Die Verbrechen des Islamischen Staats werden immer wieder als mittelalterliche Gewalt bezeichnet. Aber ist Gewalt nicht per se mittelalterlich, also archaisch? Das mag nicht zwingend innerhalb »der Moderne« gelten, aber vom Standpunkt einer Demokratie aus erscheint es als zutreffend (diskursorientierte Problemlösung, Gewaltmonopol und deren Trennung). — Gewalt als älteste, als »tierische« Form der Konfliktlösung, eine Art notwendiges Übel.
Das, was mit »mittelalterlicher Gewalt« wohl gemeint ist, ist die Methodik, die Art der Ausübung, also Kreuzigung, Enthauptung, Steinigung, usw., sie erscheinen uns archaisch, wir sehen sie als überwunden an. Allerdings könnte man vom Standpunkt der Leidvermeidung und des Mitleids völlig zu Recht einwenden, dass es einerlei ist, ob jemand mit einem Schwert erstochen wird oder mit einem abgerissenem Bein im Schützengraben verblutet, wenn es, da Leid eine individuelle Kategorie darstellt, überhaupt verglichen werden kann. Wenn etwas zur Leidvermeidung beiträgt, dann der möglichst weitgehende Verzicht auf Gewalt (ihre völlige Unnotwendigkeit, das müsste die Kritik an den Gewalttaten des Islamischen Staats zuallererst feststellen, nicht ob sie dem Mittelalter zuzuordnen sind oder nicht).
Aber vielleicht kommt hier noch etwas anderes zum Vorschein: Das, was wir als archaisch empfinden, ist auch das direkte Töten: Die Überwindung und die scheinbare Rücksichtslosigkeit, die benötigt wird, um jemandem bei lebendigem Leib die Kehle durchzuschneiden: Das ist kein Töten auf Distanz, man hört das Röcheln des Sterbenden, spürt seinen Atem auf der eigenen Wange: Der »Fortschritt«, die »Errungenschaften« der Moderne auf dem Gebiet der Kriegsführung, treten da klar hervor: Das Töten wurde nicht etwa erschwert, sondern erleichtert: Es ist ein Töten auf Distanz, das zahlreiche (alle?) Hemmschwellen, die biologisch, kulturell und sozial wirken, außer Kraft setzt und zwar deswegen, weil wir nicht mehr sondern immer weniger gleichberechtigt Teilnehmende sind: Das Gegenüber wird abstrakter, erscheint unpersönlicher, wenn es das überhaupt noch tut. Um jemanden mit einer Pistole oder einem Gewehr zu erschießen, muss man ihn noch sehen, zumindest befindet man sich in (un)mittelbarer Nähe, in einer gemeinsamen Umwelt. Die Artillerie vergrößert die Distanz, man hört meist noch was man tut, sieht vielleicht sogar die Einschläge, mehr aber nicht. Ähnlich verhält es sich mit Bomben, je nach Flughöhe, existiert eine gewisse sinnliche Wahrnehmung davon, was bombardiert wird (gleichzeitig kann man darin bloß ein Feuerwerk sehen); Drohnen visualisieren das Geschehen, vergleichbar mit einem Computerspiel, wird die Realität virtuell; Lenkflugkörper mit konventionellen oder nuklearen Gefechtsköpfen verursachen Flächenschaden, irgendwo in der Ferne: Man weiß, dass dort Menschen sind, mehr aber nicht: Mitgefühl wird sich nicht einstellen, die Situation ist abstrakt und die Hemmung einen Knopf zu drücken, gering.
In dem, das wir als archaisch (mittelalterlich) bezeichnen, tritt uns, die auf Distanz gehaltene, meist durch Stellvertreter ausgeübte Gewalt, gegenüber und ihre Distanzlosigkeit verängstigt uns: Vielleicht, weil sie trotz allem wahr ist.
Ich würde das Wort »mittelalterlich« nur als ein Bild nehmen, und nicht als eine historische Zuordnung. Tatsächlich erinnert mich die Kriegsführung des IS eher an eine Mischung aus Kreuzzug und Dreißigjährigen Krieg.
