Ungewöhnlich dieses kurze Vorwort in der Er-Form. Es ist der Versuch, noch einmal eine kleine Distanz herzustellen zu dem, was dann unweigerlich »Ich« genannt werden wird. Der Mann, der seine schwarzen Anzüge nur noch zu Trauerfeiern benutzt. Die sogenannten »Einschläge«, die näherkommen. Die Erinnerungen, die immer mehr verblassen und vor dem endgültigen Verschwinden errettet werden sollen.
Der vordergründige Anlass: Ulrich Greiner, einer der wichtigsten deutschen Literaturkritiker, ist dieses Jahr 70 Jahre alt geworden. Von 1970 bis 1980 war Greiner Feuilletonredakteur der FAZ. Dann ging er zur »Zeit«, wo er in unterschiedlichen Positionen bis heute tätig ist. Im Gegensatz zu einigen anderen Kollegen stellte sich Greiner fast nie ins Zentrum. Die große Inszenierung blieb ihm fremd. Im Fernsehen war er selten zu sehen; zweimal im Literarischen Quartett (1991 und 1999). Am deutlichsten trat Greiner mit seiner Positionierung im Literaturstreit um Christa Wolfs Erzählung von »Was bleibt« 1990 hervor, in dem er Wolf als »Staatsdichterin« der DDR bezeichnete und Wolfs Umgang mit ihren Stasi-Verstrickungen peinlich nannte.
Weder von dieser Auseinandersetzung, die das Feuilleton länger beschäftigte und die Frage nach einer »Gesinnungsästhetik« in der Beurteilung von Literatur aufwarf, noch über andere ästhetische Diskussionen und literarische Debatten erfährt man in diesem Buch. Ungewöhnlich ist auch das gewählte Format: Greiner gliedert seine Autobiografie in 48 alphabetisch sortierten Begriffen, von »Agfa-Clack« bis »Zimmer«. Der Verzicht auf eine chronologische Darstellung bietet den Vorteil, dass man von starren Zeitgerüsten nicht eingeengt und damit das Erzählen, das Abschweifen, gefördert wird. Fast hat man das Gefühl mit dem Pfeifenraucher Greiner am Kamin zu sitzen.
Blei und Tonbandgerät
Auf den ersten Blick kurios mutet auch die Genrebezeichnung »Alphabetischer Roman« an, die einen letzten Rest Fiktionalität durchblicken lassen soll. Dabei sind auffallend viele Begriffe Reminiszenzen aus einer vergangenen Zeit, die aber dennoch nie idealisiert wird. Sentimentalität ist dem Autor fremd. Es sind Erinnerungspflöcke, jeweils typisch für eine bestimmte Epoche des Lebens. Wie zum Beispiel »Agfa-Clack«, die erste, einfach zu bedienende Kamera, die noch etwas Besonderes war – im Gegensatz zum inzwischen trivialisierten digitalen Fotografieren. »Blei« ist eine kurze aber wunderbare Hommage an den längst ausgestorbenen Beruf des Metteurs nebst dem (wörtlich zu verstehenden) Hineinriechen in dessen Arbeitsplatz. Olfaktorisch wird es auch unter dem Stichwort »Schweiß«. Greiner entwirft eine kleine Typologie der Schweiß-Momente. Zum einen der Arbeits- und Saunaschweiß, beide harmlos, und dann der gefürchtete (und abnorm stinkende) Angstschweiß, der ihn zuweilen befiel als er als Feuilletonchef diversen Zwängen ausgesetzt war und Versagensängste entwickelte. Mit seinem Text zum »Tonbandgerät« ersteht noch einmal die Faszination dieses Aufzeichnungsapparates, der damals als das Nonplusultra galt. Aber all diese Gegenstände, einst gepriesene technische Neuerungen, verschwinden nun im »Orkus des Veraltens«. Und niemand ist mehr in der Lage, das defekte Tonbandgerät zu reparieren.
Freundschaften zu Schriftstellern?
Die Texte werden fragender und elegischer, wenn es um Menschen geht, wie etwa beim Thema »Freundschaft«. Das Zerbrechen der Freundschaft zu Louis Begley – wegen einer negativen Rezension? Greiner fragt sich, ob das überhaupt eine Freundschaft war. Greiner schätzt, ja verehrt Peter Handke und Botho Strauß. Aber Freundschaft? »Ich füge hinzu, dass ich zu beiden so etwas wie Liebe empfinde, wobei der Begriff Nähe wie Distanz, Zuneigung wie Befremdung mit einschließt«, so schreibt er ein bisschen umständlich (wie es sonst gerade nicht umständlich bei Greiner zugeht).
Wenig Privates. Da sind die Eltern (der emsige Vater, dem mehr als einmal Abbitte geleistet wird; die Mutter unter einem Lindenbaum), seine Familie (vor allem die Kinder); eine Jugendliebe (»Hortensie«). Die erste Freundin. Oder eine gewisse Linda: »Wir schrieben einander Briefe. Es waren nicht sehr viele. Den letzten, der aus Ann Arbor kam, hatte sie mit ihrem Parfüm getränkt. Oftmals habe ich daran gerochen. Jedes Mal wurde der Duft schwächer, bis er endgültig erloschen war.«
Namedropping und Indiskretionen gibt es fast gar nicht. Einige wenige sogenannte Promis schaffen es ins Buch. Da ist der verehrte Fritz J. Raddatz, dem Greiner als Feuilletonchef der »Zeit« 1986 nachfolgte (bis 1995 war er in dieser Position). Er ahnte, dass er ihn intellektuell nicht erreichen werde. Eine Abneigung wird erzählt – jene zu Frank Schirrmacher. Durch den unerwartet schlaffen Handschlag des »Machtmenschen« Schirrmacher liest Greiner den Händedruck nun »umgekehrt«. Die Intrigen in der Zeit-Redaktion; hier gibt es einen kleinen Einblick. Benjamin Henrichs, der ihn vor versammelter Mannschaft Lügner nannte.
Rollentausch zwischen den Ressorts
Greiner zeigt einen Paradigmenwechsel des Feuilleton-Journalismus auf. Schon vorher gibt es eine Bemerkung, dass man für eingängige und gelungene Buchbesprechungen (vulgo Rezensionen) kein Lob erhalte. Man wünscht stattdessen Interviews, Portraits, Betriebs-Boulevard. Nur noch gelegentlich gibt es ein Feigenblatt mit einer großen Rezensionsanstrengung.
Und noch eine andere, neue Funktion des Feuilletons entdeckt Greiner. Es sei »für die überhöhende Erläuterung des je Aktuellen zuständig geworden, während zugleich das politische Ressort – da Berichte über das ’starke und langsame Bohren harter Bretter’ (Max Weber) nicht mehr genug Leser zu finden scheinen – dazu übergegangen ist, sich Formen des klassischen Feuilletons anzueignen.«
Heftig kritisiert er das »Selbstdarstellungsbedürfnis« von Journalisten, das »die Autorität des Textes« immer mehr verdränge. Der Grundsatz, die Presse solle »über Ereignisse…berichten, und nicht Ereignisse« herstellen, werde immer mehr vergessen. Ambivalent sein Verhältnis zum Echtzeit-Journalismus im Netz: »Der Online-Journalismus ist mir zutiefst verdächtig, und doch sehe ich mit staunender Bewunderung die jungen Kollegen, die sich ebenso unbefangen wie intelligent, ebenso virtuos wie einfallsreich in den neuen Räumen bewegen.« Dennoch dürfte es für den Berufsstand verstörend sein, wenn es heißt: »Ich glaube übrigens, dass die Presse gut daran täte, das verfemte Wort von der ‘Lügenpresse’, wie es bei den Demonstrationen laut wurde, selbstkritisch ernst zu nehmen.«
Greiner fordert fast schon verzweifelt dazu auf, den Rezipienten intellektuell zu fordern und nicht mit leichtgängiger Kost abzuspeisen. Er sieht die Grundlagen für diesen Paternalismus bereits in der Kindheit und Jugend, bei Eltern und Schulen, angelegt, erinnert sich an seine Lektüren, von denen er als Jugendlicher zunächst kaum etwas verstand, aber durchaus fasziniert war. »Etwas zu lesen, ohne es gänzlich zu verstehen, erscheint mir als die entscheidende Initiation ins Reich der Literatur. Die zeitgenössische Pädagogik, deren Ziel darin besteht, die jungen Leser nicht zu überfordern und die obligatorischen Texte im Hinblick darauf auszuwählen, ob sie die Kinder in ihrem Leben abholen könnten, kommt mir fragwürdig vor.«
Greiner erkennt, wie sich der Journalismus und das Feuilleton ändert. Die am Ende ausweglose Resignation eines Fritz J. Raddatz ist ihm jedoch fremd. Eher glaubt man zwischen den Zeilen eine bestimmte Form von Dankbarkeit herauszulesen. Daher fehlen Abrechnungen oder intensive Enthüllungsgesten. Bei aller Strenge gibt es auch lustvolle Mäander, etwa wenn die Erörterungen zu »Kühlschrank« nach Moskau, ins Hotel Rossija führen, in die UdSSR der Gorbatschow-Zeit und mit leichter Hand einen verzweifelten weil hungrigen Deutschen im abendlichen Moskau zeigen. Ulrich Greiners »alphabetische« Autobiografie ist ein ehrliches, ein graziöses, wohltuend unprätentiöses Buch.
