Repräsentativ für diese Form der Gouvernantentums ist Yvonne Willicks vom WDR, die in ihrer Sendung »Servicezeit« (ein euphemistischer Name, denn der einzige Service besteht darin, den Konsumenten ein schlechtes Gewissen ob ihres Lebensstils einzureden) keine Gelegenheit auslässt, den per se faulen, übergewichtigen und – mein Gott! – fleischessenden Zuschauer auf den rechten Pfad zu lotsen. Befragt werden die Behauptungen über die vermeintlich richtige Ernährung längst nicht mehr (das haben sie mit Religionen gemein, die sich auch nicht befragen) oder höchstens noch in Mitternachtstalkshows, wenn eine Knallcharge wie Udo Pollmer schlankweg das Gegenteil der gängigen Ernährungsdoktrin behaupten darf. Besonders erhellend ist das auch nicht.
Der Paternalismus quillt auch über die anderen Medien an den am Ende fast hilflosen Rezipienten. Werner Bartens, seit vielen Jahren Wissenschaftsredakteur bei der Süddeutschen Zeitung, versucht in seinen Beiträgen einen Mittelweg zwischen Bevormundung und dem, was man etwas unbeholfen gesunden Menschenverstand nennt. Mit »Es reicht! – Schluss mit den falschen Vorschriften« hat er jetzt eine »Polemik« veröffentlicht, in der er sich mit Gesundheitsaposteln und Regelaufstellern ausgiebig auseinandersetzt. 118 Seiten hat das kleine Büchlein, das sich in die Tasche stecken lässt und zum Beispiel im Wartezimmer eines Arztes bequem durchgelesen werden kann (sofern man Kassenpatient und ohne Termin ist).
Bartens sieht und benennt die Gebrauchsanweisungen, die den Verbraucher vermeintlich aufklären sollen, am Ende jedoch vor allem einschüchtern. Einen wahren »Bevormundungsterror« nennt er die immergleichen Botschaften mit Diäten, Idealgewichten, gesunder Ernährung, alternativen Heilverfahren und Vorsorgeuntersuchungen in der Schulmedizin. Gesundheit und Ernährung ersticken in Imperativen und gut gemeintem »Vorschriftenwahn«. Dabei wittert Bartens durchaus zu Recht eine Entfremdung des Menschen von »natürlichen Lebensgrundlagen«. So wird aufgeräumt mit dem Schlankheitswahn, der ab einem BMI von 25 bereits Übergewicht postuliert. Bartens will das erst bei einem BMI ab 30 geltend machen, was vernünftig erscheint. Er plädiert für ein geringes bis mittleres »Übergewicht« (nach heutigen Kriterien), ein »kleines Bäuchlein« und sei es, um bei Krankheiten besser gerüstet zu sein. Entscheidend ist, ob man sich wohlfühlt und nicht das Urteil anderer. Die Reliquie Idealgewicht sagt nichts über die Lebensqualität aus. So nennt er ein Kapitel »Von fitten Dicken und schlappen Schlanken«. Lebensfreude, Fitness und Intellekt hängen nicht vom Körpergewicht ab, obwohl Medien Übergewicht und Fast-Food-Konsum als »Schichtenphänomen« darstellen wollen. Dies sei »Teil der Erziehungsmaßnahme«, so Bartens emphatisch. Da passt es, dass binnen weniger Jahre der Herzinfarkt von der Managerkrankheit (vulgo Oberschicht) zum Unterschichtenphänomen umgedeutet wurde. Bartens erläutert zudem, welche Fehler Diätgeplagte, Hungerkünstler, Jogger und Freizeitsportler in ihrem Übereifer machen können und macht sich lustig darüber, wenn allenthalben und überall aus Nuckelflaschen getrunken wird, obwohl der Körper doch ein sehr instruktives Regulativ kennt: den Durst.
Gefährlich wird es, wenn Nahrungsmitteln heilende, also medizinische Wirkungen attestiert werden, etwa wenn es heißt, das Brokkoli vor Krebs schützen soll. Auch mit den »Low-Fat«-Aktionen kann der Autor nicht viel anfangen: wenn stattdessen die Kohlehydrat-Zufuhr steigen würde, wäre dies langfristig schädlicher für den Körper. Bartens zeigt auf, dass solche Aussagen sich fast immer auf sogenannte Studien stützen, die bei näherer Betrachtung wissenschaftlichen Kriterien nicht standhalten. Kein Verständnis hat Bartens für die Wellness-Industrie mit ihren »Entschlackungen« und »Entgiftungen«. Der Mensch sei kein Erzbergwerk und auch nicht giftig. Er hat Nieren, eine Leber und einen Darm. In der Regel genügt dies.
