Gelegentlich hilft es ja, sich dem Medienstream auszusetzen. So wurde ich auf eine Diskussion aufmerksam, in der es wieder einmal um die Ukraine, Russland und den Westen ging. Der Zuschnitt der Sendung war auf Krawall gebürstet, der auch schon früh eintrat. Der bisher nicht durch politische Analysen besonders hervorgetretene Börsenhändler Dirk Müller wurde als »Putinversteher« angekündigt und auch flugs von Eric Frey vom österreichischen »Standard« als solcher deklariert. Dieses Etikett ist nicht neu; es dient allen Denkfaulen dazu, lästige Ansichten mit einem Federstrich zu diskreditieren. Die Geschwindigkeit, mit der dieses Attribut aus dem rhetorischen Waffenarsenal gezogen wird, ist enorm. Es erinnert von Ferne an die Einwände der Rechtskonservativen und Vertriebenen in den 1970er Jahren, die mit ähnlichen Parolen die Politik des Ausgleichs der sozialliberalen Regierung mit den Ländern Osteuropas diffamierten. »Vaterlandsverräter« war noch das mildeste Attribut. Lediglich auf die Formulierung »Breschnew-Versteher« ist damals niemals gekommen, was gewisse Rückschlüsse auf das heutige Erregungsprekariat der sozialen Medien zulässt.
In der o. e. Diskussion spielte ein Buch eine Rolle, dessen Kenntnis offensichtlich allen Teilnehmern nicht gleichermaßen geläufig war. Es heißt im deutschen Titel »Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft« und ist von Zbigniew Brzezinski verfasst, dem Sicherheitsberater einiger (demokratisch dominierter) US-Regierungen (ob offiziell oder inoffiziell). Das Buch ist von 1997 und gilt offenbar als Geheimtipp. Bei Amazon ist das günstigste Angebot aktuell bei rund 190 Euro; für ein Taschenbuch ein stolzer Preis. Die Links auf die kostenlose Zurverfügungstellung setze ich jetzt nicht um mich nicht strafbar zu machen – aber mit ein bisschen Suchen kann sich jeder eine wenn auch schlecht formatierte Version als pdf herunterladen (ein findiger Kopf verkaufte für kurze Zeit den pdf-Ausdruck bei Amazon für 30 Euro).
Um es vorweg zu sagen: Diese Lektüre lohnt trotz des Zeitabstands. Man muss Zbigniew Brzezinskis Thesen in diesem Buch nicht teilen. Für Brzezinski ist Politik ein Schachspiel (der englische Titel ist entsprechend: »The Grand Chessboard«), in dem es vor allem darum geht, strategische Vorteile für die USA zu erringen um Machtansprüche zu erhalten oder auszubauen. Ins Zentrum seiner Betrachtungen steht »Eurasien« – der Raum von Lissabon bis Wladiwostok.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion als Schock
1997 war das Auseinanderbrechen der Sowjetunion noch sehr präsent. Brzezinski versetzt sich wie ein Profiler immer wieder in die Lage derjenigen, deren Beurteilung er vornimmt. So konstatiert er die Entrüstung in der russischen bzw. ehemaligen sowjetischen Politnomenklatura 1991:
Am beunruhigendsten war der Verlust der Ukraine. Das Auftreten eines unabhängigen ukrainischen Staates zwang nicht nur alle Russen, das Wesen ihrer eigenen politischen und ethnischen Identität neu zu überdenken, sondern stellte auch für den russischen Staat ein schwerwiegendes geopolitisches Hindernis dar. Da mehr als dreihundert Jahre russischer Reichsgeschichte plötzlich gegenstandslos wurden, bedeutete das den Verlust einer potentiell reichen industriellen und agrarischen Wirtschaft sowie von 52 Millionen Menschen, die den Russen ethnisch und religiös nahe genug standen, um Rußland zu einem wirklich großen und selbstsicheren imperialen Staat zu machen. Die Unabhängigkeit der Ukraine beraubte Rußland zudem seiner beherrschenden Position am Schwarzen Meer, wo Odessa das unersetzliche Tor für den Handel mit dem Mittelmeerraum und der Welt jenseits davon war.