Greiner hab ich gern gelesen. Er fällt in meine ZEIT-Periode als junger Mann. Ich habe ihn als unabhängig empfunden, im Gegensatz zu den Hitzköpfen, welche die »neue ZEIT« vorausahnten. Ein polit-didaktischer Verein im Schmelzzentrum der neuen Mitte. Die Studi-Lehrer-Gehirn-Waschanlage.
Unbedingt richtig: dem Leser etwas abverlangen. Auch der Redakteur sollte dahin aufschließen, der Literat bzw. Autor muss es vorgeben. Stattdessen: Schwanz wedelt mit Hund. Schwache Literatur, von Klugscheißern aufgeblättert. Eitelkeit. Lieblosigkeit.
Es wirkt auf mich bis heute befremdlich, mit angesehen zu haben, wie die Politik sich des Feuilletons bemächtigte, um sich noch erfolgreicher der Köpfe der halbgebildeten Stände bemächtigen zu können. Zweifellos ein Regime, das um die Ecke denkt; Methodik des Unterschlagens, der Einseitigkeit und der gespielten Entrüstung. Ganz unabhängig von dem überaus bitteren Beigeschmack, den der Kollateralschaden an den Künsten einbringt, sehe ich es als misslungenen Versuch, Deutschland in eine »sozial-liberale Kulturnation« zu verwandeln, dem alten Nationen-Problem geschuldet, d.h. letztlich der Frage, wer wir sind und sein wollen.
Netter Versuch.
Die Tendenz zur »sozial-liberalen Kulturnation« ist aber auch bei Greiner spürbar. Die Forderung dazu, den Leser zu fordern, hat ja auch immer etwas protestantisch-linksliberales, weil er zumeist intentional verknüpft wird. Das macht Greiner nicht ausdrücklich, aber ich habe immer die Befürchtung, dass mich jemand dann nach der Lektüre wie in der Schule abfragt und auf den »richtigen« Weg bringen will.
Ja, die Forderung ist nicht eindeutig. Will man den stets in Entwicklung befindlichen Menschen/Leser nur bei der Entfaltung seiner selbst befördern, oder nimmt man die Entwicklungsziele didaktisch schon vorweg.
Das sagt sich schnell, und fälscht sich umso leichter. Dabei gibt es natürlich immer einen Eintrag aus dem spezifischen Kultur-Rückraum, und die protestantische Ägide ist sogar besonders hartnäckig... am Helfen. In einem Punkt muss ich dieser wildgewordenen didaktischen Bande sogar beipflichten: eine allgemeine Anleitung zur »Erziehung des Menschengeschlechts« liegt ja nirgends vor. Man muss sich aus dem Rückraum (Religion, Ideologie) bedienen. Die Kunst scheint immer wieder das Universelle zu erreichen, aber wie ich bei mir selber feststellen konnte, fällt man doch allzu leicht dahinter zurück. Das Übermensch-Problem: den Bogen allzu weit gespannt, das Ziel allzu hoch fixiert, –da geht der Schuss leicht nach hinten los. Kunst und Philosophie raus aus dem Schulwesen?!
@die_kalte_Sophie
Erstens ist die Hauptaufgabe der Schule (des Schulwesens) sicher nicht die Erziehung der jungen Menschen (dass sie auch erzieht, sei nicht in Abrede gestellt); zweitens sollte man sich keine Illusionen machen: So wie Künstler keine besseren Menschen sind, machen Kunstwerke per se niemand besser (wenn man der Kunst schon Funktionalität andichten möchte, dann jene der Bildung). — Erziehung und Hilfe zur Entwicklung beinhalten immer die Vorwegnahme irgendwelcher Ziele, sie sind immer (auch) wertend; problematisch wird es, wenn Eifer und Paternalismus zusammenfinden, wenn Entscheidungen (Zu- und Abwendungen) mehr oktroyiert als getroffen werden (selbst wenn das subtil geschieht).
War nur so ein Statement. »Kunst und Philosophie raus aus...«. War nicht besonders ernst gemeint. Ich wollte eigentlich auf dieses diffuse »Scharnier« aufmerksam machen, welches die disziplinäre Dimension (Schule) mit dem Nützlichen (generalisierte Ökonomie) verbindet, wobei die »evolutionäre Komponente«, also die Entwicklung der Autoren, Denker, Sachverständigen immer mehr unter den Tisch fällt.
Ich vermute, die entwicklungspsychologische Dimension (allgemeine Verbesserung des Menschengeschlechts) verschwindet gerade. Sieht auch wirklich nicht nach Verbesserung aus. Das Verschwinden kann man beurteilen, wie man möchte. Aber mit dieser Dimension meinten die Akteure doch immer auch sich selbst in prototypischer Verwechslung, im Sinne eines universellen Selbst. Mir kommt diese »Abschaffung« immer wie eine Begründung der Verflachung vor, wenn Du weißt, was ich meine... Ich glaube, ein gewisser Bildungsbegriff war doch nicht an alle adressiert, sondern schlicht ein Code für eine Entwicklung, die nochmals deutlich länger dauert als normal. Fast eine »Werbung für das fortgeschrittene Alter«.
Ich würde den Paternalismus am liebsten auf den Kopf stellen: »...je älter Du bist, desto mehr weißt Du... Also bitte tu’ nicht so, als ob Du alt wärst. Du weißt ja offensichtlich nichts!«
@sophie_metpsilomena_gregor
Entwicklung setzt voraus, daß Anlagen da sind, und die sind da. Es braucht nicht unbedingt Ziele, oder anders gesagt: Alles mögliche kann als Ziel dienen, und der Effekt, auf den es eigentlich ankommt, ist eben Entwicklung. – Ich habe auch den Eindruck, daß die Idee, sowohl Individuen als auch Gruppen, am Ende die Menschheit, können/sollen längerfristig etwas aus sich machen (das in ihnen steckt), aufgegeben wird, nein: aufgegeben worden ist. Statt dessen Ökonomie, sprich Kommerz, augenblicklicher Konsum, Spaß.
Und wenn Greiner schreibt: »Etwas zu lesen, ohne es gänzlich zu verstehen, erscheint mir als die entscheidende Initiation ins Reich der Literatur.« Genau! Aber mit so einer Maxime darf man sich in keine Klasse, keinen Hörsaal mehr trauen. Ich tu’s trotzdem – und stoße bei einzelnen auf Resonanz. Die brauchen das eigentlich, gefordert zu werden.
Was ich nicht verstehe: Warum verteidigt Greiner dieses elende, nazigeprägte Schlagwort von der Lügenpresse, das heute genauso hirnlos verwendet wird wie das vom Gutmenschen?
@Leopold Federmair
Greiner goutiert nicht das Wort »Lügenpresse«. Aber er erkennt die tiefe Verunsicherung bei Medienrezipienten ob der ihnen präsentierten Nachrichten und Informationen.
