Über das Fortwirken von Hofmannsthals Chandos-Brief
Für Gregor Keuschnig,
und auch für Akira Hotta, zur Ermunterung
Einer der Texte, die ich oft wiederlese, teils am Leitfaden des Zufalls, beim Streunen zwischen den Büchern, dann wieder angeregt durch Kollegen, ist der Chandos-Brief von Hugo von Hofmannsthal. Ein bei Autoren beliebter Text, der sich gut zum Zitieren eignet; man kommt nicht um ihn herum. Bei meiner neuesten Lektüre habe ich ihn mehr als früher als Erzählung gelesen, als Geschichte mit relativ weit gespanntem Erzählbogen, der dann in der Gegenwart kulminiert, in den Augenblicken der Epiphanie. Kulminiert wie eine Brücke, die plötzlich abbricht, ins Nichts führt – nicht in eine helle oder düstere Zukunft, die wir ahnen, sondern ins Nichts.
Dieser Lord Chandos ist ein junger, begüterter Mann, einstmals Schüler des bedeutenden Philosophen Francis Bacon, dem er nach langer Schweigezeit nun einen Brief schreibt, den letzten, wie man vermuten muß. Chandos ist ein Schriftsteller, ein Dichter, der mit seinen Schäferspielen einigen Erfolg hatte und nun mit seinem Latein am Ende ist. Die Schäferdichtung war ein beliebtes Genre im Humanismus, also jener Kultur, der Bacon und Chandos entstammten; es wurde noch im Barock und Rokoko eifrig bedient. Derlei Idyllen kann Chandos nun nicht mehr schreiben, und auch sein episches Großprojekt – in der Art eines Vergil, mag man sich vorstellen – ist gescheitert. Das ehemalige Talent steht nun also mit leeren Händen da. Chandos befindet sich nicht nur in einer Schreibkrise, sondern in einer radikalen Sprachkrise – um das Zauberwort zu gebrauchen, das die Leser, Autoren und Germanisten und Kritiker, bis heute gern und oft etwas gedankenlos verwenden. Die Interpretation eines dieser berufsbedingten Chandosbriefleser will besonders originell sein und läuft darauf hinaus, daß der gereifte Chandos künftig jeder Originalität entsage, das Dichten sein lasse und sich seinen Landgütern widme. Das wäre nun eine ruhige, sinnvolle, der Gesellschaft dienliche Art des Verstummens, die in der Literaturgeschichte tatsächlich ein anderer Dichter vollzogen hat, kein fiktionaler, sondern ein historischer: Arthur Rimbaud.
Diese Lektüre übersieht, daß Chandos leidet; der Ton seines Briefes deutet eher darauf hin, daß das Leiden unheilbar ist. Chandos ist in eine Krise geraten, die er nicht, vielleicht nie mehr, zu lösen, der er nicht zu entgehen vermag. Seine Krise ist in Wahrheit eine Katastrophe, ein Zusammenbruch. Allerdings darf man nicht übersehen, wie es ebenfalls einigen Lesern unterlaufen ist, allen voran Hermann Broch, daß der Chandos-Brief keineswegs nur »negativ« ist. Nein, er enthält zahlreiche lichte Augenblicke, Erlebnisse, die offenbar nur deshalb stattfinden können, weil er sich der Katastrophe ausgesetzt hat, statt ihr, wie es weniger radikale Autoren tun mögen, den Rücken zu kehren und sprachliche, in letzter Instanz also: gesellschaftliche Kompromisse zu schließen. Broch hat diese Erlebnisse, in denen das wahrnehmende Subjekt sich in der umgebenden Welt der Dinge aufzulösen scheint, als Schritt in den Wahnsinn bezeichnet. Auch darin kann ich ihm nicht folgen. Will man überhaupt so etwas wie ein Aufgehobensein in der Welt erfahren, hat man sich zuvor einer Reihe bequemer Sicherheiten und pragmatischer Orientierungen zu begeben. Chandos tut dies, indem er auf Kommunikation zugunsten von schweigend-sprechender Kommunion verzichtet. Nebenher bedient er sich weiter der gängigen Sprachformen, er ist durchaus imstande, seine Geschäfte zu erledigen und so zu tun, als verbände ihn noch etwas mit der bürgerlichen Welt. Daß er im Brief an Francis Bacon seinen Erlebnissen in der Begegnung mit kleinen, unscheinbaren Dingen sprachlichen Ausdruck gibt, ist ein performatives Paradox. Chandos sagt nämlich das, was er nicht sagen kann.