So vehement Bartens die Schulmedizin kritisiert, die mit medial erzeugten Verunsicherungen die Leute in unnötige Krebsvorsorgeuntersuchungen stürzt, so deutlich nimmt er Stellung gegen Homöopathie (»Schabernack«). Auch für Impfgegner, die mit esoterischen Erklärungen ihren Kindern unterschätzten gesundheitlichen Gefahren (bspw. Masern) aussetzen, zeigt er kein Verständnis und entlarvt die Behauptung, durch Impfungen würde »Morbus Crohn« als Nebenwirkung entstehen, als Humbug.
Einiges vermisst man, etwa einige Worte zu Nahrungsergänzungsmittel und den Optimierungswahn, der diese Industrie am Leben erhält. Zu wenig schreibt Bartens über die nahezu kritiklose Verbreitung von sogenannten Studienresultaten in den Medien. Warum werden die zumeist nur kolportagenhaft »bewiesenen« »Gewissheiten« derart affirmativ übernommen? Liegt es daran, dass aus den vermeintlichen Studien nur das zitiert wird, was ins ideologische Weltbild der Journalisten passt? So erfährt man wenig über die Vorgehensweise des Wissenschaftsjournalismus, nur einmal wird eine scheinbare 50% Reduzierung von Krebsfällen erklärt. Da ist dieser Beitrag hier von Cornelius Courts wesentlich erhellender, weil er deutlich macht, wie solche »Gewissheiten« entstehen: durch mangelhafte Lektüre, fehlende Fachkenntnisse bzw. ausbleibende Bereitschaft, sich in Vorgänge einzulesen. Hinzu kommt, dass allzu bereitwillig eine Korrelation als Kausalität ausgewiesen wird; dies auch zum Teil aus Unwissenheit heraus.
Bartens’ Buch ist erfrischend, gelegentlich jedoch redundant; die Kapitelsetzung überzeugt nicht ganz. Der gravierendste Einwand ist, dass der Autor sich nicht entscheiden konnte eine Polemik oder ein Sachbuch zu schreiben. Für das eine wäre es schon zu dick, für das andere zu dünn. Sein Ehrgeiz geht jedoch in beide Richtungen: pointierte und wuchtige Rhetorik und dann wieder ein bisschen wissenschaftlich. Das funktioniert leider nicht. Da spießt er durchaus gekonnt die »5 am Tag«-Kampagnen auf, die den Verbraucher darauf konditionieren sollen, 5 mal am Tag Obst und »Grünzeug« (Bartens) zu sich zu nehmen und rekapituliert »die einzig gesicherte Erkenntnis« launig: »Essen ist tödlich – denn alle, die ihr Leben lang gegessen haben, sind irgendwann auch gestorben«. Dann jedoch bringt er Studien und Untersuchungen ins Spiel, die leider nicht mit der gebührenden Intensität erörtert und gewichtet, sondern deren Erkenntnisse nur wie mit einem Salzstreuer aufgetragen werden.
Bartens ist womöglich zu wenig Ideologe, um brillante Polemiken schreiben zu können. Deshalb hätte er sich für ein Sachbuch entscheiden, auf einige wenige Thesen konzentrieren und diese decouvrieren sollen. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.