Und weiter:
Unter geopolitischem Aspekt stellte der Abfall der Ukraine einen zentralen Verlust dar, denn er beschnitt Rußlands geostrategische Optionen drastisch. Selbst ohne die baltischen Staaten und Polen könnte ein Rußland, das die Kontrolle über die Ukraine behielte, noch immer die Führung eines selbstbewußten eurasischen Reiches anstreben, in welchem Moskau die nichtslawischen Völker im Süden und Südosten der ehemaligen Sowjetunion dominieren könnte.
[…]
Der Wegfall der Ukraine wirkte auch als geopolitischer Katalysator. Politische Schritte der ukrainischen Führung — die ukrainische Unabhängigkeitserklärung im Dezember 1991, das Insistieren bei den kritischen Verhandlungen in Bela Vezha, daß die Sowjetunion durch eine losere Gemeinschaft unabhängiger Staaten ersetzt werden sollte, und vor allem die unerwartete, staatsstreichartige Unterstellung der auf ukrainischem Boden stationierten Einheiten der Sowjetarmee unter ukrainisches Kommando — verhinderten, daß sich unter dem neuem Namen GUS die alte UdSSR in etwas föderalerem Gewand verbarg. Die politische Selbstbestimmung der Ukraine machte Moskau fassungslos und setzte ein Beispiel, dem die anderen ehemaligen Sowjetrepubliken, wenn auch anfangs eher zögerlich, folgten.
Mentale Krise
Eindringlich beschreibt Brzezinski den Zusammenbruch, der sich in sehr kurzer Zeit ereignete und alle überrollte. Plötzlich finden sich überall souveräne Staaten, die zwar durchaus selbstbewusst, aber auch sehr fragil sind. Dies hat auch Auswirkungen auf Russland:
Rußland, bis vor wenigen Jahren der Schmied eines großen Landreiches und Führer eines ideologischen Blocks von Satellitenstaaten, die sich bis ins Herz von Europa erstreckten und an einem Punkt sogar bis ins Südchinesische Meer, ist zu einem unruhigen Nationalstaat geworden, der geographisch gesehen keinen leichten Zugang zur Außenwelt hat und der an seiner westlichen, südlichen und östlichen Flanke kräftezehrenden Konflikten mit seinen Nachbarn ausgesetzt ist. Nur die unbewohnbaren und unzugänglichen nördlichen Permafrostgebiete scheinen geopolitisch noch sicher.
[…]
Eine Phase historischer und strategischer Konfusion war somit im postimperialen Rußland unausweichlich. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und unerwartete Zerfall des Großrussischen Reiches stürzten Rußland in eine mentale Krise und löste eine weitreichende Debatte über ein neues, der gegenwärtigen historischen Lage entsprechendes Selbstverständnis aus. Plötzlich wurden öffentlich und privat Fragen diskutiert, die sich bislang nicht einmal die meisten größeren Nationen gestellt haben: Was ist Rußland? Wo ist Rußland? Was heißt es, Russe zu sein?