Hier greifen dann die Verweise auf den letzten Paragraphen von Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus. Wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen. Solches Schweigen ist, im Gegensatz zur Bedeutung dieses Tun-Worts im üblichen Sprachgebrauch, transitiv, gegenstandsbezogen (auch wenn der Gegenstand am Ende vielleicht aufgelöst wird). Das Schweigen schweigt nicht, sondern kommuniziert, es teilt etwas mit. Wittgenstein legt den Finger auf all die dichterischen Versuche vor und nach Hofmannsthal, eine andere, nicht-diskursive, nicht ratioide Sprache zu finden oder zu erfinden. Oder zurückzufinden zu einer Ursprache, die niemals etwas anderes sein kann als eine Hypothese, bloße Vermutung, Spekulation. Die beiden Sprechweisen, die diskursive und die poetische, trennen sich, und sie werden sich immer weiter voneinander entfernen, genauso, wie sich wissenschaftliche Genauigkeit und technische Weltbeherrschung auf der einen Seite, neue Moral und alternative Lebensformen bis hin zur kommerziellen Esoterik auf der anderen Seite, voneinander entfernen werden – so die inzwischen von der Wirklichkeit eingeholte Vorhersage Robert Musils, der eigentlich gern »Genauigkeit und Seele« auf einen Nenner gebracht hätte, aber an diesem Projekt, wenn auch auf gloriose Weise, gescheitert ist.
Nach der krisenhaften Jahrhundertwende, welcher der Chandos-Brief auf pointierteste Weise Ausdruck verleiht, sind nicht wenige literarische Texte entstanden, die sich mit der Chandos-Krise, mit der geballten Erfahrung von Sprachzweifel und Spracherneuerung, in Verbindung bringen lassen. Dazu gehört zum Beispiel die Erzählung Die Amsel, die Robert Musil in Erinnerung an ein Kriegserlebnis verfaßte. Wer entschlossen in ständiger Todesnähe lebt, so Musil, legt die gewöhnliche Todesfurcht ab und kann zu einer »inneren Freiheit« gelangen, in der quasi-religiöse, rauschhafte, dabei durchaus hellsichtige, ja, heitere Zustände nichts Ungewöhnliches sind. Ein anderes, neueres Beispiel für das Fortleben chandoshafter Leiden und Freuden findet sich in Peter Handkes Die Stunde der wahren Empfindung. In Bezug auf den Helden des Romans, Gregor Keuschnig, trifft weit eher zu als auf Chandos, was Hermann Broch diesem, ja: vorwirft. Keuschnig bewegt sich am Rand des Wahnsinns und hat die Grenze in dieses Jenseits zeitweilig schon überschritten. Dennoch ist dieser Extremzustand oder, mit einem auch politisch besetzten Wort, dieser Ausnahmezustand die Voraussetzung für das Epiphanie-Erlebnis, das ihn erschüttert und, wer weiß (diese Interpretation drängt sich mir jetzt zum ersten Mal auf), zur Vernunft zurückbringt.
Vielleicht sollte man hervorheben, daß Handke hier ausdrücklich von einem »Erlebnis« spricht, ganz so, als hätte er beim Schreiben an Musils Differenzierung zwischen Erlebnis und Erfahrung gedacht (in Wahrheit mag Handke Musil nicht). Das Erlebnis sprengt die Formel der Erfahrung, so die Musilsche Formel, die 1925 den Weg in die Richtung einer »neuen Ästhetik« weisen sollte. Die Dinge, die Keuschnig sein besonderes Erlebnis vermitteln, Taschenspiegelscherbe, Kinderzopfspange und gefallenes Kastanienblatt, sind den üblichen, pragmatischen Zusammenhängen entronnen und damit belanglos, ja, unbrauchbar – wenigstens nach utilitaristischem Verstande. So erst können sie zu »Wunderdingen« werden und »zusammenrücken«, und durch ihr Zusammenrücken, das sich in der Wahrnehmung des, wie Musil sagen würde, erregten Helden wiederholt und bestätigt, entsteht jene Bedeutsamkeit, die der Handkesche Text zugleich schafft und zum Ausdruck bringt. Die Dinge ähneln denen, die Chandos in die »reine Zuständlichkeit« – wieder Musil – seiner im dauerhaften Augenblick gesteigerten, dabei durchaus gefährdeten Existenz entrücken. Die Beispiele, die Chandos seinem hochverehrten und hochvernünftigen Lehrer Francis Bacon bietet, sind, wie er einräumt, »kläglich«. Es handelt sich um eine Gießkanne, eine auf dem Feld verlassene Egge, einen Hund in der Sonne, einen ärmlichen Kirchhof, einen Krüppel, ein kleines Bauernhaus. Später führt er noch Dinge an, die die meisten Menschen als abstoßend empfinden, etwa Ratten im Todeskampf.
An solchen Orten, bei solchen Dingen nimmt, wenn überhaupt noch eines erwartbar ist, das neue Leben seinen Ausgang, und die Kunst besteht darin, diesen ersten Impulsen sprachlichen Ausdruck zu verleihen und ihre Wirkungen erzählend weiterzuführen. Handke erlebte die Sprach- und Erkenntniskrise selbst, am schärfsten unmittelbar vor der Niederschrift von Langsame Heimkehr. Im Unterschied zu Chandos hat er nie behauptet, sich von der Poesie verabschieden zu wollen. Im Gegenteil, sein Sprachvertrauen ist mit den Jahren und Werken gewachsen.