VOR HAARLEM
I
Schau in den Ruisdael: schlichtes
Gelände weit und eben.
Wind strebt vorüber, man
geht winzig querfeldein,
und bleibt doch schön im Rahmen
aus bestem Ebenholz.
Wie Haarlems ferne Mühlen,
jeweils ein Schatten‑X
(nur bei der Kerk ein lichtes)
im schmalen Wechselschein
fein auf die Leinwand kamen
zu Wolken, Hollands Stolz!
Das Weiß, die Zwischen-Blaus,
der Sonne Dann-und-Wann!
Hier wird gebleicht. Doch schweben
schon wetterfrische Graus,
die selbst vorm Bildschirm kühlen
das Brennen deines Blicks.
II
Ein Bild, das selbst von Lein-
wand untergründig weiß,
die man auf Stadtrandwiesen
in langen Bahnen bleicht.
Kommt nah heran ein Schritt,
dann sacht wie Ruisdaels Hand
im Grau der Ärmel-Spitzen.
Rostrot hat halbe Macht;
die Sonne, dach-gebannt,
ist vorn schon wieder weg.
Kein Glas, kein Fensterblitzen?
Der Meerwind hebt nur leicht
am längsten Tuch ein Eck,
mehr fällt ihm grad nicht ein.
Mir wohl: ein flinkes Kind
unter den Wolkenriesen;
ein Mädchen muss es sein,
ganz wie von uns. Es gibt
(natürlich unbewiesen)
auf seinen spitzen Tritt
zwischen den Bahnen Acht.
III
Calme bloc ici-bas chu d’un désastre obscur
Mallarmé
Von höhern Bahnen Un-
sternblock gestürzt in Ruhe,
so völlig gram der Sonn
der Bahre Folge-Bau!
Der fensterlose, zue,
lot-schwer im Vordergrund:
ein Wartehaus bestimmt!
am Styx samt Kahn, tief blau.
Der Sprache muss erst schwindeln,
dann siehst du Licht jäh nehmen,
wer weiß wohin genau,
das Leinen, Todeswindeln;
und wie, so gar nicht bunt,
bloß ein genauer Schemen
von Noahs großer Truhe,
nah-fern die Bavo schwimmt.
IV
»The Bavo«— mit offenem, breitem, niederländisch bleibendem a — so ließ der Video (»ich sehe!«)- Sprecher den Namen der Kirche, oder besser: des Kirchenschiffs hören, das auf den trotz Bränden und Überschwemmungen immer noch recht zahlreichen Bleichfeld-Gemälden Ruisdaels die größte anvisierte Gelände-Ferne darstellt und zugleich die Mitte der auf dem Bild so gut wie unsichtbar bleibenden Stadt Haarlem.
Der Blick geht über eine Ebene von Feldern und Wiesen mit ihren schmal und lang ausgelegten Leinwand-Bahnen sowie das Binnen-Meer von Bäumen dahinter, das dies Kirchen-Schiff zu tragen hat. Nie bis zum Betrachter heran. Zu was würde es auch aus der Nähe? Zu Stein und Glas — langsam, schrittweis, im Straßenzug aufwachsend wie beim Begängnis des in Amsterdam gestorbenen und in einem Pferdegespann seiner Geburtsstadt Haarlem zugeführten Ruisdael, den es also auch nach seinem Tod in der bevorzugten Blickrichtung, von Norden her, dorthin zog.
Nichts möchte ich gehört haben von einem etwa bei der Gelegenheit im Innern des Kirchenschiffs hallend verlesenen Text, halte mich an den dichteren der vor Haarlem perspektivisch zusammengedrängten Baumzeilen. Die über ihnen vom Maler nachobenzu vervollständigten Zirkumflex-Akzente (lauter bald dunkle, bald helle ^ ) müssen dem Landschafts-Leser entlanghelfen an der handschriftlichen, eigentlich ganz unaussprechlichen Inventur: Ruisdael (Röisdahl aus dem Munde des Sprechers) ist anscheinend kein einziger Mühlenflügel entgangen.