Brzezinski beschreibt die Lage des das zwischen Vergangenheit und ungewisser Zukunft taumelnden Russlands. So änderte sich der Kreml-Kurs laufend. Zunächst gab es freundliche Annäherungen an den Westen. Dabei weist in der ihm eigenen Art Brzezinski immer wieder darauf hin, dass Russland für die USA kein gleichberechtigter Partner sein kann: Es besteht ein Ungleichgewicht in politischer Macht, Finanzkraft, technologischem Innovationspotential und kultureller Attraktion. Dennoch hätte man Russland früh einbinden müssen. Brzezinski kritisiert, dass die Gelegenheit hierfür verpasst wurde:
Wären die Amerikaner von vornherein klar und entschieden für eine Erweiterung des Bündnisses [der NATO – G. K.] eingetreten unter der Bedingung, daß Rußland in irgendeiner Form in den Prozeß mit eingebunden werden sollte, dann hätte die spätere Enttäuschung Moskaus über die vollentwickelte strategische Partnerschaft möglicherweise ebenso vermieden werden können wie die fortschreitende Schwächung des prowestlichen Lagers im Kreml. Der richtige Zeitpunkt dafür wäre im zweiten Halbjahr 1993 gewesen, unmittelbar nachdem Jelzin im August Polens Interesse an einem Beitritt zur transatlantischen Allianz als mit den Interessen Rußlands vereinbar gebilligt hatte. Statt dessen verfolgte die Clinton-Administration unverdrossen ihre Rußland-geht-vor-Politik, die sich noch weitere zwei Jahre dahinquälte, in denen der Kreml seine Meinung änderte und gegenüber den inzwischen auftauchenden vagen Hinweisen auf die von den USA beabsichtigte NATO-Erweiterung eine zunehmend feindliche Haltung einnahm. Als Washington 1996 endlich beschloß, der NATO-Erweiterung in seiner auf die Gestaltung einer größeren und sichereren euroatlantischen Gemeinschaft abzielenden Politik Priorität einzuräumen, hatten sich die Russen bereits in eine starre Opposition verrannt. Folglich könnte man 1993 als das Jahr einer verpaßten historischen Chance ansehen.
Höchste Priorität für die Ukraine
Unabdingbar ist für Brzezinski die Verankerung insbesondere der Ukraine in ein westlich orientiertes Lager. Hierfür sind selbst Verstimmungen mit Russland hinzunehmen:
In der seit spätestens 1994 zunehmenden Tendenz der USA, den amerikanisch-ukrainischen Beziehungen höchste Priorität beizumessen und der Ukraine ihre neue nationale Freiheit bewahren zu helfen, erblickten viele in Moskau —sogar die sogenannten Westler — eine gegen das vitale russische Interesse gerichtete Politik, die Ukraine schließlich wieder in den Schoß der Gemeinschaft zurückzuholen.
Brzezinski berichtet, dass es 1996 sogar Bestrebungen in Russland gab, die Auflösung der Sowjetunion wieder rückgängig zu machen. Wie auch immer: Auch das Russland unter Jelzin deklariert freimütig seinen Führungsanspruch in der GUS, die, wie dargelegt wird, fälschlich im Ausland kurz als eine Art östliche EU gesehen wurde. Brzezinski erklärt, dass schon unter Jelzin allzu forsche Autarkiebestrebungen der ehemaligen Sowjetrepubliken mit einem gewissen Unbehagen verfolgt wurden. Hier wiederum der Teil seiner Ausführungen, der mit der Ukraine zu tun hat:
Die Entschlossenheit der Ukraine, sich ihre Unabhängigkeit zu bewahren, erhielt Unterstützung von außen. Obwohl der Westen, vor allem die Vereinigten Staaten, die geopolitische Bedeutung eines souveränen ukrainischen Staates erst reichlich spät erkannt hatte, waren um die Mitte der neunziger Jahre sowohl Amerika als auch Deutschland zu eifrigen Förderern einer eigenständigen Identität Kiews geworden.
Gegen Ende dieses Kapitels mit dem sprechenden Titel Das schwarze Loch (»The Black Hole«) stellt Brzezinski eine verblüffende Wechselwirkung zwischen Russland und der EU und dem Verhältnis der Ukraine zur EU fest:
Rußlands einzige geostrategische Option — die Option, die ihm eine realistische Rolle auf der internationalen Bühne eintragen und auch seine Chancen für eine gesellschaftliche Veränderung und Modernisierung erhöhen könnte — ist Europa. Und zwar nicht irgendein Europa, sondern das transatlantische Europa einer erweiterten EU und NATO.