Bei all dem Rat-Schläge-Austeilen, um das es hier geht, stellt sich mir immer die Frage, wer davon am meisten profitiert und wer am wenigsten. Schließlich geht es am Ende ja immer nur um das Beste des Menschen, um sein Geld und um die möglichst vollständig abzuschöpfende Arbeitskraft des Einzelnen. Sicher, menschlichen Gesundheitswahn gibt es ja schon länger – auch die Nationalsozialisten wollten den Menschen (und durchaus nicht nur den Frauen) ja zum Beispiel das Rauchen abgewöhnen, respektive verbieten, ohne Erfolg, was aber jetzt bezeichnenderweise eine große Parteienkoalition in vielen Bundesländer nach und nach durchzieht; Rot-Grün ist dabei dann natürlich besonders rigoros (Rot+Grün=Braun?), und daß Bayern das neue Preußen ist, dürfte vielen auch schon aufgefallen sein. Zu all dem kommt ja dann auch noch diese Sache mit den Selbstoptimierern, die mit (n o c h nicht in den Körper implantierten) Sensoren sich selbst überwachen, ob sie denn genug Bewegung haben, ordentlich schlafen, gesund essen und scheißen und so weiter, wofür sie dann einen Bonus von der Krankenkasse erhalten, den diejenigen zu bezahlen haben, die sich nicht überwachen lassen wollen. Ob aber womöglich diese Selbstoptimierer sich nicht etwa eine tiefgreifende psychische Störung zuziehen durch ihr Tun, wird wiederum nicht gefragt, denn passierte dies, bekämen ja schließlich die Therapeuten wieder Arbeit …
Hm, dem Tenor Ihrer Besprechung folge ich gerne. Allerdings stimmen mich Vokabeln wie »Optimierungswahn« etwas misstrauisch. Wenn mir etwas die Presseberichterstattung suspekt gemacht hat, dann das Verfahren der Motivunterstellung. Fitness, Gesundheit oder auch Schmerzfreiheit sind ja zunächst einmal legitime und nachvollziehbare Gründe.
(Die diagnostische Konnotation der Kombinationen mit »wahn« lasse ich einmal außen vor. Das wäre ein sehr billiges »selber!«.)
Auch wenn das nicht direkt zum Buch passt: Ich habe manchmal den Eindruck in einer überregulierten und gleichzeitig deregulierten Welt zu leben.
Ich sehe da vieles ähnlich, wahrscheinlich weil ich oft höre, ich sei zu schlank (»du bist so schlank«); ich antworte dann: Ich fühle mich wohl, so wie ich bin (der bisweilen grassierende Gesundheitswahn ist fürchterlich und ein Geschäft). Ein wenig in Abrede stellen möchte ich, dass übermäßige Körperfülle nicht mit der Lebensfreude (in mancher Hinsicht) zusammenhängt (mit dem umgekehrten Fall ist es ähnlich). Einfach weil, die Belastungen höher und die Beweglichkeit geringer ist (ich merke das, wenn ich mit einem 20 kg schwerem Rucksack in den Bergen unterwegs bin, das ist ein Unterschied).
Ich hielt einmal ein Buch, das vorbeugende Ernährung im Hinblick auf Krebserkrankungen behandelte, in Händen, von Medizinern verfasst und entsprechend formuliert (habe damals aber nur durchgeblättert und geschmökert). Das Thema Prävention hat seine Berechtigung, gerade wenn man den Zustand der Kassen bedenkt und wie viele Folgekosten gespart werden können (wobei das wohl am meisten für die Folgen von Alkohol- und Tabakgenuss gilt). — Aber die Zusammenhänge sind oft komplizierter und es gibt eben keine Garantie (das muss man schon selbst entscheiden).
Ich bin auch kein großer Freund der Nudge-Idee (das ist fast noch schlimmer als Vorschriften, weil es subtil bleibt).
Hat Bartens irgendetwas zu übermäßigem Salzkonsum geschrieben?
Bartens hält die Warnungen für übertrieben. Bei zu massivem Salzkonsum verändere sich der Blutdruck selbst bei älteren Menschen nur um rund 5 MMHG (wobei er nicht schreibt, was »massiv« bedeutet). Im Durchschnitt nimmt, so Bartens, der Mensch in den Industrieländern zwischen 8 und 12 Gramm Salz täglich zu sich. Er konzediert zwar,dass auch 5 Gramm reichen würden, erklärt aber, dass eine Reduzierung des Salzkonsums schwierig ist, da etwa 80% des aufgenommenen Kochsalzes bereits in den Lebensmitteln enthalten sei (»in Wurst, Käse und Konserven, aber auch in Fertiggerichten, Restaurant- und Kantinenessen«). Die Studie in den 90er Jahren, die immer wieder zitiert werde, sieht Bartens als unzulänglich – die Auswirkungen auf Herz- und Kreislauferkrankungen seien nicht kausal belegt.
Danke!