In den letzten Jahren schien Egon Bahr eine gewisse Renaissance zu erfahren. Er war Gast in Talkshows und nicht nur, wenn es um Willy Brandts 20. Todestag oder 100. Geburtstag ging. Sein Urteil über geopolitische und strategische Fragen wurde immer noch geschätzt. Liest man seine »Tutzinger Rede« heute nach könnte man ungeachtet der Situation 1963 durchaus Handlungsanweisungen für aktuelle politische Konflikte ableiten. Wie erfolgreich zähe politische Verhandlungen sein können, zeigte sich unlängst als es um das iranische Atomprogramm ging. Sogar Hardliner wie Zbigniew Brzezinski mutieren plötzlich zu Entspannungspolitikern. Die Parallelen zur sogenannten Ostpolitik der 1970er Jahre sind verblüffend. Die damalige Sowjetunion und der heutige Iran galten und gelten in bestimmten politischen Kreisen als Feinde, was diesen als Rechtfertigung gilt, jegliche Kontakte oder gar Verhandlungen auszuschließen. Bahr durchbrach dieses Denken in Bezug auf das »Reich des Bösen«, weil er überzeugt war, dass auch das politische Gegenüber – mochten auch die ideologischen Differenzen noch so gross und scheinbar unüberbrückbar sein – eine Sehnsucht nach Koexistenz mit den Nachbarn suchte.
»Wandel durch Annäherung« war keine Phrase, wobei es allerdings ein großes Missverständnis war, dieser Wandel bezöge sich ausschließlich auf die Bundesrepublik. Ein Günter Grass hat nie begriffen, dass Bahrs Politikansatz nicht darin bestand, den »Eisernen Vorhang« zu erhalten und das Zusammenleben ein bisschen humaner zu gestalten. Tatsächlich ging es Bahr darum, den Status quo aufzuweichen und irgendwann sozusagen zum Schmelzen zu bringen. Große Teile der politischen Linken in der Bundesrepublik haben dies erst 1989/90 fast schockiert zur Kenntnis genommen. Sie zeigten sich damit in der gleichen Denktradition verhaftet wie die nationalkonservativen Kreise in der Bundesrepublik der 1960er und 1970er Jahre, die keine Diffamierung scheuten, um Brandt und Bahr als »Vaterlandsverräter« zu verunglimpfen. Beide Seiten hatten die Intention Bahrs schlichtweg nicht zur Kenntnis genommen.
Brandts Demission 1974 bedeutete auch für Bahr einen Einschnitt. Unter Helmut Schmidt wurde er zwar noch für zwei Jahre »Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit«, schied jedoch nach der Bundestagswahl 1976 aus der Bundesregierung aus und übernahm einige Jahre die Position des Bundesgeschäftsführers der SPD (was man heute Generalsekretär nennt). Bahrs Lebenswerk war in Form der Ostverträge und der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit vollbracht. Er widmete sich in diversen Institutionen und Ämtern der europäischen Sicherheits- und Friedenspolitik. Seine 1996 publizierte Biographie »Zu meiner Zeit« liefert einen Einblick in sein politisches Handeln. Dabei nahm sich Bahr zurück, betonte die Unterstützung und Förderung durch Brandt, der ihm in den entscheidenden Situationen freie Hand liess. Bahrs Loyalität zu Brandt war enorm. Dabei mag es gelegentlich zu Verklärungen gekommen sein. Den leicht burschikosen Ton eines Reinhard Wilke schlug Bahr nie an.
Ein Typus wie Egon Bahr hätte heute in der Politik kaum noch eine Chance. Warum ich das glaube? Nun, Hans Hütts kleine Anekdote mag exemplarisch für den leider weit verbreiteten Dilettantismus der heutigen sogenannten Politiker stehen.