[…]
Am wichtigsten allerdings ist die Ukraine. Da die EU und die NATO sich nach Osten ausdehnen, wird die Ukraine schließlich vor der Wahl stehen, ob sie Teil einer dieser Organisationen werden möchte. Es ist davon auszugehen, daß sie, um ihre Eigenständigkeit zu stärken, beiden beitreten möchte, wenn deren Einzugsbereich einmal an ihr Territorium grenzt und sie die für eine Mitgliedschaft notwendigen inneren Reformen durchgeführt hat. Obwohl dies Zeit brauchen wird, kann der Westen — während er seine Sicherheits- und Wirtschaftskontakte mit Kiew weiter ausbaut —‚ schon jetzt das Jahrzehnt zwischen 2005 und 2015 als Zeitrahmen für eine sukzessive Eingliederung der Ukraine ins Auge fassen.
Die Ukraine zeigt an, wohin Russland will
Das dürfte, so der Autor, nicht ohne Probleme abgehen, denn Russland wird es unvergleichlich schwer[er] fallen, sich mit einem NATO-Beitritt der Ukraine abzufinden, denn damit würde Moskau eingestehen, daß das Schicksal der Ukraine nicht mehr organisch mit dem Rußlands verbunden ist. Doch wenn die Ukraine als unabhängiger Staat überleben soll, wird sie eher mit Mitteleuropa als mit Eurasien zusammengehen müssen. Soll sie zu Mitteleuropa gehören, wird sie an den Bindungen Mitteleuropas zur NATO und der Europäischen Union voll teilhaben müssen. Akzeptiert Rußland diese Bindungen, dann legt es sich damit in seiner Entscheidung fest, selbst Teil von Europa zu werden. Rußlands Weigerung wäre gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, daß es Europa zugunsten einer eurasischen Identität und Existenz den Rücken kehrt.
Der springende Punkt ist, und das darf man nicht vergessen: Ohne die Ukraine kann Rußland nicht zu Europa gehören, wohingegen die Ukraine ohne Rußland durchaus Teil von Europa sein kann. Sollte Rußland beschließen, sich mit Europa zusammenzutun, liegt es letztendlich in seinem ureigenen Interesse, daß die Ukraine in ein größer werdendes europäisches Haus aufgenommen wird. Tatsächlich könnte die Beziehung der Ukraine zu Europa der Wendepunkt für Rußland selbst sein.
Es geht übrigens nicht darum, ob Brzezinskis politische Ambitionen richtig oder gar moralisch korrekt sind. Strategen neigen dazu gelegentlich so stark um die Ecke zu denken, dass sie das vielleicht Naheliegende aus dem Auge verlieren.
Wichtig ist hier, dass selbst jemand wie Brzezinski, der als »Kalter Krieger« oder »Falke« galt (und teilweise noch gilt), in der Lage war, russische Interessen zu sehen und zu erkennen. Sein Kurs ist dabei nicht konfrontativ gewesen. Auch wenn er, was arrogant klingen mag, Russland den Status einer Weltmacht nicht zusprechen wollte, sah er ein, dass eine Brüskierung des Landes zu vermeiden ist. Sein Ideal ging dahin, dass sich Russland als eine Art neutraler Partner – allenfalls als Regionalmacht – aus dem großen geopolitischen Spiel heraushält bzw. von ihm verabschiedet, mindesten so lange, bis es sich politisch und ökonomisch stabilisiert hat.
Für eine Politik der Balance – aus der Stärke heraus
Brzezinskis Idee: Russland zum einen näher an die NATO binden, um die Länder Mitteleuropas (Polen, die baltischen Staaten, Tschechien, Ungarn) in die Organisation zu übernehmen. Aber: Es sollte keine Vereinbarung mit Rußland über die Frage einer NATO-Erweiterung darauf hinauslaufen, daß Rußland de facto am Entscheidungsfindungsprozeß des Bündnisses beteiligt wird und dadurch den spezifisch euroatlantischen Charakter der NATO aufweicht, während deren neu aufgenommene Mitglieder zu Staaten zweiter Klasse degradiert werden. Damit erhielte nämlich Rußland nicht nur die Gelegenheit, von neuem zu versuchen, seine Einflußsphäre in Mitteleuropa wiederzugewinnen…
Dieses geopolitische Ziel, eine Art Balance zwischen Einbindung Russlands, Domestizierung und gleichzeitig Distanzierung, ist gründlich misslungen. Auch Brzezinskis an Russland gerichteter Rat verpuffte: Vielmehr muß das riesige Rußland der Tatsache ins Auge sehen, daß Europa und China beide schon heute wirtschaftlich mächtiger sind und China es noch dazu auf dem Weg zu einer Modernisierung der Gesellschaft zu überholen droht. Daraus muß Rußland die richtigen Schlußfolgerungen ziehen. Unter diesen Umständen sollte sich die politische Führung in Moskau deutlicher darüber bewußt werden, daß Rußland in erster Linie sich selbst modernisieren muß, anstatt sich auf nutzlose Bemühungen einzulassen, seinen früheren Status als Weltmacht wiederzuerlangen.