Die Archaik, die uns so fremd ist, besteht auch darin, dass es sich bei dem Menschen, der von Angesicht zu Angesicht getötet, ermordet wird, um einen »Feind« handelt und zwar nicht nur im rhetorischen Sinn sondern »real«. Die Exekutoren haben ein lebendiges, virulentes Feindbild. Die institutionalisierte Kriegführung neutralisiert den feindlichen Soldaten durch Entwaffnung und/oder Gefangennahme. Er wird wieder zum »Menschen«, sobald er »wehrlos« ist. Bei der IS-Kriegführung spielt das keine Rolle: Er bleibt ein Feind. Problematisch wird die Sache, wenn der Westen sich von diesem Feindbegriff »anstecken« lässt. Die Frage ist allerdings, ob er eine andere Wahl hat.
(Auch jemand wie Ernst Jünger hat die gegnerischen Soldaten nicht als Feinde, sondern als Kämpfer betrachtet. Döblin nannte dies Jüngers aristokratische Vorstellung vom Krieg. Sie ist gefährlich, da sie den Krieg als politisches Instrument ermöglicht. Der Unterschied ist lediglich, dass es die Feindschaft nicht persönlich und/oder kulturell bestehen bleibt.)
Die Frage stellt sich, ist es Oberst Klein in Kundus leichter gefallen, eine fatale Entscheidung zu fällen, nur weil er nicht unmittelbar die vermeintlichen Taliban abschlachten musste. Und die andere Frage ist, wollte er überhaupt entwaffnen und Gefangene machen. Dieses inhumane Denken wird mit Beförderung geahndet. Ist natürlich neuzeitliche Denkweise und somit richtig. Ich staune nur.
»Mittelalterlich« ist hier wahrscheinlich nur ein Ersatzwort für »ikonographisch«, die Macht der Bilder macht aus einer vergleichsweise unwichtigen Tat ein wirkmächtiges Schauspiel. Man sollte nicht vergessen, dass auch die USA den Irak-Krieg 2003 unter der Devise »Shock and Awe« geführt hatte, nur bei massiv grausameren Folgen (und letztendlich Ursache für den IS).
Dies nicht auf sich wirken zu lassen, nur weil man es nicht im Bild gesehen hat, ist erbärmlich. Wer moralisch argumentiert, tut dies heutzutage immer vor der Folie des verbrecherischen Krieges im Irak mit hunderttausenden Toten. Vielen reicht da eine Geste um dies wegzuwischen, begründet wird es nie. Und der westliche Soldat vor Ort sieht das Ganze auch nochmal ganz anders.
Das Mittelalter ist ja, außer einer Chiffre für Rückständigkeit, eigentlich ein Schauermärchen (vom „Name der Rose“ über Mittelerde bis zu dem ganzen Fantasy-Quatsch von heute), und damit vor allem eine Unterhaltungs-Konvention. Die zeitlich dort ungefähr verorteten Vierteilungen oder Scheiterhaufentode aber waren ja noch überlegte, das heißt institutionell quasi-kanonisierte, in ihrer Grausamkeit abgestufte Strafen. (Und in ihrer Öffentlichkeit übrigens wieder „Unterhaltung“.)
Mir kommt es so vor, als wäre da für die Islamisten (teils gegen ihre eigene, unfreiwillig komische Schauer-Rhetorik) auch kein Feind mehr, nichts Formalisierbares, kein Ethos – das Ungläubige selber bestimmt zu sehr ihre Welt (bis zu seinen zweckreich anverwandelten Darstellungs- und Kommunikationsmedien). Das „Archaische“ hier wäre etwas zuletzt Gegenstandsloses, oder vielleicht sogar Voraussetzungsloses: ein Körper, der auch keine Aberkennung mehr braucht. Das nur dem Westen namentliche Opfer ist eigentlich auch dem Krieger keines mehr, sondern dient nur als rück-instrumentalisierter Platzhalter in einer inszenatorisch-immer-schon-blasphemischen Welt.
Dabei ist die Drastik als Mittel eine vielleicht durchaus der westlichen verwandten: Deswegen die Angst, die virulente Atombombe wirkte einmal in der Hand von erklärteren Zauberlehrlingen auf den den umfassenderen Tod hütenden Westen zurück.
