wenn die Kinder in Anstalten gesteckt werden, auch nachts, am Wochenende, in den Ferien. Es gibt derzeit Tendenzen in diese Richtung, aber auch in die gegenteilige.
Dabei muß ich mir selbst einwenden, daß durch den heutigen Dauerzugriff der kommunikationstechnischen Medien auf die Privatsphäre Kinder ruhiggestellt werden können. Zweijährige Zombies vor dem Bildschirm, das darf ich hin und wieder in gewissen Wohnzimmern oder im Zug beobachten. Selbst Eltern, die selbstbestimmten Erziehungsleitlinien zu folgen vorgeben, schließen ihre Kinder an irgendein Medium an, weil sie Ruhe wollen. Vielleicht sollte man den Herrn Greber fragen, wie er’s mit Gameboy und Internet hält. Gretchenfrage.
Sollen die Gesellschaften, in denen wir leben, nicht ganz verkommen (die Aussicht besteht, da gebe ich Ihnen recht), werden Erziehung und Bildung ernsthafter als bisher zum Thema gemacht werden müssen. Jenseits von all den (Pseudo-)Reformen und Reformen der Reformen des Systems, in dem man immer seltener auf Lehrpersonen trifft, die diesen Namen verdienen.
Auch Demokratie, wenn man überhaupt daran festhalten will, wird sich in Zukunft mit der Bildungsfrage kurzschließen müssen. Sollen sekundäre und primäre Analphabeten über das allgemeine Schicksal bestimmen, nur weil sie die Mehrheit sind?
Ich glaube auch, dass Erziehung nicht obsolet ist. Aber sie wird immer mehr als Eingriff in die Persönlichkeit gedeutet werden. In meiner weiteren Umgebung gilt es schon als Eingriff, wenn der 7jährige kein Smartphone hat. Man hat dann Angst, er werde innerhalb der Schulklassengemeinschaft nicht mehr ernst genommen. Statt Kindern ein gesundes Selbstbewusstsein mitzugeben, welches ihnen ermöglichen könnte auf derlei »Angriffe« souverän zu reagieren, gibt man dem Mainstream nach. Da ich selber keine Kinder habe und nicht weiss, wie ich mich verhalten würde, höre ich lieber auf.
Die weitaus interessantere Frage ist, ob das demokratische Stimmrecht an einen gewissen Grad an Bildung gekoppelt werden sollte. Das ist »ein weites Feld«. Praktisch ist eine solche Verknüpfung unmöglich, da Gleichheit ein ein essentieller Bestandteil dessen ist, was wir Demokratie nennen. Alles andere wäre ein Rückfall in eine Art Dreiklassenwahlrecht.
Der Trend geht übrigens in die andere Richtung: Der Gedanke greift um sich, auch minderjährigen Kindern über ihre Eltern Stimmrechte zuzugestehen.
Der Gedanke, die Bildung zu verbessern, klingt gut, aber auch hier ist die Tendenz dahingehend, dass, um bestimmte politische Ziele zu erreichen (soundsoviel Prozent eines Jahrgangs sollen die Matura erlangen), das Niveau eher nach unten gedrückt wird.
Ich glaube auch, daß eine enge Verknüpfung von Bildung und Zugang zu demokratischen Entscheidungen praktisch nicht durchführbar ist. Man wird nicht mehr tun können, als Aufklärung zu fördern und den neuen Gegebenheiten anzupassen. Alles in allem geht der Trend aber in die Gegenrichtung. Was soll unsereins – nolens volens bilden wir eine Elite – angesichts solcher Dilemmata anfangen, außer, sie immer wieder bedauernd festzustellen? An diesem Punkt ist mir die Bitterkeit der Kalten Sophie dann doch verständlich. (Elias Canetti bekannte sich im fortgeschrittenen Alter zu solcher Bitterkeit.)
Trotzdem, noch einmal: Sieht man sich diverse Überlegungen zu einer Weltdemokratie an, so steht die Forderung »One person, one vote« im Zentrum. In der globalen Perspektive zeigt sich aber noch deutlicher als in der nationalen (oder europäischen), daß die Voraussetzungen für demokratisches Abstimmen extrem unterschiedlich sind. Eine Weltdemokratie wird erst dann praktisch durchführbar sein, wenn es eine annähernde Gleichheit (ja!) der Voraussetzungen (Bildung, Wissen, Zugang zu Information, aber auch Lebensbedingungen) gegeben ist.