Es sind schilderijen (s‑chchilderäjn) von denen ich mich einfach nicht losreißen kann. Es gibt mehrere davon, zum Glück, sodass mein fasziniertes »Hängen an einer Ebene« Variationen erfährt. Jedoch auf allen »Haarlempjes« (wie diese besondere Gattung von Veduten genannt wird), bleibt das wolken- statt seetaugliche Kirchenschiff stets in der Ferne. Wenn man es dort anvisiert — nachdem die Kompassnadel des Blicks weit ausgeschlagen hat über dem grünen, grünbrauen, schmal-goldenen, von Böen gewellten, ein paar zerschnittene Segel nicht sinken lassenden Vegetationsmeer bei Haarlem — so scheint es, dass die Bavo in ihrer Ferne einem Ding verwandt ist, das man kennt, das man früher, in der Kindheit, manchmal im Blick und in der Hand hatte: einen jener kleinen, kantigen Magneten, an dem die Nägel klebten.
V
Auf dem Vorfeld von Haarlem kann die Videokamera panoramisch über erstaunlich viel Vegetation hinstreben, in der die Einschlüsse von Bebauung kaum ins Gewicht fallen. Die Geländezonen in jener halben Ferne gestaffelt zusammenrückend, zeigt das Objektiv — zeigt sie objektiv — wie Baum- und Rohrwipfel vom Sommerwind erfasst werden, wie unter ihm, vor ihm, ja nach ihm ganze Flächen-Streifen in böiger Sonne schwanken. Ein Nordwestwind muss es sein, der da, ubiquitärer Schäferhund, dem Wolkenhimmel die Schattenherde zurecht treibt. Das ferne Spiel geht mir nahe. Es ist Wind, der, mit trivial-schöner Musik zum Tönen gebracht, das innere Sediment streift, ein Reservat von Gefühlen, unsicheres, nachgleitendes Sentimentgelände. Dass ich einmal so etwas einsetzen würde in meine Rebus-Welt, hätte ich mir nicht träumen lassen.
Aus der weiten Ebene, dem perspektivisch zusammengeschobenen Bestand von wenigen Bauten und zahllosen Bäumen, wird dann die Bavo mächtig herangeholt, »stetig herbeigeschleudert«. Nicht nur das Kirchenschiff wird hier in Szene gesetzt, auch die laubgrüne, komplexe Wipfelkinetik des Vorgeländes — alles was vor Ruisdael beim Malen seiner Haarlempjes so dornruischenhaft erstarren musste. Die Kamera schwenkt dann ab, am Meereshorizont entlang, und ein trockenes Klicken ist dabei zu hören. Diese xylophonische Punktierung ist seltsam, ein wenig absurd: Stille abtropfend von Kastagnetten, Töne wie von Wrack-Holz und Knochen. Tickt da etwa die alte holländische Deichangst, Flutangst, unter dem sommerblauen »Panoräma« (breiteres, niederländisches a)?
Ein Bild fällt mir plötzlich ein, wohl aus jenem Ä-Laut heraus. Eine Szene von früher, noch zur niederrheinischen Jugendzeit gehörend: das Abtropf-Ende von etwas wegblickend Schräggehaltenem.— Was das bloß soll?
Hier ist nun das Sekundieren des Lesers nötig. Eines der mitmacht, die Hand auf der beinlos gleitenden Maus. Mit dem Blick auf die Uhr unten am Strich, auf ihre laufende Sekunden-Zahl, wäre die panoramische Sequenz herauszulösen, von der die Rede ist. Cutting nur im übertragenen Sinn, kein wirkliches Herausschneiden und Einkleben in die Gesamt-Collage: nur ein Mausritt durch die frische Küstenluft, von Minute 4:47 bis Minute 5:37. Denn nur diese musikuntermalten 50 Sekunden gehören hierher, sind mir eine einzige große Sekunde, »ein jetzlich secund« (eine schöne Wendung, wie sie einmal jemand verwendet hat Anfang des sechzehnten Jahrhunderts, das dem Ruisdaels vorausging).
