Durch die Diskussionen um die Besetzung der Fernsehrunden vor den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg wurde wiederholt die Forderung laut, die rechtspopulistisch agi(ti)erende AfD trotz aller Bedenken zuzulassen, um sie und ihre Ideologie zu entzaubern. Dabei wurde kaum berücksichtigt, dass eine Diskussionssendung, in der mehrere Parteien ihre Wahlprogramme in populärer Form und diskursiv vorstellen, ein solcher »Entlarvungsdiskurs« nicht praktikabel ist, weil die Konzentration auf ein Wahlprogramm nicht der Zweck der Sendung sein kann.
In den politischen Talkshowformaten der öffentlich-rechtlichen Sender wird der »Entlarvungsdiskurs« zuweilen durchaus versucht. Der Prototyp der »Entlarvungs«-Talkshow fand allerdings im deutschen Privatfernsehen am 5. Februar 2000 in der ntv-Sendung »Talk in Berlin« statt. Erich Böhme (ehemaliger »Spiegel«-Chefredakteur) hatte dort den Vorsitzenden der österreichischen FPÖ, Jörg Haider, zu Gast.1 Haider war zum damaligen Zeitpunkt Landeshauptmann (Ministerpräsident) von Kärnten. Im Bund wurde Österreich in einer sogenannten schwarz-blauen Koalition aus ÖVP und FPÖ regiert. Formal war Haider an dieser Regierung nicht beteiligt. Tatsächlich war er aber damals auf dem Höhepunkt seiner Macht und dürfte maßgeblich die Strippen bei den Koalitionsverhandlungen gezogen haben.
Die schwarz-blaue Regierung in Österreich rief internationale Proteste hervor. Die FPÖ war unter Haiders Vorsitz von einer liberal-konservativen in eine rechtsextreme Partei verwandelt worden. Einzelne Aussagen von FPÖ-Politikern und auch von Haider selber riefen Skandale hervor.
Eine Sendung mit Haider – zumal im deutschen Fernsehen – war ein Coup. Öffentlich-rechtliche Anstalten hatten es vorher abgelehnt, Haider »ein Forum« zu bieten. Die Redaktion der Sendung bei n‑tv beließ es jedoch nicht bei einem Dialog, sondern wählte das übliche Format mit mehreren Personen. Als weitere Gäste wurden eingeladen: Freimut Duve (SPD), Michael Glos (CSU) und Ralf Giordano, Publizist. Hierin kann man den ersten Fehler festmachen.
Stettner und Januschek bilanzieren eindeutig: »Böhmes Talkshow zeichnet sich durch das Fehlen argumentativer Komplexität und die nahezu vollständige Reduktion auf kampfbetonte Argumentationshandlungen aus. Auffällig ist dabei weniger, dass Haider dabei angegriffen wird und dass er diese Angriffe zurückweist. Auffällig ist vielmehr, dass keine dieser Sequenzen zu einer tieferen Auseinandersetzung führt. Anstatt nachzubohren oder Haiders Leugnungen oder Gegenvorwürfe auf ihre Haltbarkeit zu prüfen, wird schnell ein weiterer Angriff vorgetragen.« Die beiden Autoren sezieren das Scheitern von Böhme und seinen Mitdiskutanten, den rechtsextremistischen Haider zu entlarven, anhand ausgewählter Textbeiträge.
Der Hauptgrund des Scheiterns dürfte darin liegen, dass sich Böhme seiner moralischen Überlegenheit zu sicher war. Der Vorsatz der »Entlarvung« scheint eine halbwegs seriöse Auseinandersetzung mit den inhaltlichen Positionen per se ausschliessen. Man »weiss« ja, dass man die »richtige« Position hat. Wenn es darum ging in die argumentative Tiefe zu gehen, wurde abgebrochen und ein neues Thema begonnen. »Eine inhaltliche Auseinandersetzung kann daher nicht stattfinden und wird auch gar nicht erst angestrebt«, so die beiden Wissenschaftler. Einer der Gründe hierfür könnte darin liegen, dass Böhme, wie an Einzelbeispielen gezeigt wird, fachlich unzureichend vorbereitet gewesen sein muss. Anders ist sein Ausweichen und Abschweifen nicht zu erklären. Auch schien Böhme mit den rhetorischen, teilweise rabulistischen Fähigkeiten Haiders nicht vertraut und damit auch nicht gewachsen.