Aber auch die versehentlich zerbombten afghanischen Hochzeiten irgendwelcher Speedverrückter Amerikaner, die der Zeigefinger juckt, sind da nicht weit. Sie sind absurd, durch und durch sinnlos, kontingent. (Aber wie soll man jemanden achten, dessen Kultur man nicht achtet und dessen Namen man nicht einmal aussprechen kann? Der Amerikaner wie der Taliban, weil beide sich den letzten Konventionen – Genf! – entziehen, ist eigentlich „weniger“ als ein Feind: Er ist nur Hinterhalt und Unverständlichkeit und verharrt wechselseitig hinter Schirmen.)
Zugleich scheint mir diese Nichtanerkennung des Gegenübers, die Gesichtslosigkeit trotz/mit Facebook, nicht weit von der modernen westlichen Verrohung, von einem Zuviel der Mittel, vom sinnlosen Materialeinsatz, von der Sehnsucht aber auch nach Schock und Überbietung im irren (Serien-)Mörder, in der zerstückelten oder der angezündeten, der noch in seiner Materialität genichteten Leiche. (Wie vor Kurzem in Berlin in einem Park oder gerade in England: Kann man sich das als bewusste Schändung ausdenken? Oder hat dieser Körper auch vorher für nichts gegolten?)
Es gibt da, unterfüttert durch den modernen, immer rascher in die In-formationen und Unterhaltungsformate einwandernden Wahnsinn der Welt, etwas an Nichtung a priori, etwas unter dem Überdruck der überall nur mehr nach (zugleich inflationären) Milliarden Zählenden von Negation von vornherein.
Oder rührt das endlich wieder an etwas Unaussprechbares?
@Gregor
Selbst wenn ich »mittelalterlich« nur als Bild verstehe, haftet dem doch die Wertung von »überholt« an (Rückständigkeit, Schauermärchen, wie herr.jedermann schreibt). Oder?
Das was Du als Feindbild beschreibst, passt zu jenem »Denken«, ich nenne einmal keine Namen, das Rassen, Klassen oder andere Gruppen von Menschen zur Tötung freigibt, das ist (leider) nichts Neues; das wurde selbstverständlich um des Guten (oder Besseren), einer Utopie, willen getan. Diese Tötungen sind von oben legitimiert und gewollt, sie sind straffrei und nicht »passiert« wie das im Krieg häufig geschah (Plünderungen, Vergewaltigungen, Gegengewalt, usf.). Ähnliche Direktiven wird es in den Kreuzzügen wohl gegeben haben, nach dem Motto »erschlagt möglichst viele« (ist das dasselbe?), vom Dreißigjährigen Krieg weiß ich es nicht, müsste ich nachlesen. — Einen Ausweg gibt es freilich, die Konversion.
Ich würde sogar sagen: Gerade Ernst Jünger musste das so sehen, das passt ja zu seiner kämpferischen Literatur, ich nehme an auch zu seinem Weltbild (Jüngers aristokratische Haltung ließ ihn immerhin auf Distanz zum Nationalsozialismus gehen, ich würde sogar so weit gehen, und sagen, dass es jemandem, dem es um den Kampf geht, nicht um das Töten gehen muss. Mir scheint es da mehr um den Kampf als Selbstzweck zu gehen, natürlich auch um Ehre, als um den Krieg als Mittel der Politik).
@Joseph Branco
Meinem Dafürhalten nach nicht, da ging es immer um die Bewertung der Gewalttaten, nicht um deren Wirkung oder Vermarktung. Richtig und den USA würde man etwas anderes vorhalten (vielleicht Grausamkeit, aber nicht mittelalterliche).
Fotos und Videos machen Gewalt und Leid konkreter; wir sind dann wieder empathiefähig, weil wieder Menschen vor uns »stehen« und nicht mehr bloß Zahlen (dafür öffnen sie wieder die Möglichkeit der Manipulation).
@herr.jedermann
Für die Grausamkeiten, die nach den Regeln der Scharia verübt werden, kann man diese Abstufung wohl auch veranschlagen. — Die Gewalt gegen alles was als ungläubig angesehen wird, hat andere Ursachen.