Ich habe die Stelle in seinem Buch original zitiert. Greiner sieht in dieser pauschalen Schmähung eben auch einen Gran Wahrheit. Dass er das nicht ausführt, kann man ihm vielleicht vorwerfen.
Die Nazis hatten den Begriff zwar benutzt, aber er stammt ursprünglich aus dem national-völkischen Milieu und wurde vor allem um den Ersten Weltkrieg herum verwendet (bei Google Books kann man dazu erste Eindrücke erhalten). Was meist vergessen oder nur in einem Halbsatz erwähnt wird ist, dass »Lügenpresse« ein gängiger Kampfbegriff in den DDR-Medien war. Damit war natürlich die westliche Presse (bzw. Springer-Presse) gemeint. Da »Pegida« ihre Hochburgen vor allem im Osten hat, dürften etliche den Begriff daher kennen.
Die ausschließliche Verortung des Begriffs als Nazi-Idiom wurde schnell zur willkommenen Möglichkeit, sich jeder Form der Kritik bspw. an der Russland-Berichterstattung zu entziehen. Man ist damit sofort immun. Dass die Kritikfähigkeit gerade bei Journalisten nicht besonders hoch ausgeprägt ist, dürfte ja bekannt sein. Andererseits ist inzwischen eine gewisse Anspruchshaltung bei Mediennutzern aufgekommen, dass nur noch nach ihrem jeweiligen Weltbild berichtet werden soll. Durch die Filterblasen im Internet wird dieser Anspruch verstärkt. Den Spagat einer möglichst weiten Neutralität leisten die Medien immer weniger, nicht zuletzt weil sie Meinungen als Tatsachen darstellen bzw. unentwirrbar miteinander verknüpfen.
Man kann die Schmähung »Lügenpresse« ablehnen – vielleicht muss man es sogar (weil es Vorsatz beinhaltet). Aber das Medien auf die unterschiedlichste Art und Weise manipulieren – damit muss man sich auseinandersetzen. So interpretiere ich Greiner.
Das sehe ich schon alles, trotzdem würde ich diesen Begriff nicht verwenden, außer um ihn zu kritisieren. Habe gegoogelt und zu meinem Erstaunen sogar einen Eintrag »Lügenpresse« bei Wikipedia gefunden (was da inzwischen nicht alles steht!). Meine besondere Aufmerksamkeit hat das Wort eigentlich nur deshalb, weil ich es immer wieder in rechtsradikalen Diskursen finde und es da einen üblen Beigeschmack hat. Es ist ein Kampfbegriff, der vom Denken abhalten soll. Ich erlaube mir, den Wikipedia-Artikel zu zitieren: »Seit Anfang der 2000er Jahre ist das Wort „Lügenpresse“ insbesondere in neonazistischen und rechtsradikalen Gruppen gängig.« Langsam breitet sich dieser Sprachgebrauch aus, über die Grenzen dieser Gruppen hinaus. Und das finde ich sehr sehr bedenklich.
Auch zur »Lügenpresse« kann ich was sagen. Zunächst aber »Kompliment« an Federmair, der als einer der letzten das sokratische Prinzip richtig ausdeutet, und echte Fragen statt rhetorische Fragen/Fallen an die Schüler richtet. Das zählt unmittelbar für die Beantwortung meiner Frage »Kunst und Philosophie raus aus...«. Wenn das »pädagogische Prinzip« (siehe Greiner/Paternalismus/Laizismus) das sokratische Prinzip (der gemeinsamen gedanklichen Bewegung) ersetzt, also vollständig ersetzt, dann können wir den Laden zu machen.
Zur Lügenpresse, ganz plakativ: die Journalisten haben ja eine love-affair mit der Macht, und sind keine Wissenschaftler mit täglichen Erkenntnis-Output. Ihre Verstrickung mit der Macht indes fällt kaum auf, wenn man sich selbst brennend für die Sache interessiert. Bürgerlichkeit wäre das »durchschnittliche Maß an Aufmerksamkeit und Interesse an der Macht«, welches der Medien-Profi natürlich übersteigt. Der Knacks mit den Rechten ist vorprogrammiert, wenn die Politik so deutlich wie selten von rechten Themen und Vorstellungen abweicht.
Warum »Lügen«?! Nun, ganz einfach: das Einverständnis mit den Vorstellungen und Zielen wird weiterhin als objektiv, reflektiert und allgemeingültig dargestellt. Unlängst sogar in einer ans Geschmacklose grenzenden Werbekampagne des ZDF.
Und spätestens dieses Selbstbild kann man getrost als »Lüge« bezeichnen. Allerdings einer Lüge, die auf Verirrung und Arroganz beruht. Einer Lüge, die der Lügner sogar selbst glaubt.
@Sophie
Mir ist das zu pauschal formuliert, auch das Wort an sich, »Lügenpresse«, ist so pauschalierisierungseifrig. Daß Journalisten mit der Macht liebäugeln – ja, leider, viele. Daß sie »Ereignisse« herbeireden, manchmal geradezu herbeibeten, notfalls sogar erfinden – ja. Trotzdem kann und soll ein Journalist die Mächtigen bei der Machtausübung beobachten, kontrollieren, kritisieren. Kann und soll das, was geschieht, in Frage stellen. Ein paar Schreiber gibt es immer noch, die das tun. Und vielleicht kommen ja wieder einmal Zeiten, in denen man sich vorstellen kann, daß Journalismus diese begleitende Funktion ausübt und nicht bloß die Infotainment und Befriedigung persönlicher Eitelkeit treibt.
Naja, die Pauschalität ist der Affront, ganz klar. Grob und polemisch. Eine kritische Haltung sieht anders aus. Andererseits teile ich (und das sagt ja auch deine »Hoffnung auf bessere Zeiten«) mit vielen Leuten die Distanz zu einem meinungszentrierten Journalismus, der mindestens schon die letzten 10 Jahre bestimmt.
Wie soll man sich da positionieren: Kritik ja, Pauschalität nein?! Es hat doch die edelmütige Kritik noch nicht wirklich ihre »weltgeschichtliche Wirksamkeit« bewiesen. Kritik verändert wenig bis gar nichts.
Wenn also wieder bessere Zeiten kämen, dann hätten wir einfach nur Glück. Herbeiführen lässt sich das schwerlich. Die gesellschaftliche und ökonomische Verfasstheit des Journalismus muss man ja imgrunde akzeptieren. Man muss es so nehmen, wie es kommt. Der Journalismus prägt unser Verhältnis zum Politischen, und er bestimmt auch den Gehalt an Rationalität, der sich in diesem Verhältnis manifestiert. So jedenfalls habe ich mir das zurecht gelegt.
Wenn der Journalismus auf »Meinung« setzt, ist damit auch unser aller politische Existenz vorgeformt, vordefiniert. Es gibt da keinen subalternen Freiheitsgrad, in dem Sinne: Ja, die hauen auf den Putz, aber der Bürger wird die Übertreibungen und Einseitigkeiten schon filtern. Wir hängen da schon irgendwie mit drinn...
Die Erziehung junger Menschen, das war oben das Thema, kann nicht ohne zumindest implizite Ziele erfolgen, der Erziehende ist doch wenigstens eine Art von Begleiter und man begleitet schwerlich ohne irgendeine Art von Wissen (und sei es nur ein Meinen), das sich aus dem Altersunterschied, aus Vorstellungen, Wertungen, Erfahrungen, nährt?
Ziel könnte man auch den benannten Graubereich von Verstehen und Nicht-mehr-verstehen nennen, genauer: dessen Überschreitung, was Entwicklung eigentlich erst ermöglicht (Entwicklung braucht ein Wollen und das Wollen kann durch ein Ziel gebunden werden). Warum das heute womöglich weniger praktiziert und gewollt wird, mag zu einem Teil an der Verfasstheit der modernen Welt liegen: Die allgegenwärtige Technik (Medien, Informationen, Geschwindigkeit,...) sind Ablenkung und Überforderung zugleich; die ökonomischen Prägungen kommen noch dazu (bzw. sind sie damit verschmolzen) und man kann – vielleicht etwas zu sehr wohlwollend – sagen, dass viele zu gar nichts anderem mehr »fähig« sind.