Das Fazit von Stettner und Januschek: »Die angekündigte öffentliche Entzauberung innerhalb einer Stunde musste scheitern, da es von vornherein nicht um eine verständigungsorientierte Auseinandersetzung ging, in der die Teilnehmer unter Böhmes Moderation miteinander ehrlich über ein bestimmtes Thema diskutieren wollten, sondern um einen inszenierten Showdown mit dem zentralen Muster ‘Entlarven’.« Hieraus schließen sie: »Entlarven ist damit ein Handlungsmuster des populistischen Diskurses und nicht ein Mittel zu dessen Bekämpfung, es ist Mittel des Kampfes und reduziert politische Auseinandersetzung auf das, was sie der populistischen Demagogie nach immer schon ist.«
Wer sich heute die politischen Talkshows anschaut wird feststellen, dass man eher noch Rückschritte gemacht hat. Der »Entlarvungsdiskurs« wird ausschließlich moralisierend geführt. Er wird von Journalisten paternalistisch betrieben, statt sachorientiert. Die »Entzauberung« findet damit nicht statt; man häuft nur Vorwürfe und Beschimpfungen an. So werden diese Sendungen mitunter zu Mitleidsbühnen. Die Furcht, die populistischen Parteien könnten hieraus Vorteile ziehen, prophezeit sich gerade dann, wenn man die sachliche Ebene verlässt. Hierfür bildet die Böhme-Sendung trotz ihres Alters interessanten Anschauungsunterricht. Auf Youtube kann man in 9 Teilen diese Sendung sehen.
Wenige Tage nach der Sendung, am 28. Februar, trat Haider als FPÖ-Vorsitzender zurück. ↩
Gutes Thema. Ich beobachte die Versuche schon länger, rund um den EXTREMISTEN eine TV-Sendung zu konstruieren, die einem Umstimmungsgespräch gleichkommt. Es ist in der Regel ein gespenstischer Vorgang. Die Bürgerlichen haben nicht das geringste diskursive Interesse (Danke für so viel Ehrlichkeit, Malu Dreyer!), und die Outlaws des Politischen erst recht nicht. Ich bin seit Jahren fasziniert von dieser elementaren Trennung der Gruppen, die sich übrigens kaum verdeckt in die bürgerlichen Lager hinein fortsetzt. Auch da hat man sich nicht viel zu sagen.
Lerne: mit Kommunikation hat die Demokratie nun wirklich nichts mehr zu tun. Das sind Modelle aus der Gitarren- und Lagerfeuerzeit. Wohl aber mit Vertrauen & Misstrauen, Reaktionen auf befremdliche Worte, selektiver Wahrnehmung von Ereignissen, und einem langfristig blöd machenden Dezisionismus.
Wenn immer nur dieselben Dinge gesagt, wenn immer nur über dieselben (komplexen und kaum lösbaren) Dinge geschwiegen wird, dann handelt es sich in der Regel um eine gereifte Demokratie.
Es lohnt sich, diese Sendung anzusehen. Nicht weil Haider so gut, sondern weil die anderen so bräsig arrogant sind. Einmal konfrontiert Böhme Haider mit einem Beschluss der FPÖ aus den 1950er Jahren, in dem die Möglichkeit eines »Anschlusses« an Deutschland nicht per se ausgeschlossen ist. Sofort kontert Haider damit, dass er damals noch gar nicht geboren war – die ganze »Entlarvungskulisse« bricht im Gelächter des Publikums zusammen. Hilflos dann noch der Versuch, er möge doch in der Sendung auf diese Klausel verzichten.
Die ganze Sendung besteht aus herbeigesuchten Zitaten von oder über Haider und die FPÖ, die alle für sich Skandalisierungpotential erzeugen und die Figur Haider bloßstellen sollen. Eine Diskussion um politische Inhalte fand praktisch nicht statt. Da die »Ankläger« jedoch unvorbereitet und am Ende mit fast lächerlichen Einwänden auftraten, konnte Haider nahezu alles ins Lächerliche ziehen. Das tragische an der Veranstaltung war womöglich, dass jedes »Lager« glaubte, »gewonnen« zu haben. Dabei hatten sie überhaupt nicht mit- sondern nur gegeneinander gesprochen.
Die »elementare Trennung der Gruppen« zeigt sich derzeit sehr gut in den USA. Eine Figur wie Trump ist dabei ideal. Für die einen ist er derjenige, der den etablierten Eliten die Leviten liest. Er ist der Außenseiter, der – das ist das Paradoxon – im Grunde genommen chancenlos ist. Potentielle Wähler, die ihn befürworten, finden in ihm ein Ventil. Er bläst einen Luftballon aus, der in ein paar Monaten nur noch schlaff herumhängen wird.
Die Trump-Wähler bleiben bei den »richtigen« Wahlen wieder zu Hause. Und alle sind froh damit. Aber die Spaltung in der Gesellschaft, die Abwendung von demokratischen Idealen ist damit nicht aufgehoben. Nicht, dass Trumps »Politik« satisfaktionsfähig wäre, aber sie ist nicht argumentativ widerlegt worden, sondern wurde dämonisiert. Das ist menschlich verständlich, politisch aber fatal: Das »Trump-Gefühl« bleibt – und es gibt in den USA Medien, die es erhalten.