Man könnte vielleicht hinsichtlich der unverständlichen Namen, ebensolcher Kultur vom klassischen Fremden sprechen, das sich einer Definition entzieht und dadurch bedrohlich wirkt (nur passt die Feindrhetorik und das Feindbild nicht dazu; einen Feind kennt man, man weiß über ihn bescheid; man könnte das, was die Ungläubigen hier bedeuten, mit dem vergleichen, wofür die Juden zur Zeit des Nationalsozialismus’ standen; — könnte die Auslöschungsursache hier wie dort dieselbe sein und was könnte das für unser Verständnis der islamischen Welt bedeuten?).
Eine Schändung bedeutet immer einen Erhalt, sonst kann man die Schändung nicht mehr erkennen, man muss eher von einem Vernichtungswillen sprechen (wobei in Mordfällen auch immer versucht wird die Leiche verschwinden zu lassen).
Vielleicht ist es kaum mehr möglich Stabilität oder ein stabiles Sinngefüge zu errichten (und worauf andere schon hingewiesen haben: Gewalt, Zerstörung und totale Macht über andere haben womöglich mehr Reiz und Gewinn als wir zunähst glauben möchten).
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@metepsilonema
Das Bilder empathiefähiger machen ist eine Binsenweisheit, aber gerade deshalb müssen die, die letztendlich Entscheidungen treffen, sich so weit möglich davon befreien und auf Faktenbasis handeln.
Und doch, ich halte den Amerikanern mittelalterliche Grausamkeit vor. Das fängt damit an, dass 13-jährige Straftäter im Internet mit Name und Foto wie am mittelalterlichen Pranger dargestellt werden. Die Strafe dient der Sühne, nicht der Lösung. Bei der Durchführung der Todesstrafe schauen die Angehörigen der Opfer dem Henker zu, wie auf einem mittelalterlichen Marktplatz.
Im Vietnamkrieg hatte McNamara die Strategie des Body Counts ausgegeben. Es wurden nur tote Körper gezählt. egal ob Soldaten, Frauen, Kinder oder Greise. Die Zahlen wurden dann im Radio verlesen. Und genauso haben sich viele Soldaten auch verhalten. In der Wikipedia dient zur Illustration des Begriffes übrigens das Bild »Edward III. zählt nach der Schlacht von Crécy die Gefallenen«.
Mir scheint Nietzsche ein guter Ratgeber zum Thema: eine Moral, die auf die Auslöschung des Gegner ohne Rücksicht auf zivilisatorische Standards abzielt, ist die »stärkere Moral«, weil sie keine generalisierte Hemmung aufweist.
Die Möglichkeit ungehinderten Tötens entsteht doch erst aufgrund des fehlenden »Islamischen Staates«. Die Chiffre »IS« steht in Wahrheit für eine Kriegsmaschinerie ohne territoriale Bezüge. Die Idee dieser Bewegung, ihr Zerstörungsprogramm wie eine Staatsgründung aussehen zu lassen, ist ziemlich... gut.
@die kalte Sophie
Es gibt sehr wohl territoriale Bezüge beim IS. Ansonsten hätte man nicht ein Kalifat ausgerufen. Es zeigt im übrigen wie attraktiv ein Nationalstaat ist. Sollte er sich nämlich halten, d. h. eine funktionierende Infrastruktur in seinen eroberten Territorien aufbauen und führen können, wird sich früher oder später die Legitimationsfrage stellen.
Zusammen mit der Schaffung eines neuen Territoriums, welches ausdrücklich den Grenzen der ehemaligen Kolonialherren widerspricht, wird eine Harmonisierung des Religiösen nicht nur angestrebt, sondern geradezu erzwungen. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns – so lautet die Devise (nicht ganz unbekannt übrigens). Diese Hegemonie wird ohne Rücksicht auf bisherige zivilisatorische Standards betrieben – das erscheint uns neu, weil es uns in den letzten 70 Jahren nicht vorgekommen ist. Zuletzt wüteten auf diese Art und Weise übrigens die Nazis in ihren eroberten Ländern.
@Joseph Branco
Ihre Ausführungen sind alle richtig, aber nur weil eine Seite ein Unrecht ausgeübt hat bzw. ausübt, ist das Unrecht der anderen Seite damit nicht legitimiert.
Kann ich nicht nachvollziehen:
...dann wird sich früher oder später die Legitimationsfrage stellen...
Natürlich gibt es beim IS territoriale Bezüge, gerade der Umsturz vormaliger Territorien ist ja der revolutionäre (attraktive) Akt. Später stellt sich eigentlich nur die Frage internationaler Anerkennung, und da scheiden sich häufig die Geister.