Eine über den NATO-Russland-Rat hinausgehende Verbindung wurde nicht getroffen. Das 2002 geschaffene Gremium war ein besseres Kaffeekränzchen; Russland empfand es als Alibiveranstaltung. Die Eiszeit der Bush-Regierung wechselte zu einer Art Gleichgültigkeit Russland gegenüber der Obama-Administration, die sich allzu deutlich nach Fernost orientierte.
Eine Wandlung Brzezinskis?
Erstaunlich, dass Brzezinskis Ausführungen von 1997 heutzutage als »eine versteckte und indirekte Fortsetzung des Kalten Krieges mit anderen Mitteln« interpretiert werden. So der Geschichtsphilosoph Hauke Ritz in seiner Besprechung von Brzezinskis 2012 neu erschienenem Buch »Strategic Vision: America and the Crisis of Global Power 2012«. Wie oben erläutert (und auch zitiert), gab es sehr wohl Vorschläge Brzezinskis, Russland in ein eurasisches System einzubinden. Ritz’ Zitate – zum Beispiel jenes, in dem Brzezinski eine Teilung Russlands vorschlägt – bilden nicht das tatsächliche Bild ab, dass Brzezinski zu Russland zeichnet (auch China »rät« er zu dezentralen Strukturen; solche ungefragten Ratschläge gehört zum Wesen von Strategen). Dabei ist natürlich für Brzezinskis Denken immanent, dass eine Hegemonialstellung der USA für ihn nicht diskutabel war. Ihm dies vorzuwerfen ist albern. Auch der Vorwurf, er habe mit seiner Beratung der Mudschaheddin-Unterstützung während der Carter-Ära indirekt zu einem Krieg von »einer Millionen Toten« geführt, ist ein bisschen tendenziös. (Der schwerwiegendere moralische Fehler der amerikanischen Politik bestand darin, die diversen Freiheitsbewegungen in Afghanistan auch dann noch militärisch unterstützt und aufgerüstet zu haben, als Gorbatschows das Versprechen abgegeben hatte, das Land zu verlassen. Das war nach Brzezinskis »Amtszeit«.)
Auch die Tatsache, dass Brzezinski die Gefahren des Verlustes des Weltmachtstatus für die USA 1997 nicht genügend bedacht habe, ist aus der Lektüre des »Chessboard«-Buches nicht zwingend abzuleiten. Schon die Formulierung, dass die USA die erste, einzige
und letzte echte Supermacht der Geschichte sein könnte, impliziert die Möglichkeit des Scheiterns. Wenn Brzezinski nun, 2012, Parallelen zwischen der USA und der UdSSR in den 1980er Jahren feststellt, ist dies bemerkenswert. Umso unverständlicher, dass dieses Buch nicht übersetzt und der deutschen Öffentlichkeit präsentiert wurde.
Wenn man Brzezinskis Ausführungen von 1997 vergegenwärtigt hat Putin nun, nach Jahren des Lavierens, eine Kehrtwende beschlossen: Er will ein eurasisches Reich mit Russland an der Spitze re-implementieren um den strategischen (vermeintlichen) Bedeutungsverlust Russlands zu tilgen. Mag die Annektierung der Krim noch geostrategisch sinnvoll gewesen sein (Brzezinski wies bereits 1997 auf die Wichtigkeit der Krim für Russland hin), so ist die mindestens geduldete, wenn nicht forcierte Destabilisierung der Ost-Ukraine vor allem ökonomisch unsinnig.