Dabei zeigt Egon Bahrs Wirken, was Politik leisten könnte. Was möglich wäre, wenn man nicht nur in Legislaturperioden denken würde. Was möglich wäre, wenn »Macht« als Gestaltungsmöglichkeit begriffen würde und nicht nur als Prozentsatz. Der Tod von Egon Bahr und der Blick auf sein Leben zeigt, wie politisch verdorrt dieses Land inzwischen geworden ist. Das macht doppelt traurig.
Ja, sehr einverstanden, in allem.
Traurig um den ehemaligen Gestalter und die heute nicht mehr genutzten Gestaltungsmöglichkeiten. Um um diesen so spürbar anderen Typus.
Traurig.
Verdorrt.
(In dem Nachruf in der SZ steht, Bahr habe sich von John F. Kennedy zur Entspannungspolitik »inspirieren« lassen? Wissen Sie etwas darüber oder ist das auch nur eine Anekdote?
Auch als selber möglicherweise öfter eher unzuverlässiger Zeitzeuge merke ich, dass ich mit den mutmaßlich professionellen Einschätzungen der Nachgeborenen oft nicht übereinstimme. Es scheint, es fehlt bei denen oft so etwas wie ein Tiefenwissen, das Erspüren einer ‘Verkörperung’ über das Faktische hinaus. Bahr war so eine Figur, die etwas Markantes aus einem so ganz anders scheinenden Zeitkontinuum repräsentierte.)
Im SZ-Artikel steht, Bahr habe sich vor allem vom Kennedys Rede am 26. Juni 1963 vor der FU Berlin inspirieren lassen. Die berühmte Tutzinger Rede war tatsächlich später – aber nur zweieinhalb Wochen: sie wurden am 15. Juli 1963 gehalten. Allgemein werden Kennedys Bemühungen nach der Kuba-Krise als Beginn einer Entspannungspolitik gesehen (rotes Telefon, erste Schritte zu Rüstungskontrollverhandlungen, usw). Inwiefern dies weitergegangen wäre, bleibt natürlich fraglich, denn im November wurde Kennedy ermordet. Auch Chruschtschow war ja nach der Kuba-Krise geschwächt und wurde sukzessive entmachtet.
Bahr hat später die Tutzinger Rede als eine Art »Unfall« bezeichnet. Brandt hatte sich verspätet und dann habe er die Rede gehalten, die eigentlich eine Art internes Memorandum gewesen und noch nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war. Brandt hätte sich, so Bahr, sicherlich vorsichtiger ausgedrückt.
Wer wen inspiriert hat – das dürfte schwierig sein zu beurteilen. In konservativen Kreisen geht man von Kennedy als Ideengeber aus, womöglich um die Verdienste der sozialliberalen Politik ein bisschen klein zu halten. Wie auch immer: Bahr und Brandt konnten sich sicher sein, dass Kennedy die Entspannungspolitik mittragen würde. Dies war unter den späteren US-Präsidenten dann anders; dort war man skeptisch bis ablehnend. Bahr hat übrigens immer hingewiesen, dass sie die Amerikaner nicht »gefragt« sondern lediglich informiert hatten.
Vielleicht lassen die »heutigen Umstände« solche Politiker gar »nicht mehr entstehen« oder in entsprechende Positionen gelangen? Vielleicht aber kreiert sie erst unsere Betrachtung und Beurteilung im Nachhinein als »besondere«?
Bahr wurde 1922 geboren und lernte Industriekaufmann. Er wurde dann eingezogen. Nach dem Krieg wurde er – ohne »Formalqualifikation – als Journalist eingestellt. Schließlich kam er zum Rundfunk und dies schnell in verantwortlicher Position. Dann wurde er von Brandt »entdeckt«. – Bis in die 1960er Jahre hinein waren solche Lebensläufe keine Seltenheit. Heute wird ein »Seiteneinsteiger« – sei es in welcher Branche auch immer – mit Argusaugen beobachtet, falls er/sie überhaupt eine Chance bekommt. Eine bessere Qualität hat das nicht immer zur Folge.