Ich bin mit historischen Vergleichen (Mittelalter) nicht ganz einverstanden. Deshalb mein Impuls, den advocatus diaboli zu geben. Wir befinden uns zur Zeit in einer (historisch) beispiellosen Schwebe, wenn man die sehr stabile europäische Friedensordnung den geradezu läppischen Versuchen, von Europa aus »Weltpolitik« zu machen, gegenüber stellt. Genau darin besteht das Ärgernis der post-nationalen Konstellation, die mit dem Projekt Europa eröffnet worden ist. Es stellt sich immer dasselbe Dilemma ein: politisches Handeln national legitimieren, und es wie internationales Recht aussehen lassen. Das Ergebnis ist ebenfalls höchst zweideutig: das Richtige sagen, und nichts bewirken können, aufgrund moralischer Überlegenheit?! Das vermag doch nur akademische und pastorale Geister zu faszinieren. Wir sind nicht besonders konsistent, oder?!
Zum Thema IS-Kalifat als Staat/sorganisation in Nascendi gibt’s einen ausführlichen Artikel von Loretta Napoleoni in den Blättern für deutsche und internationale Politik: https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2015/maerz/der-islamistische-phoenix
@Gregor Keuschnig
metepsilonema hatte in Abrede gestellt, dass amerikanische Administrationen »mittelalterliche« Grausamkeit anwenden. Das galt es zu entkräften. Vielleicht noch als Nachklapp: Brezinski, von dem hier gelegentlich die Rede war, spricht bzgl. europäischer Staaten von tributpflichtigen Vasallen.
Das langweilt, verstehe ich ja, muss aber immer mal wieder betont werden. Wenn zwei Opponenten auf moralischer Basis argumentieren, ist das vertrautere Weltbild leicht überzeugend, vor allem, wenn die Alternative so abstossend auftritt. Amerikaner haben schon vor langer Zeit gelernt, dass es für Demokratien schwer ist Krieg zu führen ohne eine zugehörige Geschichte die den »just war« rechtfertigt. Das müssen unsere Politiker noch lernen. Der IS macht letztendlich das gleiche in grün, nicht ungeschickt, um das Momentum auf seiner Seite zu haben. Genauso interessengeleitet, nur noch deutlich widerwärtiger und schäbiger.
@Joseph Branco
Der Vergleich USA und IS hinkt nicht einmal. IS »argumentiert« dabei nicht moralisch, sondern metaphysisch. Das »Problem« des Westens ist gerade sein Beharren auf moralische Standards, die man, wenn man die religiös-metaphysische Kriegsführung bekämpfen will, gar nicht einhalten kann.
Brzezinskis Spruch von den »tributpflichtigen Vasallen« sollte im Kontext gelesen werden; Zitate durch die Gegend schmeißen bringt da wenig. Die Stelle im Buch »Die einzige Weltmacht« (1997 geschrieben) lautet wie folgt:
Westeuropa ist bereits ein gemeinsamer Markt, aber weit davon entfernt, eine politische Einheit zu bilden. Ein politisches Europa muss erst noch entstehen. Die Krise in Bosnien bot hierfür einen traurigen Beweis, sofern es denn eines solchen bedurft hätte. Tatsache ist schlicht und einfach, dass Westeuropa und zunehmend auch Mitteleuropa weitgehend ein amerikanisches Protektorat bleiben, dessen alliierte Staaten an Vasallen und Tributpflichtige von einst erinnern. Dies ist kein gesunder Zustand, weder für Amerika noch für die europäischen Nationen.
Allgemein über Imperien schreibt er:
Diese Imperien gründeten ihre Macht auf eine Hierarchie von Vasallenstaaten, tributpflichtigen Provinzen, Protektoraten und Kolonien; die Völker jenseits der Grenzen betrachteten sie gemeinhin
als Barbaren.
und dann über das heutige Amerika:
Im Gegensatz dazu ist der Geltungsbereich der heutigen Weltmacht Amerika einzigartig. Nicht nur beherrschen die Vereinigten Staaten sämtliche Ozeane und Meere, sie verfügen mittlerweile auch über die militärischen Mittel, die Küsten mit Amphibienfahrzeugen unter Kontrolle zu halten, mit denen sie bis ins Innere eines Landes vorstoßen und ihrer Macht politisch Geltung verschaffen können. Amerikanische Armeeverbände stehen in den westlichen und östlichen Randgebieten des eurasischen Kontinents und kontrollieren außerdem den Persischen Golf. Wie die folgende Karte zeigt, ist der gesamte Kontinent von amerikanischen Vasallen und tributpflichtigen Staaten übersät, von denen einige allzu gern noch fester an Washington gebunden wären.
