Eine Glückssuche wie Sophia verfolgt auch Cindy in Grubers neuem Roman »Chorprobe«, wenn auch auf einem anderen Feld – dem der Kunst. Cindy, die eigentlich Lucinda Franck heißt, ist 28 Jahre alt (und jünger als Sophia aus der »Beziehungsreise«). Sie arbeitet in einer Rechtsanwaltskanzlei, wobei ihr Job alles andere als gut bezahlt ist. Ihre Wohnung im 15. Wiener Bezirk (mit Ausblick auf dem Park von Schloss Schönbrunn) ist schlecht und billig eingerichtet. Das Verhältnis zur herrischen Mutter, die ihrem Kind nichts zutraut und ihm dies auch bei jeder Gelegenheit spüren lässt, ist schwierig. Trotzdem gönnt sich Cindy Gesangsunterricht und träumt von einer Karriere als Sopransängerin. Durch einen Zufall erfährt sie von einer Vakanz in einem Chor, dem berühmten »Chorus«. Sie singt beim künstlerischen Leiter Wolfgang G. Hochreither vor, wird genommen und bekommt die Möglichkeit, dort in Rahmen diverser »Projekte« als Sopranistin mitzusingen.
Praktisch von Beginn an ist die Dubiosität Hochreithers (»Wolf«) und seiner Auswahlkriterien sichtbar. Eine russische Sängerin wird, obwohl fehlerlos, wegen ihres Aussehens abgelehnt, dahingehend entspricht Cindy sofort Wolfs Beuteschema. Wolf und Cindy – die Namen erinnern stark an Märchenfiguren und Sabine M. Gruber macht sich auch gar nicht die Mühe, dies zu camouflieren, gelegentlich wird damit sogar kokettiert.
Cindy anfängliche Begeisterung wird schnell zurechtgestutzt. Von Aurelia, einer anderen Sängerin, bekommt sie Einblicke in den Chor, der nach außen sehr berühmt ist, aber in dem beispielsweise bemerkenswerte Umgangsformen gepflegt werden. So herrscht ein merkwürdiger Ironieton untereinander, der zuweilen in Neid umzuschlagen droht. Eine Mitgliedschaft im klassischen Sinne gibt es nicht; die Sänger können sich zu diversen Projekten bewerben, aber Wolf entscheidet (zusammen mit einem »Inneren Kreis«) über die Zusammensetzung. Schnell bemerkt Cindy, dass sich nahezu alle Sängerinnen und Sänger in prekären finanziellen Verhältnissen befinden. Dabei ist die Entlohnung höchst bescheiden; einmal heißt es, man müsse 85 Stunden singen um sich ein halbwegs vernünftiges Notebook kaufen zu können. Diese Situationen sind vom Chorleiter gesucht; Sänger, die finanziell unabhängig sind, kann man nicht so gut gängeln. Proben werden praktisch nach Belieben angesetzt bzw. abgesagt; wer fernbleibt, muss mit sofortiger Eliminierung mindestens aus dem »Projekt«, wenn nicht gar aus dem Chor rechnen. Auf die beruflichen Beschäftigungen der jeweiligen Sänger nimmt Wolf keine Rücksicht. Der berühmte »Chorus« basiert auf einem perfiden emotionalen Abhängigkeitssystem: Es winken schöne Reisen und künstlerischer Ruhm.
Der »Preis« ist allerdings hoch: Verlangt wird absolute Unterordnung. Die Proben laufen je nach Stimmungs- und Neurosenlage Wolfs ab. Mal sind sie Martyrien, mal ermöglichen sie ein wunderbar leichtes Aufgehen in der Musik. Militärischer Befehlston, Milde und Empathie wechseln und sind unkalkulierbar. So erzittern die Teilnehmer vor und bei den Wutausbrüchen des jähzornigen Chorleiters. Hinzu kommt, dass dessen musikalische Kompetenzen (inklusive Dirigieren) eher beschränkt zu sein scheinen.
Der Antipode zu Wolf Hochreither ist Viktor von Weiden, der Orchesterleiter, mit dem der Chor verschiedentlich auf Tournee geht. Von Weidens Künste werden durch das plastische und emphatisches Erzählen von Sabine M. Gruber auch für Laien verständlich. Es sind diese Stellen im Buch, die die ausgewiesene Musikkennerin Gruber erkennen lassen, der der Faszination für die Musik und den Chorgesang eine Sprache gibt. Hier versteht man, warum die »Chorus«-Sänger die Demütigungen durch ihren Chorleiter trotzdem aushalten.
Im Spannungsbogen zwischen einem großen Glücksgefühl während des Chorgesangs und dem sehr kurzen Hochgefühl beim Applaus durch das Publikum – wobei freilich nur der Chor selber weiß, ob wirklich alles gelungen ist – und dem Schindertum durch den Chorleiter Wolf bewegt sich der Reiz dieses Buches. Denn auch wenn die Rollen sehr früh verteilt sind, bleibt der Leser interessiert.