Brzezinskis Reaktion im März diesen Jahres, die weitgehend als aggressiv wahrgenommen wurde, weil er Putins Vorgehen mit dem Hitlers 1939 im Sudentenland vergleicht, ist zwar scharf, aber nicht kopflos: »In addition, such efforts to avert miscalculations that could lead to a war should be matched by a reaffirmation of the West’s desire for a peaceful accommodation with Russia regarding a joint effort to help Ukraine recover economically and stabilize politically. The West should reassure Russia that it is not seeking to draw Ukraine into NATO or to turn it against Russia.«
Warten wir ab, was passiert.
Die kursiv gesetzten Zitate sind aus dem Buch »Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft«. Da es sich nicht um eine wissenschaftlichen Text handelt, wurden auf genauen Quellenangaben (Seitenzahlen) verzichtet. Die meisten Zitate stammen aus Kapitel 4 »Das schwarze Loch« sowie den »Schlußfolgerungen« (Kapitel 7).
Nicht zu fassen, der alte Zbig. Lebt der immer noch?! Das ist ja eine intellektuelle Bankrott-Erklärung, wenn man die Fossilien befragt. Schon die Idee (Fragen wir Zbig!) ist reaktionär. Es k****t mich an, wenn ich das mal sagen darf.
Die geostrategischen Analysen sind unbedingt von den Zeitgenossen Putins, Merkels und Obama anzufertigen. Das ist essentiell. Alles andere verfälscht das Resultat. Es gibt kein »altes Wissen« angesichts der (von Äon zu Äon schreitenden) geopolitischen Herausforderung, ich beschwöre den Geist von Gilles Deleuze an dieser Stelle.
Aber mir ist schon klar, dass diesen Ö.R.-Hirnakrobaten allmählich die Muffe geht.
»Wir verstehen das nicht...«.
Das, meine Lieben, hat andere Gründe, das ist nicht euer Alter!
Tschuldigung.
Naja, eine Art Redeverbot für Nicht-Zeitgenossen ist – mit Verlaub – Unsinn. Wohin das geführt hat, sieht man anhand der US-Neokonservativen à la Wolfowitz und Fukuyama.
Im Kern ging es um die Behauptung, dass die USA in der Ukraine keine Interessen haben. Das kann man spätestens dann, wenn man BZs Buch gelesen hat (oder auch einfach nur den Wikipedia-Artikel dazu), nicht mehr behaupten. Ob man den Mann nun mag oder nicht: Sich öffentlich zu dieser Problematik zu äußern, ohne seine Hausaufgaben gemacht zu haben, ist lächerlich. Und Hausaufgaben sind nicht immer angenehm.
Da gibt es ein viel grundsätzlicheres Werk, das allerdings kein Buch ist, sondern eine Sammlung unterschiedlich langer Texte mit Stempeln drüber wie »Confidential«, »Unclassified«, »Secret« oder »Top Secret« mit Autorennnamen wie Zbigniew Brezinski, Samuel Huntington, Graham Claytor jr., Joshua Lederberg und Henry Kissinger, das 1988 die Zukunftsstrategie der USA festlegte, was das Feindbild angeht, wenn es keinen Ost-West-Kalten Krieg mehr gibt. Feindbild Islam und Einkreisung Russlands basieren darauf gleichermaßen.
Verzeihung, aber Geopolitik hat ja auch mit Emotionen zu tun. Mein »reaktionär« ist damit nicht widerlegt.
Zum Kern: in der Tat haben die U.S.A. Interessen an der Ukraine. Der CIA, Biden, etc. Sollen wir wirklich die Legitmität dieser Interessen diskutieren, ohne das doppelte Spielchen des Hegemons aufzudecken, das uns seit 20 Jahren in Atem hält?!