Dann aber auch noch die viel kürzere Spanne von Minute 8:56 bis Minute 9:11. Dort erscheint die Bavo in winterlichem Dunst, eisig-grau, wie den Anker lichtend, für einen Augenblick noch eingefasst von kahlem Wipfelgeäst. Das winterliche Piepsen eines Vogels ist zu hören durch die ganz windstille Luft herüber. Es wird kaum aus diesem zum Greifen nahen, zum Nichtumgreifen schlanken Gezweige kommen, sondern aus einem anderen, in benachbarter Höhe. Die leichte, aber unübersehbare Bild-Bewegung hier ist offensichtlich keinem Durchzug der Luft geschuldet, sondern dem Mann im Baum, der zugleich sich selbst und die Kamera halten muss, wo er doch da oben beide Arme so gut brauchen könnte.
VI
Der Durchblickpunkt war wohl nicht leicht zu finden, und auch nicht leicht zu halten, für den, wie wir schaudernd hören, unter Lebensgefahr mit der Kamera in den winterlichen Baumwipfel Hochgekletterten. Das Video kommt hier nicht ohne eine entsprechende Devise aus — ins Bild gerückt, wie das Übrige, auf Englisch, aber wohl aus dem Sprichwörterschatz des Niederländischen. Gleichsam mit kälterauchendem Mund wird eines zitiert das ermutigt, dort oben »het leven in eigen hand te nehmen« (oder so ähnlich). Der ungenannte, tapfer Reproduzierende, der dort im höchsten Geäst die Ferne heranzieht, rettet ihre Aura durch sein leichtes Zittern. Klar, auch deutsch könnte hier zitiert werden, Walter Benjamins bekanntes Diktum zum Beispiel. Jedoch eher wie eine Anrufung, und außerdem mit einem Wort zu viel: »Aura!, sonderbares Gespinst von Raum und Zeit, einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie im Sucher auch sein mag...«
Noch ein anderer Kletterer ist mir gegenwärtig, wieder einmal. (Ich habe schon öfter versucht, ihn in ein paar endlich definitiven Versen festzuhalten). Nicht ganz unähnlich ist er dem Kameramann im Baum, wenn auch viel jünger und ungleich sicherer im Haltfinden. Auch er hatte ja für ein fernes Publikum die tollste Freihändigkeit gewagt. Aber wie lange ist das schon her, Jahrzehnte bestimmt: Jener junge flämische Ikarus, den ich einmal, etwas weiter südlich im Niederländischen und in anderer Jahreszeit, aus einem irgendwo eine Weile haltenden Zug sah, einem der noch Fenster hatte die man öffnen konnte:
Über den Himmel von Eiern hinaus,
bis an die Bahn der Sonne,
stieg
der Junge im Geäst.
Wie ein Einfall von ihr
in ihrem schrägen Einfall.
Jäh grell Gesicht und Schopf allein,
streckte er beide Arme aus,
behauptend so, von fern,
ich flieg! —
rund um den Stamm
das rechte Bein.
VII
Jemand der das weite Land ungleich bedächtiger aufnimmt als ein mit der Kamera im Wipfel schwankender Videast, ist der am Weg sich kurzentschlossen niederlassende Zeichner. Jener der da rechts im Vordergrund des Styx-Gemäldes sitzt, auf ein praktisches Malerstühlchen durchaus verzichten kann, Erdkontakt, Sandkontakt pflegt, muss Ruisdael selbst sein. Von einem Mitarbeiter, Nacharbeiter, ist er mit spitzem Pinsel gekonnt an die Aussichts-Düne platziert worden. Ohne solche Spezialisten für winzige, bildbelebende Figuren wäre die Landschaft weniger anziehend, weniger hereinziehend. Und man kann, man muss ja hinein. Es ist die Welt vor und nach einem. Wieviel gibt es zu befragen, bevor man ans Ufer kommt. Der Kahn und der mit der Stange sind ja zu sehen. Aber auch das Weiß des Papiers, so verschwindend klein es ist, kann man erkennen auf den Knien des Künstlers. Jemand verstellt ihm die Aussicht, dehnt ein Gespräch aus, über Wetter und Malerei. Ein Schwatz, der vielleicht willkommen und ganz angenehm gewesen wäre, wenn er die Begrüßung am Weg um nur wenig verlängert hätte. Aber so wie hier…
© Sander Ort