Der Begriff »Lügenpresse« ist intentional, man lügt nicht ohne Absicht und ist begründet, oberflächlich sicherlich, in etlichen Vorkommnissen in der Berichterstattung der letzten Zeit, die man (ich), schon mit viel Wohlwollen als Fehler interpretieren muss. Natürlich entkommt man den Konnotationen des Begriffs nicht, aber man sollte sie nicht mit dem eigentlichen Zentrum verwechseln, das ich als massiven Vertrauensverlust beschreiben würde (ein paar Beispiele habe ich dort, Unterpunkt »Journalismus« und dort vor einiger Zeit behandelt).
@mete – Wenn die »Fehler« in der Berichterstattung nicht ursächlich sind für den »Vertrauensverlust« auf der anderen Seite, dann kommt eigentlich nur eine mikro-soziologische Erklärung in Betracht. Wer in der Blase eines Redaktions-Ufos existiert, der denkt und schreibt doch über ganz andere »wichtige« Dinge, als sie in einer (schichtbezogen) einfacheren Lebenswelt vorkommen.
Diese Entfremdung wird mit Sicherheit nicht intendiert, sie verweist eigentlich nur auf die typische Diversifikation in den Lebensverhältnissen einer westlichen Gesellschaft. Es wäre die Entfremdung also kein medialer Effekt, sondern nur ein soziologischer Effekt.
Das würde aber auch bedeuten, dass die sog. politische Klasse, zu der ich die Journalisten rechne, der typischen Ausdünnung der gehobenen Mittelschicht zum Opfer fällt. Fatalistisch: »Wenige« werden in Zukunft sagen, was uns alle ausmacht und beschäftigt...
@die_kalte_Sophie
Da spielt selbstredend beides eine Rolle; der Begriff »Lügenpresse« wird aber kaum alleine aus sozialen Gründen verbreitet werden, da liegt – wie richtig festgestellt – ein Entfremdungsprozess vor, der eine Grundlage (Grundstimmung) bereitet, zu der dann auffällige »Mängel« in der Berichterstattung emotionaler und allgemein bekannter Themen (z.B. Ukrainekonflikt) hinzukommen: Es fällt, sozusagen, eines ins andere. — Diese sozialen Blasen darf man aber gerade nicht mit den funktionellen Ausdifferenzierungen einer modernen Gesellschaft gleichsetzen, sie sind das Gegenteil davon.
Das sehe ich auch. Die »funktionelle Ausdifferenzierung« steht sicherlich auf einem anderen Blatt. Offenbar »funktioniert« hier etwas nicht, d.h. die Milieu-bedingte Berichterstattung erzeugt in anderen Mikro-Klimaten massiv »Misstrauen« aufgrund der Fehler und der Selektion, die (immer noch psychologisch interpretiert) nicht toleriert werden, bzw. goutiert wird.
So ganz allmählich bröckelt die Gesellschaft wohl auseinander. Nur noch die Planierraupen des Geistes kriegen das zugekippt.
@Sophie
Ich denke einfach, daß es »den Journalismus« nicht gibt. Außerdem, daß es immer noch Journalisten mit Wahrheitsanspruch gibt (ohne das jetzt definieren zu wollen). Journalistisch tätig zu sein heißt nicht per se, zu lügen. Daß Kritik nichts nützt, mag sein (siehe Thomas Edlinger, von Keuschnig besprochen), aber pauschale Polemik ist nicht nützlicher. Für mich persönlich steht die Utilität als Kriterium übrigens gar nicht an oberster Stelle. Mag sein, daß Polemik mehr Spaß macht – mir auch manchmal.
Für mich steht die Utilität ziemlich weit oben, ausgehend vom Informationsbegriff. Aber egal: was den Journalismus angeht, den es immer noch gibt, Gottseidank ganz im Sinne des funktionalen Nutzens, muss ich ganz selbstkritisch sagen: ich bin von den »negativen Phänomen« doch schon sehr fasziniert. Einen Hang zum Desaster, –den muss ich mir nachsagen lassen. Dass viele einen ordentlichen Job machen... geschenkt! Ich habe neulich sogar einen Leitartikel von Stefan Aust gelesen, und hatte natürlich das Schlimmste erwartet. Aber mirabile dictu war der Artikel sehr gut. Verdammt gut. Da hab ich ehrlich gestaunt.
Politisch ist auf der Meta-Ebene natürlich die »Abweichung« vom Soll und der Normalität interessant, gerade weil die »Abweichung« ja enorm moralisch aufgeladen wirkt. Ich bin nicht nur fasziniert vom Negativen, sondern auch von einer gewissen Scheide-Linie, die sich gerade sehr stark abzeichnet. Alles deutet darauf hin, dass Politik und Moral nicht einfach Hand in Hand gehen, und das eine besonders stark »moralisch aufgeladene« Politik sogar eine spaltende Wirkung auf die Gesellschaft hat. Wir kennen die Spaltung ja von den Bösewichten, aber wer hätte aus dem Stegreif vermutet, dass auch die »Gutmenschen« eine Gesellschaft spalten können... (provokative These, mit Verlaub!)
@Leopold Federmair
Diesen Differenzierungen wird hier jeder folgen (und korrekter Weise müsste man den Journalismus zumindest unter Anführungsstriche setzen); auf der anderen Seite sind die Mängel weder gering, noch lokal beschränkt, es handelt sich um ein Phänomen allgemeiner Natur, das man schon abstrakt und verallgemeinert formulieren kann.
Muss mich outen, habe den Begriff »Lügenpresse« verwendet. Sofern Anlass vorlag. So zum Jahreswechsel 2014/15, als ich die Berichte über die Stampede in Shanghai verfolgte. Der Gipfel war erreicht, als SpOn definitiv als Auslöser nannte, dass geldgierige Chinesen nach gefälschten Dollarscheinen gegrabscht hätten. Das »womöglich« anderer Medien hatte man einfach weggelassen. Zwar mussten sie später eine Korrektur veröffentlichen, aber der Artikel mit der fetten, roten, uneingeschränkten Überschrift steht noch immer im Netz. Mein Kommentar, in dem ich SpOn der Absurdität bezichtigte und ihm dumpfen Rassismus vorwarf, wurde natürlich nicht gesendet, aber andere drückten sich ähnlich harsch aus im Kommentarbaum.
Will »Lügenpresse« nicht generalisieren, aber wenn man ein Medium bei einer Lüge erwischt, muss man das auch mal sagen dürfen.
Will da nicht allzu sehr insistieren. Lügen soll man als das bezeichnen, was sie sind. Das Wort »Lügenpresse« gefällt mir trotzdem nicht, es trägt deutliche Spuren seines Gebrauchs, und die wirken auf den Gehalt.
Nur eins noch: Wer »Lüge« sagt, sagt auch »Wahrheit«, wenigstens implizit.
Ob die Lüge immer die Wahrheit impliziert?! Das berührt genau den Punkt, den ich schon angesprochen habe: Lügen, wider besseres Wissen (Wahrheit), oder Lügen, ohne besseres Wissens.
Siehe #9: »...einer Lüge, die auf Verirrung und Arroganz beruht. Einer Lüge, die der Lügner sogar selbst glaubt...«.
Die moralische Implikation ist leider völlig unabhängig von der empirischen Implikation. Also, selbst wenn man eine Lüge dingfest machen kann, so bleibt doch in der Regel unklar, WARUM gelogen wurde.
Ich lese gerade dieses Buch. Es ist eine Aufsatzsammlung, die Berichterstattungen verschiedener Konflikte und Kriege der letzten rund 20 Jahre befragt. Wie so oft ist die Qualität der Beiträge unterschiedlich und manche haben schlichtweg das Problem, dass sie die Erläuterung der Missstände der Berichterstattung um die eigene Deutung sozusagen ergänzen. Sie werden dann selber zur Partei.