Schmeißen Sie auch? Die Frage ist, wer ist noch Vasall, wer schon Barbar. Ob der IS jetzt moralisch oder metaphysisch argumentiert, sei dahingestellt. Die Parallele ist das Narrativ, um die wahren Interessen bei den benötigten Unterstützern populär zu machen.
@ Doktor D. Ausgezeichnet, der Artikel von Napoleoni. Bloß die Behauptung der »staatlichen Finanzierung« des IS durch die Saudis muss man streichen. Es will den Europäern nicht in den Schädel, dass die Araber »nicht besonders interessiert« sind an der Formation »Staat«. Erst recht nicht die Saudis.
Brilliant sind die Beschreibungen der lokalen Allianzen mit den Stämmen des Nord-Irak, die man (s.o.) als die territorialen Wurzeln des IS vor dem Kalifat ansehen muss. In der Tat handelt es sich um Stämme, Klans, u.ä. Diese Bündnisse sind historisch genauso ernst zu nehmen wie der »moderne Gesellschaftsvertrag«...
@ die kalte Sophie und Doktor D
Genau das meinte ich: Napolenonis Plädoyer für eine (diplomatische) Anerkennung nimmt die Entwicklungen vorweg, die eine PLO, IRA oder PKK im Laufe der Jahrzehnte genommen haben: Alle entwickelten sich mindestens in Teilen von der Terrororganisation zur staatsbildenden bzw. staatstragenden Macht. Übersehen wird dabei gerne, dass die Anerkennung als Repräsentanz fast nie zur Befriedung des Konflikts führte bzw. immer neue, andere Hürden (Abspaltungen innerhalb der Organisationen) entstanden.
Napoleonis Einschätzung halte ich – mit Verlaub – für reichlich naiv, etwa wenn sie davon spricht, dass die Maßnahmen des IS in der sunnitischen Bevölkerung auf Zustimmung stoßen. Das kann bei betont expansiven Organisationen wie dem IS kein Kriterium sein. Dass die Nazis 1939/40 eine breite Zustimmung in der Bevölkerung hatten, legitimiert nicht deren Vorgehen.
Was Napoleoni zur »Tradition des europäischen Terrorismus« schreibt, greift zu kurz. Wenn sie schon Traditionslinien in der Geschichte entdecken möchte, böte sich die Französische Revolution und deren Jakobinertum an.
Die Inkonsequenz des Westens liegt u. a. darin, einen ähnlich totalitär-archaischen Staat wie Saudi-Arabien als Verbündeten zu hegen und zu pflegen, den IS und andere islamisch-fundamentalistische Regime jedoch zu bekämpfen.
D’accord. Eine Anerkennung steht nicht auf der Agenda, und: es würde sich nichts ändern. Bravo! Daran erkennt man wunderbar, was die Europäische Seite des Problems ist. Europa »denkt« die Probleme immer von der Lösung »für alle Beteiligten« her, bezieht also Kombattanten, Widersacher, Opfer und Beobachter auf ein integratives psychologisches Schema. Eine solche Lösung existiert nicht. Wiederhole: Das europäische Denken zielt auf Lösungen ab, die nicht existieren. Darin zeigt sich die Inkompetenz des Idealismus. Wir sind komplex, und wir sind dämlich wie der nackte Kaiser...
@Joseph Branco
Brzezinski vergleicht die USA u. a. mit Rom (und definiert auch die Differenzen), daher die rustikale Ausdrucksweise, die er selber als »anachronistische Terminologie« (im Original) apostrophiert. Entscheidend ist, dass er dieses Vasallentum beklagt und nicht als Wunsch darstellt, was das aus dem Kontext gerissene, hingeschmissene Zitat suggeriert. So ganz glaube ich ihm das übrigens nicht, aber das ist ein anderes Thema.