Durch die Blume: es gibt ein einziges Land in der NATO, nicht mal das kleinste, welches dem in spirito und de facto Verteidigungsbündnis eine ganz und gar expansive »selbstständig formulierte und durchgeführte« Interventionsstrategie zur Seite stellt, und damit die Interessen Europas und das strategische Denken dieses Subkontinents permanent (es gibt kein besseres Wort) vergewaltigt, die UNO zur Schwatzbude deklariert, und einer vor Zeiten noch erwarteten Exekutive des Vereinten Willen aller Völker mit einem recht robusten Waffen-Pragmatismus vorabgleicht. Wenn die Strategien der U.S.A. (Ooops!) in den letzten 20 Jahren etwas mit »Denken«, Analyse, Kultur & Geschichte im genaueren und engeren Sinne zu tun gehabt hätten, wäre alles ganz wunderbar. Brauchte man aber nicht! Grund: Hegemonie macht lässig. Und Geschichte, Kultur, etc. sind der Amerikaner Problem bestimmt nicht. Das recherchiert man, oder bestellt sich einen Berater. Für mich sind das Barbaren in Nadelstreifen–
Mein Wort darauf: die ältere Generation ist moralisch und intellektuell nicht in der Lage, diese Hegemonie zu begreifen. Sie sind der Strategie als Vasallen vorauseilend verfallen. Sie ziehen sie nicht in Zweifel und halten sie für ihre eigene... Für mich als Mitt-Vierziger heißt das, noch weitere 20 Jahre zuschaun, bis man hierzulande wieder unabhängige Gedanken entwickelt.
@de kalte Sophie
»Unabhängige Gedanken« wäre ja auch Geopolitik. Welcher Art könnten diese Gedanken sein? Die EU ist zu schwach, um hegemoniale Ansprüche zu stellen. Nach dem bisherigen Stand der Dinge will sie es auch gar nicht; ihre einzige Macht gründet sie auf die Ökonomie. ZB beschreibt übrigens schon 1997 wie lächerlich die Versuche Großbritanniens und Frankreichs sind, sich als Weltmächte aufzuspielen. Besonders scharf fällt sein Urteil gegenüber Großbritannien aus.
Sie sollten sich wirklich die Mühe machen, das Buch von ZB zu lesen; mindestens die ersten beiden Kapitel und Nr. 7. Zieht man den impliziten Weltmachtanspruch, der aus diesem Text herausquillt wie ein Pudding aus einem Kuchenstück ab, so bleibt viel zutreffende Zustandsbeschreibung – und zwar nicht nur aus 1997. Viel verändert hat sich nicht (sieht man einmal den von ZB genannten »Eurasischen Balkan« ab – hier gab es mit der Afghanistan-Intervention der USA und des Westens ein für ihn nicht prognostizierbares Ereignis).
Nach der Lektüre kann man diesen Hegemon ein bisschen besser »begreifen«. Das bedeutet nicht, dass man ihn gutfinden oder mit allen Analysen übereinstimmen muss. Hegemoniale Macht wird man übrigens immer dann, um nicht selber von einem anderen Hegemon unterworfen zu werden. ZB kommuniziert übrigens diese Abhängigkeit von den USA ohne Beschönigungen.
Genau das Problem habe ich mit Zbig. Zieht man den Pudding ab, sind das ganz exquisite Beschreibungen. Danke für den Tipp. Ich hab zwar noch nichts gelesen, aber anhand verschiedener Einlassungen von ihm konnte ich mir schon mal einen Eindruck verschaffen. Gefährlicher Mann, weil intelligent. Also, gefährlich nicht weil intelligent, sondern weil Berater von Hegemon! In dramaturgischen Zusammenhängen: Polonius.
Danke. Ich habe das Buch auf die Liste gesetzt (vielleicht melde ich mich nach dem Lesen noch einmal).