Ein Beispiel, dass ich wieder vergessen hatte, ist allerdings sehr interessant. Es geht um den kurzen russisch/georgisches Krieg im August 2008. nach einhelliger Darstellung in den deutschen (deutschsprachigen) Medien war der Aggressor damals Russland – das Opfer der Aggression war das kleine Georgien. Später stellte sich die Angelegenheit dann als etwas anders heraus. Der Konflikt zwischen Russland und Georgien um die Provinzen Abchasien und Südossetien hatte eine lange Vorlaufzeit. Ich will hier gar nicht beurteilen, wer angefangen und wann welche Seite was zur Eskalation beigetragen hatte. Der Wikipedia-Artikel hierzu ist – wie in solchen Fällen üblich – heftig diskutiert. Auch Andreas von Westphalen, der Autor des Beitrages »Die Halbwertzeit der Wahrheit«, hält sich aus der Ursachenforschung, die dem Krieg vom August 2008 vorausging, weitgehend heraus. Entscheidend ist für ihn die Berichterstattung ab 7. oder 8. August 2008, als dort, wie es überall geheißen hat, russische Truppen Georgien angegriffen hatten.
Nicht nur durch »Trolle« ausgelöst, entbrannte vor allem im Netz eine heftige Diskussion um diese These. Der damalige ARD-Korrespondent in Russland, Thomas Roth, führte knapp drei Wochen später, am 29. August 2008, ein Gespräch mit Wladimir Putin. Aber statt aufzuklären, wurde das Gespräch und deren Zusammenschnitt selber zum Diskussionsobjekt. Die ARD sendete nämlich nur 10 Minuten von dem insgesamt 27minütigen Gespräch. Das alleine wäre noch nicht schlimm, wenn nicht essentielle Dinge dem Schnitt zum Opfer gefallen wären, wie wohl russische Quellen feststellten – und im Netz verbreiteten. Erst auf Druck wurde das gesamte Gespräch transkribiert veröffentlicht; jemand, der nur auf das Fernsehen angewiesen war, bekam diese Version meines Wissens nicht zu sehen.
Wie manipulativ die ARD nun vorgegangen war, zeigte sich gleich zu Beginn des Interviews. Die erste Frage von Roth lautete:
»Herr Ministerpräsident, nach der Eskalation in Georgien sieht das Bild in der internationalen Öffentlichkeit – damit meine ich Politik, aber auch Presse – so aus: Russland gegen den Rest der Welt. Warum haben Sie Ihr Land mit Gewalt in diese Isolation getrieben?«
Gesendet wurde folgende Antwort Putins:
»Ich bin davon überzeugt, dass das Ansehen eines beliebigen Landes, das imstande ist, das Leben und die Würde seiner Bürger zu schützen, eines Landes, das imstande ist, eine unabhängige Außenpolitik zu befolgen, in näherer oder mittelfristiger Zukunft, in der Welt nur wachsen wird.«
Wie sich nun später in der sogenannten »Langfassung« (alleine dieses Wort ist falsch, denn es ist höchstens die Original-Fassung) zeigte, lautete der Dialog anders; Entscheidendes wurde einfach weggelassen (und hier rot markiert):
»Thomas Roth: Herr Ministerpräsident, nach der Eskalation in Georgien sieht das Bild in der internationalen Öffentlichkeit – damit meine ich Politik, aber auch Presse – so aus: Russland gegen den Rest der Welt. Warum haben Sie Ihr Land mit Gewalt in diese Isolation getrieben?
Wladimir Putin: Was meinen Sie: Wer hat den Krieg begonnen?
Roth: Die letzte auslösende Attacke war der georgische Angriff auf Zchinwali, die letzte auslösende Attacke.
Putin: Ich danke Ihnen für diese Antwort. Das stimmt, so war es in der Tat. Wir werden später näher darauf eingehen, ich will nur hervorheben, dass nicht wir eine solche Situation ausgelöst haben. Und jetzt zum Ansehen Russlands.
Ich bin davon überzeugt, dass das Ansehen eines beliebigen Landes, das imstande ist, das Leben und die Würde seiner Bürger zu schützen, eines Landes, das imstande ist, eine unabhängige Außenpolitik zu befolgen, in näherer oder mittelfristiger Zukunft, in der Welt nur wachsen wird. ...«
Westphalen zitiert Roth, der auf die Frage, warum es Kürzungen gab und nach welchen Kriterien diese getätigt wurden wie folgt: »Nach den üblichen Kriterien, nachdem man sagt: Was ist an diesem Abend das journalistisch Interessante? Was ist das journalistisch Neue, was die Zuschauer interessieren könnte, und was verzerrt insgesamt nicht den Inhalt des Interviews?« (Zitat nach Andreas von Westphalen: »Die Halbwertzeit der Wahrheit – Über die Darstellung des Kaukasus-Krieges in den Medien« in: Ronald Thoden (Hg) »ARD & Co. – Wie Medien manipulieren«, Band 1, Selbrund Verlag 2015, S. 54–66, hier: S. 61f.)
Polemisch ausgedrückt könnte man sagen, dass die Stelle, in der Putin Roth sozusagen zwingt, den Aggressor für den Übergriff Anfang August zu benennen, für den ARD-Zuschauer tatsächlich eine Neuigkeit gewesen wäre. Warum diese dann herausgeschnitten wird, kann mit nichts anderem erklärt werden als mit Vorsatz.
Das ist nur ein winziges Steinchen, was die Zuverlässigkeit und das Vertrauen in Medien in den letzten Jahren erschüttert hat. Die üblichen Erklärungen (zu wenig Zeit, keine Korrespondenten vor Ort, angewiesen auf unzuverlässige Dritte und Zeugen) greifen hier alle nicht.
Man muss nicht ein Freund Putins sein oder seine Kaukasien-Politik gut finden, um dies anzuprangern. Womöglich kann es ja für die Georgier sinnvoll gewesen sein, russische Truppen, die sich womöglich widerrechtlich in den Provinzen aufgehalten haben, anzugreifen. Vielleicht wurden sie auch provoziert? Alles war / ist möglich. Aber es wäre Aufgabe von Medien, dies herauszuarbeiten und die mögliche Komplexität des Konfliktes auszubreiten. Stattdessen wird mit Schablonen vom bösen Putin und guten Saakaschwili gearbeitet und noch daran festgehalten, obwohl es längst ernstzunehmende anderslautende Stimmen gab.
Und ja, man muss das Wort von der »Lügenpresse« nicht verwenden. Vielleicht sollte man es aus seinem Wortschatz streichen. Zumal die blosse Verwendung schon eine Verortung in rechtsradikale Kreise ermöglicht. Insofern ist Greiners Diktum sicherlich falsch, weil man sich damit jegliche Kritik vom Halse schafft.
(Und noch etwas: Die Kritiker der Elche sollten mindestens genau so präzise arbeiten, wie sie anderen dies nahelegen. Im vorliegenden Text von Andreas von Westphalen befindet sich eben auch eine Ungenauigkeit, indem in der Frage Roths an Putin das Wort »Isolation« durch das Wort »Situation« ersetzt wurde. Auch das ist nicht akzeptabel.)
@Sophie
Metepsilomena meint, Lügen seien definitionsgemäß intentional. Ich würde M. da recht geben und die Lüge gegen Selbsttäuschung, Irrtum, ideologische Verblendung, Schein usw. abgrenzen. Die Intention kann man doch in vielen Fällen erkennen, oder? Ob man Lügen moralisch tolerieren will oder nicht – nun ja, eine andere Frage. Da kämen wir schnell zu Nietzsche, der sich auch einen sehr weiten Lügenbegriff zurechtgelegt hatte. Vielleicht ist der Ihre ja von Nietsche inspiriert?
@ Gregor. Vielen herzlichen Dank für dieses illustre Beispiel. Nur eine Frage: hat irgendjemand darüber Beschwerde beim Rundfunkrat eingereicht? Wäre doch schade, wen sich die Leute so viel Arbeit machen, nur um Dinge richtig zu stellen. ...Was natürlich die Voraussetzung für eine Intervention beim Rundfunk ist.
@ Leopold. Mein Lügenbegriff ist klar von Nietzsche inspiriert. Ich gehe davon aus, dass die Lüge, wenn sie von Macht und Interessen inspiriert ist, ein Eigenleben beginnt. Dazu der Satz: der Mensch beherrscht das Lügen nicht (im beruflichen oder öffentlichen Bereich), die Lüge beherrscht den Menschen.
