Die Frau mit dem Kopftuch ist wunderschön. Das Tuch, grün und golden, geheimes Muster, rahmt das Gesicht, kehrt seine Schönheit hervor. Es ist eine fremdländische Schönheit, eine aus Irgendwo, Indien oder Afrika oder Mongolei oder Peru, von der Küste, vom Hochland, aus dem Gebirge, man weiß es nicht, sie kommt von einem ganz anderen Erdteil, den wir nicht kennen. Ebenmäßige Züge, schmale Nase, die kaum hervortritt aus dem Gesicht, unmerkliche Grenze zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen hier und dort, dir und mir, ich und ich. Eine Versunkenheit. Ein leichtes Aus-sich-Herausgehen. Ein Lächeln in Bereitschaft. Wasserblaue Augen, die plötzlich scharf und dunkel werden. Scharfe dunkle Augen, die plötzlich weich und wasserblau werden. Leicht gewölbte Brüste unter dem weinrotem Stoff. Umriß der Schenkel unter sich spannendem Kittel. Die Knie dort, zwei Festpunkte – kleine Erhöhungen – im Strom. Die ganze Frau ist ein Fels in der Brandung, die anschwillt und abschwillt. Mit ihren beiden Kindern, die jetzt schlafen (und jetzt und jetzt schlafen), links und rechts an der Hüfte der Mutter, eines der beiden Köpfchen im Schoß, sitzt sie am Abgang zur U‑Bahnstation, den aufrechten Rücken ans kupfergrüne Geländer gelehnt, wo die Eiligen eine Kehre machen, einen engen Bogen beschreiben, um gleich darauf zu verschwinden. Wollen sie in die Unterwelt, müssen sie um die Frau mit Kopftuch herum. Keine Aufforderung zum schlechten Gewissen erreicht sie, keine zur Empfängnis der Gabe geöffnete Hand, keine Geste, kein Nicken, nichts. Nur die Augen, die sich von Zeit zu Zeit schärfen, verengen, erweitern. Und vor (oder in) den Augen die flüchtigen Gestalten, fliehend wovor? Und Beine, wehende Hosen, steife Röcke, federnde Füße, spitze Knie. Quiekende, knarrende, atmende Schuhe. Gezwängte Fersen und Zehen. Eingefaltete Gesichter. Geschminkte Gesichter. Selbstvergessene Gesichter. Die Frau merkt sich ein jedes. Sie merkt sich die Gesichter, die jeder Einzelne birgt, nimmt die Gesichter in sich auf, stellt sie in den Speicher, hängt einige an die Wand ihres Museums. Vielleicht ist das ihre selbstgewählte Aufgabe. Von Zeit zu Zeit wechseln die Bilder an den Wänden, die hier kommen in den Speicher, jene werden sich gezeigt.
Aber die Schönheit der Frau vom anderen Erdteil...
© Leopold Federmair