»Obwohl der Westen, vor allem die Vereinigten Staaten, die geopolitische Bedeutung eines souveränen ukrainischen Staates erst reichlich spät erkannt hatte, waren um die Mitte der neunziger Jahre sowohl Amerika als auch Deutschland zu eifrigen Förderern einer eigenständigen Identität Kiews geworden.«
Nicht, dass Brzezinski Lügen untertellen möchte, aber das ist nicht ganz richtig. Die Westmächte haben bereits Ende des 2. Weltkriegs die Bedeutung der Ukraine erkannt und sind nicht einmal vor Zusammenarbeit mit Nazi-Kollaborateuren zurückgeschreckt, um die Ukraine zu destabilisieren und der Sowjetunion zu entreißen.
Brzezinski könnte davon wirklich nichts gewusst haben, da das entsprechende CIA-Material noch bis 1998 der Geheimhaltung unterlag. Die Unterlagen können heute unter http://www.foia.cia.gov/ eingesehen werden, die CIA-Aktivitäten in der Ukraine wurden unter dem Codewort »Aerodynamic« zusammengefasst. Es handelt sich buchstäblich um Millionen von Seiten, deren Auswertung noch andauert. Einige vorläufige Zusammenfassungen sind bereits verfügbar, z.B. z.B. unter http://www.matthewaid.com/post/51394955674/debacle-the-cias-failed-agent-penetration oder unter http://www.archives.gov/iwg/reports/hitlers-shadow.pdf.
Über die enge Verbindung der Exil-Ukrainer (und anderer Osteuropa-Flüchtlinge) zur US-Politik und vor allem zu den Republikanern hat außerdem bereits 1989 Russ Bellant sein Buch »Old Nazis, the New Right & the Republican Party« geschrieben. Das Buch lässt sich bei geschickter Suche im Internet als PDF-Dokument finden, aber eine ganz gute Zusammenfassung hat der Autor selbst in einem Interview gegeben, als die Ukraine-Krise noch sehr frisch war (http://www.thenation.com/blog/179057/seven-decades-nazi-collaboration-americas-dirty-little-ukraine-secret).
Wenn man sich diese Dinge vor Augen führt, versteht man erst richtig, was mit der »eifrigen Förderung einer eigenständigen Identität Kiews« gemeint ist. Damit ergeben die Ereignisse der letzten Jahre (seit der ersten Orangen Revolution) einen nachvollziehbaren Sinn. Für den einen oder anderen wird vielleicht auch die aggressive Reaktion Russlands verständlicher.
@Spock78
Nur, dass Sie sich nicht wundern, warum Ihr Kommentar erst jetzt zu sehen ist: Kommentare mit mehr als zwei Links werden automatisch zur »Genehmigung« in eine Schleife befördert.
Ihre Äußerungen sind interessant; ob Brzezinski das gewusst hat, weiss ich natürlich auch nicht. Seine Äußerung habe ich dahinghend verstanden, dass man (= USA) nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit den nun unabhängigen GUS-Staaten so recht nichts anzufangen wusste.
@Gregor Keuschnig
Kein Problem, ich habe mir schon gedacht, dass es etwas mit den Links zu tun hatte.
Mit meinem Beitrag wollte ich übrigens keineswegs Brzezinski’s Sichtweise widerlegen oder Ihre Analyse kritisieren. Sein Buch beschreibt allerdings nur die Seite der Ereignisse nach dem Kalten Krieg, die sozusagen für alle »sichtbar« war, und das aus einer ausgeprägten US-Perspektive. Um sich ein vollständiges Bild machen zu können, sollte man aber auch wissen, was sich in den Jahrzehnten davor »hinter den Kulissen« abgespielt hat. Zum Glück haben wir seit ein paar Jahren die Möglichkeit dazu.
Leider müssen wir wahrscheinlich noch eine Weile warten, bis wir erfahren, ob und in welchem Maße die USA auch nach dem Zusammenbruch der UdSSR verdeckt in der Ukraine aktiv waren. Bei Wikileaks findet man hier und da etwas zur Ukraine (z.B. über Petro Poroschenko: https://wikileaks.org/plusd/cables/06KIEV1706_a.html), aber das ist natürlich zu wenig, um sich ein umfassendes Bild zu machen.