@Keuschnig
Das Beispiel (Putin-Interview) ist instruktiv. Ein klarer Fall von Manipulation – Lüge würde ich eher nicht sagen.
Auch das Festhalten an positiv definierbaren Aufgaben des Journalismus außerhalb der Zonen politischer Macht möchte ich unterschreiben: Nachfragen, was eigentlich geschehen ist; den Gründen nachgehen; Hintergründe zeigen. Daß sich statt dessen schablonenhaftes Denken und Schreiben breit gemacht hat, hat seinerseits eine komplexe Mehrzahl von Gründen.
zu #24. War gerade abgelenkt Hab mich mehrfach grässlich vertippt. Bitte um Entschuldigung.
»Nur um die Dinge richtig zu stellen«
@Sophie
Ich schätze Nietzsche als Dichter, als ironischen Vertreter jener phantastischen Literatur, die die Sparten Theologie, Philosophie und Antitheologie umfaßt. Will man sich aber innerhalb eines gesellschaftlichen Rahmens diskursiv bewegen, also Stellung nehmen, ist ein Lügenbegriff als conditio humana (letzten Endes: JEDE Äußerung ist notwendigerweise lügenhaft) inoperabel. So ein Begriff ist nutzlos – a propos Utilität. Laut N. gibt es, und zwar immer und überall, eine gesellschaftliche »Verpflichtung, nach einer festen Convention zu lügen, schaarenweise in einem für alle verbindlichen Stile zu lügen.« Wer nicht lügt oder besser, sich darauf versteift, nicht zu lügen, ist unter solchen Voraussetzungen schlicht und einfach verrückt.
Man könnte freilich an die Stelle des Worts »Lüge« auch »Wahrheit« setzen. Das ist die christliche Version. Nietzsche Antichrist, Umkehrer der alten Werte.
@die_kalte_Sophie
Über eine Beschwerde beim Rundfunkrat ist mir nichts bekannt. Ein paar Jahre später wurde Roth Anchorman bei den »tagesthemen«, was allgemein als »Ritterschlag« bei der ARD gilt. Man könnte fast glauben, er sei belohnt worden.
(Den Fehler habe ich korrigiert.)
@ Leopold – Völlig einverstanden. Ein Lügenvorwurf ist ein Kommunikationsabbruch. Ende Gelände! Aber da liegt eben der Unterschied zwischen Text/Dichtung/Philosophie und dem politischen Diskurs. In Deutschland hat sich die Vorstellung gebildet, dass ein philosophischer Text »unmittelbar« Teil des politischen Diskurses ist (falls thematisch relevant). Einige namhafte Ausnahmen entziehen sich diesem Axiom. Ich bin (ohne Prominenz) ebenfalls dieser Ansicht. Philosophie und Öffentlicher Diskurs fallen nicht in eins, um @mete zu paraphrasieren.
Ich stricke, wie Sie merken, an beiden Texten, und gebe auch keine expliziten Hinweise, wenn ich die Ebenen wechsle, um an meinen Lieblingsthemen zu arbeiten. Das geht auch nicht wirklich, wenn ich ehrlich bin. Diskurs und Text gehen beständig ineinander über, und mir scheint, ich würde immer mit jemandem reden, selbst dann wenn ich ganz alleine bin. Wenn Sie so wollen, verletzte ich damit auch die Einteilung in eine »öffentliche« und »private« Person, und verwische damit die Spuren eines Ich. Der Unterschied erscheint mir aber, was das Politische betrifft (Meinung = privat = individuell) nicht wichtig. Um nicht zu sagen, obsolet.
Ganz formal: das Cogito hat keine politische Dimension. Nie gehabt. Was wir politisches Denken nennen, wurzelt in kollektiven Bezügen, sozio-kulturellen Konstrukten und aktuellen »Problemen«.
Mir gefällt Ihre Wendigkeit. Wollte Ihnen vorher schon das Kompliment machen.
@Leopold Federmair
Vielleicht sollte man zwischen der philosophischen Betrachtung von Lüge und Wahrheit und der alltagstauglichen trennen. Es dürften begründete Zweifel darin bestehen, dass die »Lügenpresse«-Rufer Nietzsche et. al. in all seinen Facettierungen gelesen, geschweige denn verstanden haben.
Im Deutschen Bundestag galt (gilt?) es immer noch als unschicklich, jemanden der Lüge zu bezichtigen; man soll stattdessen »Unwahrheit« sagen, weil bei der Lüge Absicht unterstellt wird. Der Ausspruch »Sie sagen die Unwahrheit« kann dann auch noch dahingehend interpretiert werden, dass derjenige es nicht besser weiss.
Im von mir gebrachten Beispiel des Putin-Interviews muss ich Absicht unterstellen. Es kann nicht sein, dass die Tatsache, dass der erste provokative Akt vom 7. oder 8. August von georgischen und nicht russischen Militärs begangen wurde, quasi zufällig dem Schnitt zum Opfer gefallen ist. Als einziger Grund hierfür fällt mir ein, dass die gängige Lesart (die Russen als Aggressor) nicht erschüttert werden sollte. Hierfür halte ich die Bezeichnung »Manipulation« für zu harmlos.
Den Schluss, dass es Wahrheit und Lüge gar nicht gebe, mag intellektuell fein begründet werden können (von Kant angefangen), scheitert aber alleine schon vor unserem Rechtssystem. Man nehme es mir nicht übel, aber ein bisschen kommt mir dieser Relativismus ähnlich resignativ vor wie Aussagen, dass es beispielsweise egal ist, wen man wähle – alle Politiker seien gleich unfähig? korrupt? dumm? ...(bitte selbständig ergänzen)...
Apropos Pauschalisierungen: Natürlich kann man den Vorwurf »Lügenpresse« als pauschale Verunglimpfung ablehnen und auf die wunderbaren Einzelfälle rekurrieren. Aber es ist erstaunlich, dass ausgerechnet in diesem Fall Pauschalisierungen von denen (vulgo: Medien) abgelehnt werden, die allzu oft in fahrlässiger Weise komplexe Vorgänge herunterbrechen auf Personen, Parolen und Thesen.
Besser als solche pauschalen Anwürfe wäre es in der Tat, die jeweiligen Beispiele zu sammeln und – das wäre wichtig – ohne eigene Kommentierung ins Netz zu stellen. So etwas gibt es m. E. im deutschsprachigen Raum nicht. Nahezu alle Medienkritiker, die ich kenne, liefern immer auch ihre eigene Sicht der Dinge gleich mit. Man deckt zwar einerseits Missstände in der Berichterstattung auf, um dann jedoch andererseits die »richtige« Position darzustellen. Damit treiben sie den Teufel mit dem Beelzebub aus.
Ein medienkritisches Magazin sollte auch die Kommentare und Darstellungen von Journalisten über die Zeit weg beobachten. Ähnlich wie man bei Sportlern, Politikern oder sonstigen »Promis« sozusagen eine jahrelange Rundum-Observierung betreibt (nicht selten werden bspw. Politiker mit ihren Aussagen von vor 20 oder 30 Jahren konfrontiert), sollte man auch für Journalisten solche Archive anlegen. Das macht aber niemand, weil man nicht mehr als üblich Nestbeschmutzer sein möchte.
Ein weiterer Punkt ist dahingehend, dass viele Rezipienten nur noch ihre eigene Meinung gespiegelt haben wollen. Unterbleibt dies, wittern sie Böses. Das Problem hierbei ist, dass sie dann genügend Einzelfälle aus der Schublade ziehen können.
@ Leopold –Gebe das Kompliment zurück. Ihr Artikel über den Chandos-Brief hat mir gezeigt, dass ein philosophischer Text immer in der Bredouille steckt, da man eine »Ausnahme« geltend machen muss. Wir haben eigentlich nur zwei Kategorien im Kopf, den »fiktiven Text« und den »positivistischen Text«. Zu letzterem zählt beispielsweise Gregors Beitrag #22.