Wobei das Vergnügen zwiespältig ist: Zum einen wird man zum Voyeur und fragt sich irgendwann fast wollüstig, bei welcher Gelegenheit und vor allem wie Wolf wieder ausrasten und auf welche Weise er wen beschimpfen oder beleidigen wird. Mit dabei natürlich immer die Frage, ob der- meist jedoch diejenige sich dies gefallen lassen wird. Zum anderen kann man sich in Bezug auf Wolf Hochreither – trotz seiner fürchterlichen Kapriolen – nicht eine gewisse Portion Mitleid versagen: Der Chor ist sein Lebenszweck, was sich in der akribischen Archivierung zeigt, der sogenannten »Chronik«, in der Jahr für Jahr die Auftritte und Reisen des Chors dokumentiert werden. Für Wolf ist diese Chronik ein Schatz, Lebens-Werk; inzwischen sind es 19 Ordner. Cindy erfährt nun, dass sukzessive Jahrgänge aus dieser Chronik verschwinden und unbedingt verhindert werden muss, dass Wolf von diesen Diebstählen erfährt.
Unklar bleibt, ob die Statussymbole des Chorleiters (ein SUV und eine große, mondäne Villa, in der er mit seiner Frau und Tochter lebt) aus den Einnahmen des Chors sozusagen abgezweigt wurden. Die Bezahlung der eigentlichen Aktiven – Sängerinnen und Sänger – bleibt auch weiterhin schlecht: Für sechs Konzerte während einer Asienreise bekommt jeder Sänger nur 435 Euro netto; die Proben sozusagen inklusive.
Auch auf anderem Gebiet zeigt sich Wolf als skrupelloser Machtmensch: Frauen, die ihm gefallen, will er zu seinen Geliebten machen. Er becirct sie – aber wehe, sie wehren sich, dann werden sie ganz schnell entfernt. Cindy wird dies alles erfahren und dennoch fast ein Jahr mitmachen. Sie genießt das Erlebnis des Gesangs und auch die Reisen. Mit Aurelia und Maria freundet sie sich an. Den Übergriffen Wolfs kann sie weitgehend ausweichen.
In den besten nicht-musikalisch motivierten Augenblicken steht das Buch bzw. die Handlung still – und dies obwohl der Chor auf Reisen ist oder gerade in einer diffizilen Probe. Aber dieses Gefühl des Nicht-von-der-Stelle-kommens betrifft den Umgang des Chors, der Sängerinnen und Sänger, mit ihrem neurotischen Chorleiter. Und hier ist die Frage des »Warum« wiederum virulent. Auch wenn Cindy in ihr »Gedankenbuch« notiert, dass es noch nie eine zufriedenstellende Antwort auf eine »Warum«-Frage gab, so liegt sie hier im Text aufgehoben: Der Chor macht weiter, weil es den Protagonisten um die Musik geht. Das Ziel ist nicht, den Chorleiter milde zu stimmen oder Geld zu verdienen: Das Ziel ist es, der Musik, der Kunst, gerecht zu werden. Und dies nicht wegen sondern trotz dieses Wolf-Ungetüms, der es sich am Ende tatsächlich mit allen verdorben hat. Was mit ihm geschieht und welche Rolle die verschwundenen Chronik-Ordner dabei spielen, muss im Rahmen eines solchen Begleitschreibens offen bleiben.
Cindy erhält dann noch eine Liebesgeschichte zugeschrieben, die sogar das Verhältnis zur Mutter verbessert. Auch wenn Gruber hier durchaus selbstironisch den Kitsch ins Spiel springt (über Cindys Gedankenbuch), so ist dieser Erzählstrang am wenigsten überzeugend. Dagegen gelingt die Schilderung der zuweilen fast klaustrophobischen Enge innerhalb des Chors sehr schön, wobei außer den zuweilen moritatenhaften Überschriften (»Cindy denkt nach und kommt auf keinen grünen Zweig«, »Cindy fliegt nach Amsterdam und entgeht nur knapp einer Katastrophe«) keinerlei Fertigbau-Moralisierungen geliefert werden, was äußerst wohltuend ist. Inwiefern autobiografische Ereignisse von Sabine M. Gruber eine Rolle spielen – sie war sehr lange Zeit Sängerin in einem Chor – bleibt unbeantwortet; vielleicht sind solche Fragen auch ungehörig. Adornos Diktum von der »Chorgeselligkeit« als »künstliche[r] Wärme« ist eines von zwei Mottos zu Beginn des Buches. »Chorprobe« vermittelt einen Eindruck von der Kälte dieser künstlichen Wärme.