@Joseph Branco #8 und #14
Lesen Sie bitte noch einmal was ich geschrieben habe: »Richtig und den USA würde man etwas anderes vorhalten (vielleicht Grausamkeit, aber nicht mittelalterliche). « siehe #6
Das ist eine Aussage über den Sprachgebrauch in der Öffentlichkeit (inklusive der Implikationen) und genau um diesen geht es auch im Ausgangstext. Und nicht darum, dass die USA tatsächlich keine (mittelalterlichen) Verbrechen verübten oder verüben (Verbrechen bleiben übrigens Verbrechen, egal wie man sie bezeichnet, modern oder mittelalterlich). Sie führen da eine Diskussion gegen Windmühlen.
Warum die Verbrechen der USA nicht als »mittelalterlich« bezeichnet werden, sind Methodik und die Technik, meines Erachtens (sie fallen dadurch weniger aus der Zeit, stellen scheinbar einen geringfügigeren Zivilisationsbruch dar). Sie haben recht, dass das, was gedanklich hinter dem Zählen der Toten, der Todesstrafe bzw. der Veröffentlichung von Personendaten im Internet steht, ein archaisches Denken ist (wie ich oben auch schon schrieb: Gewalt ist das eigentlich immer). Ich meine aber, dass die Technik als ebensolche andere Wirkungen mit sich bringt, als mittelalterliches Töten, sie verändert den Akt des Tötens an sich (eine Veröffentlichung im Internet ist im Zeitalter von Drohnentötung, Geheimdiensten und Globalisierung ist faktisch etwas anderes, als jemanden am Marktplatz an den Pranger zu stellen; etwas anderes, deswegen aber nicht schon besser).
In ihrer Diskussion übersehen sie, das in dem Text von „ metepsilonema“ Die Begriffe von Bestrafung und Kriegshandlung verwischt werden. So spricht er von
„ „Das, was mit »mittelalterlicher Gewalt« wohl gemeint ist, ist die Methodik, die Art der Ausübung, also Kreuzigung, Enthauptung, Steinigung, usw., sie erscheinen uns archaisch, wir sehen sie als überwunden an.
Die westlichen Neuzeitlichen Bestrafungen, wie Gaskammer Todesspritze Elektrischer Stuhl Hängen, Schafott... sind meines Erachtens da auch nicht anders zu bewerten. Sowohl hört auch hier der Scharfrichter das Röcheln und die Zeugen erleben unmittelbar das Sterben des Delinquenten.
Das eine gewisse sadistische Tendenz zu erkennen ist, zeigen die jüngsten Hinrichtungen in amerikanischen Gefängnissen, wo von Todeskämpfen bis zu einer halben Stunde gesprochen wird, weil man sich Zusatzkosten für Beruhigungsmittel sparen will.
Bei diesem barbarischen Hintergrund, empfinde ich eine Hinrichtung wie oben beschrieben noch fast … ich schenke mir human.
Man verkennt meines Erachtens, dass die Videobilder im Internet sicher eine abschreckende Wirkung haben sollen. Du Soldat, du Kampfpilot, komm mir nicht zu nahe, sonst erwartet dich dieses. Eine Taktik die zumindest den unmittelbar am Einsatzort handelnden nachdenklich macht.
@Dauersauer
Faktisch werden sie in der Öffentlichkeit aber nicht (oder vielleicht äußerst selten?) als »mittelalterlich« bezeichnet. Wir können gerne zwischen Kriegsführung und Strafe unterscheiden, die methodischen Unterschiede bleiben meines Erachtens bestehen. Was mich interessiert ist nicht die moralische Bewertung (wie ich schon oben schrieb, bleibt ein Verbrechen ein Verbrechen, egal wie man es nennt oder wie es verübt wurde), sondern die Implikationen und Ursachen der Bezeichnung »mittelalterlich«, wie die Veränderungen die die modernen Tötungsarten mit sich brachten (Fortschritte sehe ich da eigentlich keine).
Ein weiterer Unterschied ist, dass der Islamische Staat seine Verbrechen herausstellt (u.a. durch Videos) und nicht verheimlicht, wie das sonst meist geschieht.
Ein weiterer Unterschied ist, dass der Islamische Staat seine Verbrechen herausstellt (u.a. durch Videos) und nicht verheimlicht, wie das sonst meist geschieht.