Nach einigem Hin und Her wurde mir klar: der philosophische Text passt nicht ins Schema, stellt also ein Ausnahme oder Zumutung dar. Aus Ordnungsgründen wäre es besser, die dritte Sorte gäb’s gar nicht. Rein ästhetisch lässt sich die Sache nicht rechtfertigen. Ist sicher auch Nietzsche bewusst gewesen. Wem, wenn nicht ihm...
@#32
Im Fall des Putin-Interviews würde ich trotzdem von Manipulation sprechen, nicht von Lüge, denn es wurde eigentlich keine Falschaussage getätigt. Auch Manipulation ist definitionsgemäß absichtlich, und – wenn man moralisieren will – ebenso verwerflich.
Wer mit den »Rezipienten« gemeint ist, verstehe ich nicht, würde es gern verstehen.
@#33
Der Vernünftige und der Intuitive. Ethiker vs. Ästhetiker. Kierkegaard, alter Hegelianer, meinte, es gebe den Dritten.
@Leopold Federmair
Rezipienten sind Leser, Hörer, Schauer – Mediennutzer. Das Internet ermöglicht ihnen einen selektiven Nachrichtenzugang. In einer Print-Zeitung las man auch schon einmal den Artikel, dessen Meinung einem schon vorher nicht zu behagen schien. Im Netz kann man das – wenn man es denn möchte – ausschließen. Außerdem polarisiert das Netz sehr. Es gibt immer mehr nur noch schwarz und weiss. Das Problem ist, dass die Mainstream-Medien darauf eingehen und ihre Berichterstattung in ähnlicher Form gestalten. Hierfür gibt es zahlreiche Beispiele (nicht zuletzt die sogenannten »Interventionen«, in denen der »Westen« natürlich stets für seine »Werte« gekämpft hat). Diese geballte Form der Einseitigkeit macht viele Leute skeptisch, die vielleicht nicht unbedingt immer Verschwörungstheoretiker sein wollen. Statt nun konstruktiv auf diese Kritik zu agieren, wird geleugnet oder verharmlost. Das treibt viele dann in quasi-esoterische Zirkel hinein.
Putin-Interview: Natürlich wird aus dem Weglassen eines essentiellen Bestandteils einer Antwort am Ende eine Falschaussage. Es ist nicht nur eine Manipulation, sondern eine Fälschung.
zu #32. Nach Abgeordneten-Watch noch Presse-Watch?! Klar wäre das gut, aber laufen wir nicht den Systemschwächen nur noch hilflos hinterher?!
Und dann auch noch das Ressourcen-Problem.
Aber es stimmt. Eine Plattform, die von direkten Verwertung der Ermittlungsergebnisse für die jeweils eigene politische Denke absieht, wäre toll. Damit würde man direkt etwas gegen das Kernproblem des »Vertrauensverlustes« tun, das @mete ausgemacht hat. ...Aufhebung des Scheins, der Täuschung, und zugleich würde die explorative Kraft der Rationalität manifest...
zu #35: Kierkegaard hat recht. Es gibt den Dritten. Hast Du eine Textempfehlung dazu?! Bin bei K. nicht so bewandert.
Leicht »off-topic« noch ein Beispiel zum Thema »Lüge«. Es handelt sich um den »Fall« eines Beitrags des damaligen Ukraine/Russland-Korrespondenten der ARD, Udo Lielischkies, vom 20. Mai 2014. Kurz gesagt: Er meldete damals in einer Sendung der »tagesthemen«, dass an einem Ort 2 Zivilisten von Separatisten erschossen worden seien. Später stellte sich heraus, dass dies falsch war. Es war exakt das Gegenteil: Die beiden Personen wurden von ukrainischen Truppen umgebracht.
Der Bericht erregte grösseres Aufsehen. Es gab einige Monate später eine sogenannte Programmbeschwerde, die in einem Forum im Netz dokumentiert wurde. In relativ kurzer Zeit gab es von Lielischkies im »tagesschau-Blog« am 1. Oktober 2014 hierzu eine Stellungnahme. Dieser Text ist im offiziellen Archiv des »tagesschau«-Blog nicht mehr abrufbar, sondern nur noch über einen Internetarchiv-Link. Lielischkies räumt in dieser Stellungnahme ein, sich geirrt und widerspricht gleichzeitig, vorsätzlich falsch informiert zu haben. Letzteres muss er sicherlich tun, wobei ich keinerlei Indizien dafür habe, dass er die Unwahrheit spricht bzw. lügt.
Zwei Punkte sind in diesem Zusammenhang interessant: Die Richtigstellung erfolgt nicht in dem Medium und an dem Ort, an dem die »Falschmeldung« gesendet wurde, sondern in einem Blog, der auf der tagesschau-Webseite erst unter »Mehr« erreichbar ist. Ob die Korrektur später doch noch im TV erfolgte, weiss ich allerdings nicht. (Merkwürdig auch, dass dieser Text entfernt wurde; die normalerweise zeitliche Begrenzung für Beiträge dürfte m. E. bei Blog-Beiträgen nicht zählen).
Der andere Punkt ist, dass die Programmbeschwerde in wahrem »Rekordtempo« abgearbeitet wurde. Vermutlich gab es schon vorher Zweifel an der Darstellung vom Mai; normalerweise dauert die Bearbeitung einer Programmbeschwerde (die von jedem Gebührenzahler formlos eingebracht werden kann) bis zu sechs Monate.
Obwohl Lielischkies in seinem Text die Gründe für die Fehleinschätzung nennt, wird er seitdem von entsprechenden Schreibern im Netz als »Lügenreporter« bezeichnet. Ich halte dieses Rubrum für vollkommen überzogen. Entscheidend müsste es nun sein, seine Reportagen dahingehend zu prüfen, ob sie informationsfest sind. Eine blosse Publikation in der Möglichkeitsform (im Konjunktiv) hielte ich nicht für ausreichend, da dieser oft genug »überhört« wird.
Ich halte Lielischkies’ Fehlleistung bei aller Fahrlässigkeit für weniger schlimm als die mutwillige Fälschung am Putin-Interview.
Der Fall »Lielischkies« ist (weil formal durch die Programmbeschwerde abgearbeitet) ist ein sehr gutes Beispiel. Er zeigt die Problematik der erworbenen Fehlinformation aufgrund von Propaganda-Fallen auf, und das Prozedere der Korrektur. Erst geschieht nichts, dann geht es schnell, und dann wandert die Sache in den elektronischen Papierkorb.
Die Reaktionen auf die Korrektur sind übrigens deutlich zweigeteilt. Die einen sind dankbar, und sehen in der Korrektur ein Zeichen für Professionalität. Die anderen weisen auf die Folgen hin, mahnen zur Verantwortung, oder haben noch Beschwerden, die allgemeine »Tendenzen« betreffen.
Der Fehler scheint die Tendenz indirekt zu bestätigen. Aber auch realistisch gesehen, wird eine Kritik, die sich nur an der Sache orientiert, die Tendenz (die ja in der Ukraine-Berichterstattung zum ersten Mal einem »breiten Publikum« aufgefallen ist) auch in keinster Weise korrigieren. Allzumenschliches macht sich breit. Man darf ohne Wertung vermuten, dass die sog. Weltanschauung, die sich im gesamten Komplex der Berichterstattung zu einem spezifischen Thema eröffnet, einer direkten Kritik nicht zugänglich ist. Die Macht der Fakten (Stichwort: Aufklärung) wird kaum Wirkung auf die »Muster in den Köpfen« haben. Das wiederum könnte nur eine Auswechslung der Personen gewährleisten.
Wenn der Mensch einmal von sich und seinem Tun überzeugt ist...
Von einem unbekannten Ironiker aus Österreich, genauer aus dem Forum im Wiener Standard habe ich dazu einen wunderbaren Spruch aufgelesen. Er sagte bei einem vergleichbaren Vorfall:
»Das sind eh’ nur Fakten!«
[Lüge fällt eigentlich auch in die Kategorie Manipulation (Täuschung).]