Die Senkung des Mindestalters für Wahlen, in Österreich derzeit bei 16 Jahren, finde ich auch nicht sinnvoll. Meines Erachtens sollten Kinder und auch Jugendliche vom politischen System verschont bleiben. Was natürlich nicht gegen politische Bildung auch schon in frühem Alter spricht. Bei kleineren Kindern stelle ich fest, daß sie an dem, was Politik im engeren Sinn ist, kein Interesse haben, und diese Interesselosigkeit finde ich manchmal geradezu vorbildlich. Kinder haben sehr wohl Interesse an bestimmten politischen Fragestellungen, Problemen usw., z. B. die Umwelt betreffend. Trotzdem würde ich ihnen nicht unbedingt Tageszeitungen für Kinder, die’s inzwischen auch gibt, vor die Nase halten. Reden, Schauen, Hören ist wichtiger.
Ich bin mir inzwischen nicht mehr sehr sicher, ob Bildung alleine vor politischen, sozialem oder ökonomischen Extremismus wirklich schützt. Zwar lässt sich die lange verbreitete These, die Nazis hätten sich vor allem zunächst aus dem Mittelstand und Bürgertum rekrutiert, vielleicht in dieser Absolutheit nicht mehr aufrecht erhalten. Tatsache ist aber, dass Bildung und Intelligenz nicht per se eine Sicherheit für eine demokratische Gesinnung darstellt.
In der repräsentativen Demokratie geht man einfach davon aus, dass die extremen Ansichten durch die reine Masse an »vernünftigen« Stimmen relativiert wird und die Mehrheit am Ende als ein rationales Ergebnis vorliegen wird. Damit emotionale Strömungen nicht doch ein verzerrtes Ergebnis produzieren, sind zahlreiche Sicherheitsmechanismen im politischen System eingebaut (zweite Parlamentskammer; Gewaltenteilung, usw). Problematisch wird es immer dann, wenn Machtstrukturen auf mehreren Ebenen sozusagen »gleichgeschaltet« sind, d. h. wenn die Machtkontrolle denen obliegt, die die Macht selber haben (z. B. sogenannte Große Koalitionen).
Der Ruf nach besserer Bildung ist in sogenannten Dritte-Welt-Ländern von Relevanz und auch unbedingt notwendig. In Industriegesellschaften führt dies dazu, Bildung quantitativ zu interpretieren. Da ist dann plötzlich wichtig, wie hoch die Abiturquote in Bundesland X ist – und zwar unabhängig davon, welche Qualität dieses Abitur noch hat.
Erziehung ist wohl, von Grundsätzen abgesehen, eine Angelegenheit die sich aus dem Wechselspiel von »Erzieher« und »Erzogenem« ergibt, daher immer individuell und evolutiv (also offen) ist und beide Seiten verändert (erzieht), weswegen alle staatlichen Institutionen, von Rudimentärem abgesehen, hieran scheitern müssen.
—
Ich hege manchmal die Hoffnung, dass vielleicht nur jene »übrig bleiben« und zur Wahl gehen, die ein Interesse an Politik haben und sich mit ihr beschäftigen. Das ist zwar aus repräsentativen Gesichtspunkten eine Katastrophe, könnte aber trotzdem eine sinnvolle Politik bedeuten (obwohl es ein Spezialfall ist, kommt mir da die oft niedrige Beteiligung bei den direktdemokratischen Entscheidungen in der Schweiz, inklusive Ergebnisse, in den Sinn).
Ich verstehe Bildung als einen im Ergebnis offenbleibenden Prozess (gebildet zu sein ist eine Aporie); Mitgefühl, Empathie und Intelligenz sind damit nicht notwendig verknüpft. — Es gibt intelligente Menschen, die »randständige« Parteien wählen, einen Vorgang den andere, weniger intelligente, als intellektuelle Selbstaufgabe ansehen würden (Intelligenz und Intellekt sind etwas anderes als Vernunft; Motive ebenso; aber all das spielt in der Politik eine Rolle).
Demokratie ist aber auch, glaube ich, logisch und folgerichtig, wenn man im Sinne der Moderne vom Individuum aus denkt und den Staat (die Gemeinschaft) als Summe individueller Rechte und Verantwortungen begreift: Da kommt man an der grundsätzlichen Idee, dass alle gemeinsam über die Angelegenheiten, die alle betreffen, in irgendeiner Form (direkt oder repräsentativ) befinden, gar nicht vorbei.