In der Sache sind wir uns einig, nur das wir bei diesen Bildern gleich von Verbrechen reden, wo doch offenbar eine Gerichtsverhandlung nach IS Recht (Scharia) durchgeführt wurde, zeigt wie sehr wir durch einseitige Betrachtungsweisen geprägt werden. Eine Übergeordnete Instanz, die diese ( archaischen,barbarischen Vollstreckungen) unabhängig bewertet, gibt es ja nicht. Ich befürchte, diese Bilder werden gegen unsere Bevölkerung instrumentalisiert um drastischer gegen den IS vorzugehen. Natürlich sind Kollateralschäden wie man so schön verharmlosend sagt, nicht zu vermeiden und werden akzeptiert.
»Es ist ja wichtiger die Kulturschätze vor diesen Barbaren zu schützen, die von tierischen Instinkten geleitet werden.«
Vielleicht sollte man die Menschen in ihrem Kulturkreis einfach in ruhe lassen, und nicht ständig nach Vorteilnahme schielen, sei es Strategischer Natur oder auf Grund wirtschaftlicher Interessen.
Ich befürchte, diese Bilder werden gegen unsere Bevölkerung instrumentalisiert um drastischer gegen den IS vorzugehen
Also wäre es besser, diese Bilder gleichrangig mit anderen Gewaltbildern zu behandeln? Und dann entsprechend dieser Diktion den IS als »normal« aufzufassen und sie vielleicht mit der amerikanischen Regierung gleichzusetzen? Das würde ich für ziemlichen Unsinn und eine elementare Verharmlosung dieser IS-Verbrecher halten.
Die Idee, die Leute »einfach in Ruhe zu lassen« finde ich interessant. Ich tendiere auch dazu, glaube aber, dass dies im Fall des IS aus zwei Gründen nicht geht. Zum einen werden uns auf Dauer die Flüchtlingsströme einholen. Zum anderen ist der IS expansiv, d. h. auf Eroberungen ausgerichtet.
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Das Rubrum »mittelalterlich« halte ich für ein rhetorisches Hilfswort; ein Attribut wie sie im Journalismus überall und immer Verwendung finden. Es ist natürlich auch pejorativ gemeint. Wenngleich das Kopf abschneiden durchaus etwas archaisches hat. Man könnte auch auf das 18. Jahrhundert in Frankreich verweisen.
@Dauersauer
Das Wort Verbrechen impliziert einen rechtlichen oder ethischen Standpunkt, würde ich sagen, auch wenn der diffus bleiben kann (ich betrachte das daher nicht »wertneutral«). Man kann vielleicht noch über auf Grund von Diebstahl abgehackte Hände diskutieren (Verbrechen, Grausamkeit oder Gerechtigkeit?), aber spätestens bei Massenexekutionen erlahmen wahrscheinlich die Rechtfertigungsmöglichkeiten, die man aus der Scharia oder wo auch immer herauskitzelt.
Der Begriff »Kollateralschaden« ist ein Euphemismus (nur kann ich auf der anderen Seite auch nicht sagen, dass man den Kurden oder Jesiden nicht hätte helfen sollen; richtig ist aber, dass das erst getan wurde als die Ereignisse in den Fokus der Medien kamen, die tausenden von Toten in Syrien haben lange niemanden gekümmert).
Ich wäre grundsätzlich dafür die Probleme des Mittleren Ostens bzw. der Arabischen Welt auch diesen zur Lösung zu überlassen. Allerdings existieren wir nicht isoliert davon (Flüchtlinge, Terroranschläge, Verbrechen); daneben hat »der Westen« natürlich auch seine Interessen und Verbündeten. Aber auf Dauer wird man sich zurückhalten müssen, schon deshalb weil die Ressourcen nicht reichen überall zu intervenieren und Krieg zu führen (von anderem abgesehen). Die Welt wird unübersichtlicher und multipolarer (man könnte auch sagen, dass ihre Übersichtlichkeit zu den Zeiten des kalten Kriegs eine Täuschung war).
@Gregor
Wobei, und da sind wir wieder mitten im Thema, die Guillotine damals als fortschrittliche Art des Tötens (»kurz und schmerzlos«) galt.