Man muss sich auch vor Augen halten, dass zu den oben beispielhaft genannten Vorfällen noch hinzu kommt, dass zahlreiche und überaus prominente Journalisten Mitglieder der sogenannten Atlantikbrücke sind, etwa Joffe, Kleber, Diekmann, usw., und deren Kommentare und Berichte oftmals eine gewisse Schlagseite aufwiesen; nun muss man nur mehr zusammen zählen: Faktische »Fehler«, Mitgliedschaften in transatlantischen Organisationen, gefärbte und moralisierende Berichterstattung, fehlende Rechtfertigung bzw. Verteidigung oder Erklärung warum Journalisten in solchen Organisationen sitzen (was per se noch nicht verwerflich ist); dann versteht man, warum plötzlich »Lügenpresse« geschrien wird und Verschwörungstheorien kursieren. — Auch wenn darüber ein paar Differenzen verloren gehen, das Bild, das bleibt, sieht nicht gut aus.
@#35
Es ist alles in »Entweder-Oder«. Eigentlich eine vergnügliche Lektüre, wenngleich mit Längen. Die Vermittlung zwischen ästhetischer und ethischer Existenzweise erscheint mir als eine Art pädagogischer Trick, weil die Oberaufsicht doch immer die (religiös grundierte) Ethik hat. Nietzsche hat, zumindest in seinen Fiktionen, das Risiko gesucht, nicht, wie Kierkegaard, Sicherheit. Das Dionysische/Apollinische ist ein ähnlicher Gegensatz, aber nicht gleich. Außerdem scheint mir, daß Nietzsche selbst in seinen frühen Schriften schwankt zwischen der Entscheidungsforderung (Entweder dionysisch Oder apollinisch) und möglichen Vermittlungen zwischen beidem.
»Sind eh nur Fakten »: das ist qualtingerisch.
P. S. Ich schreibe zeitverschoben, deshalb die Verspätungen.
@ Leopold –Danke. Das werde ich mir genauer ansehen. Mir ist klar, das K. eine religiöse Schlagseite hat, während Nietzsche in die Gegenrichtung neigt. Lee und Luv. Aber inzwischen denke ich besser über die Religion als zu meinen Nietzscheanischen Anfangszeiten, natürlich ohne »Glaube«.
@ mete –Das stimmt. Die Westanbindung des Journalismus ist ja nie preisgeben worden. Nur der »Osten« musste abschwören. Es ist fast schon lustig, denn ganz naiv würde man sagen, an dieser Westbindung war doch nie was falsch... Von wegen« Es gab Feindbilder, und das bedeutet immer eine »geteilte Welt«, bzw. den guten alten Manichäismus, der sich ganz probat hinter konzessiven Formeln verstecken kann. »Natürlich hat sich in Russland einiges verändert..., aber!«. »Natürlich ist es für die Palästinenser schwer, aber...!«. Ich persönlich bin mit diesen Abstufungen aufgewachsen, und Sie schienen mir auch lange unverdächtig. Erst nach 2001, als G.W.Bush wieder mal die Welt in das eingeteilt hat, was eh’ schon galt, also gewissermaßen die Karten auf den Tisch kamen, wurde mir klar, dass der Westen an seinen transatlantischen Schablonen festhalten würde.
In der Tat, die Liste der Atlantikbrücke-Journalisten ist beunruhigend. Alte Verzahnungen (Macht, Politik, Geschäft) und neue Luftblasen (oder Echoräume), ein unguter Mix.
Sehe gerade, daß auch Max Horkheimer Mitglied der Atlantikbrücke war. Wie das?
@metepsilonema
Ich finde es nicht schlimm, wenn Journalisten Vereinigungen angehören, solange dies transparent wird. In Deutschland wird allerdings nach wie vor ein Geheimnis aus den Parteizugehörigkeiten von Journalisten gemacht. Es widerstrebt der Aura des neutralen und unabhängigen Berichterstatters, einer Partei anzugehören. Dabei ist dies zumeist unabdinglich, um bspw. im Proporzwesen der öffentlich-rechtlichen Medien zu reüssieren.
Im deutschen Fernsehen wird bei jedem Politiker – so bekannt er auch sein mag, also auch bei Angela Merkel – stets die Parteizugehörigkeit mit eingeblendet. Ich wäre dafür, dies für Journalisten und andere Medienmacher ähnlich zu halten. Dabei sollten auch Mitgliedschaften zu Vereinigungen wie der »Atlantikbrücke« stets präsent mitgeteilt werden.
@die_kalte_Sophie
Der Manichäismus war nie einseitig. Auch die Kritiker der »Westbindung« agi(tie)rten nach dem Freund-Feind-Schema. Darin bestand immer das Problem: Sich nicht mit der Kritik selber zufrieden geben zu wollen und diese wirken zu lassen, sondern gleichzeitig auch immer andere Entwürfe parat zu haben. Wer Kritik bspw. an den außenpolitischen Interventionen der USA übte, verknüpfte dies meist mit weltanschaulicher Kritik am »System«. Dadurch wurde die berechtige Kritik meist jedoch entwertet: Die empfundenen Vorteile des politischen Systems des »Westens« wurden als größer erachtet als die Makel einzelner politischer Fehler. Dies spiegelte sich natürlich auch in den Medien. Ins Wanken kam dies tatsächlich 2001 durch Bushs explizit wieder neu aufgelegtes Freund-Feind-System, das man spätestens seit Ende der 1970er Jahre aufgebrochen und dann 1990 als überwunden ansah.
zu #48 –Stimmt. Und das ist wirklich wichtig: ein doppelter Dualismus bringt noch keine neutrale vollkommene »Synthese« auf den Tisch, sondern lädt eigentlich nur dazu ein, das diskursive Spiel der Manichäismen fortzusetzen. Bis zum Sankt Nimmerleins Tag können wir uns das jetzt anhören, das Spiel der Utopia-Pros und der Neo-Cons...
Dabei wollten wir nur »eine Welt«, die auch das Politische umfasst. Aber immer noch scheint das Politische die Teilung vorauszusetzen. Ich kam neulich dazu, den Begriff »Weltpolitik« als Oxymoron aufzufassen. Welt-Politik. Ich sehe jedenfalls nicht, wie das gehen kann, außer natürlich am Küchentisch, bzw. im Strandliegestuhl.
Es gibt keine Weltpolitik. Es gibt nur Betrachtungen über die Lage.
@Gregor
Ja, das wäre konsequent (manchmal scheitert es aber schon ein paar Ebenen darunter).
@die_kalte_Sophie
Hm, aber ist Weltpolitik, nein, muss sie nicht eine Art Summe sein, die sich aus Einzelstaatlicheninteressen, ‑handlungen, usw., zusammensetzt? Es gibt ja auf dieser Ebene kein Regierungen mehr, maximal Bündnisse, Zusammenschlüsse, supranationale Gebilde mit geringen Durchdriffsmöglichkeiten, aber mehr? Vielmehr als Betrachtungen und Versuche gemeinsam zu handeln (meist auf Grund gemeinsamer Interessen), gibt es nicht.
zu #50. Ja, das stimmt. Auf dieser »Ebene« gibt es keine Regierungen mehr. Darauf kommt es insbesondere an, denn damit entfällt genau das, was der Philosoph so eindeutig und unmissverständlich »Praxis« nennt. Genau das stört mich, dieses elegante Eskamotieren der Praxis. Weltpolitik zum Mitspinnen. Und ich verknüpfe damit eine Generalabrechnung mit dem Universalismus, der uns eine »Weltpolitik« ohne Praxis verkaufen wollte, mit seinen süffisanten Implikationen. Global denken, lokal handeln, usf.
Mit diesen Axiomen gewinnt man zwar so etwas Ähnliches wie die Rohform einer politischen Existenz im Westen durch die Disposition eines »Massensubjekts«, aber man verliert auch etwas, –und das ist eben genau jener holistische Aspekt des Begriffs »Welt«. Die »eine Welt« wird preisgegeben für eine überaus ungewisse und sogar virulent manichäische Global-Politik. Um Nietzsche nachzuahmen: ...das ganz große Rad drehen, mit immer denselben fiesen kleinen Hintergedanken...
Ich würde bei dieser Kritik sehr weit gehen, genau weil so viele falsche Feindbilder im Schwange sind. Sozialpsychologisch gesehen, leben wir doch eher im 12. als im 21. Jahrhundert.