Frank Lübberding schreibt heute: »Das klassische Mediensystem wird zunehmend durch fragmentierte Medienangebote ersetzt, wo das Publikum vor allem in seinen Erwartungen bestätigt wird.« Das ist zunächst einmal nicht schlimm; bei Zeitungen war das früher üblich (FAZ = rechts; FR = links, usw). Das Problem ist, dass die Fragmentierung inzwischen auch auf öffentlich-rechtliche Medien übergegriffen hat, die aus Furcht vor der Instrumentalisierung radikaler Kräfte auch nur noch eine Sichtweise wiedergeben und alles andere in die Schmuddelecke stellen oder schlichtweg ignorieren.
Etwas verstehe ich nicht (Bezug nehmend auf Lübberding, der sicher richtig liegt): wenn sich bereits früher, meinetwegen in den 80er Jahren, eine Segmentierung (als Parallele zu den politischen Gruppen, FAZ – FR) schon deutlich etabliert hatte, was ist heute anders?!
Ist die Verdrängung des Unliebsamen, ist die Selektion der Themen, die Inszenierung der Meinung schlimmer geworden?! Oder wird eventuell nur weniger Intelligenz und Arbeit investiert, sodass die Unterschiede aufgrund von Banalität und Dummheit »stärker hervortreten«. Sloterdijk sprach neulich vom Sich-Gehen-Lassen der Journaille.
Ich muss ehrlich sagen: meine politischen Sorgen sind erheblich im Moment, aber was ich an Beiträgen in der Breite lese, kommt mir dagegen sehr frivol vor, auch wenn es eine dramatische Anlage hat. Ich krieg’ das psychologisch nicht gebacken. Der politische Mensch (ich) und der Journalist scheinen sich in puncto Ratio und Charakter immer stärker zu unterscheiden.
Also, ich hab da ein echtes »Spiegelungsproblem«. Peinlich fast, das so zu sagen.
In den öffentlich-rechtlichen Medien gab es früher (1) mehr Pluralismus und (2) eine größere Bereitschaft, sich politischen Sachverhalten halbwegs objektiv zu nähern und von ihnen zu berichten. Besonders Punkt 2 ist elementar. Es ist irgendwie Konsens im Journalismus, dass es DIE Wahrheit nicht gibt. Daher entfällt sozusagen die Maxime eines suchenden Journalismus. Was zählt ist Meinung – von Politikern, Prominenten, Journalisten, Intellektuellen.
Zwar werden immer noch brav alle möglichen Parteien nach einem gewissen Proporz gehört, aber diese sagen nur das, was man eh schon weiss. Pluralität wird an Institutionen geknüpft (Kirchenzugehörigkeit; Besetzung von Parlamenten bspw.) nicht mehr an Sachargumenten. Gleichzeitig werden die gärenden Stammtischsprüche plötzlich überegional publik. Das verstärkt den Trend des Meinungsjournalismus, der einfach nur noch Gesinnungen produziert.
Ich glaube zu bemerken, dass wie jetzt an einen Punkt ankommen, an dem öffentlich-rechtliche Medien aus politischen Gründen plötzlich sakrosankt werden. Wenn ein Medienkritiker wie Hans Hoff plötzlich davon schwärmt, dass die ÖR zu »99 Prozent hervorragende Arbeit« leisten, ist das m. E. bedenklich. Und wenn die »Krise des Journalismus« praktisch als inexistent bzw. als ein Produkt falscher Fragestellungen bei Umfragen dargestellt wird, dann frage ich mich, wie diese Leute langfristige Berichterstattungen verfolgen.
Kurzer Einwurf zu Trump (der schon seit vielen Monaten als bald erledigt beschrieben wird): Die USA sind medial schon in Phase 2. Der amerikanische Haider wäre eher der vollkommen kompromisslose, foxnewsprotegierte Ted Cruz, den die republikanische Partei momentan mehr fürchtet als den irrlichternden Trump. Die Tea-Party-Leute sind durch Haidereien stark geworden, Palin war schon grotesk, Trump ist nichtmals mehr das. Für Trump ist selbst Fox News zu seriös, brrr. Mal als Blick in die Zukunft.
P.S.: Mir fällt das nicht ganz leicht zu sagen, aber Laschet hat den Dreyers et.al. vorgemacht, wie man mit so einer Storch umgehen kann. Unmöglich ist es anscheinend nicht, setzt aber entsprechendes Format voraus. Und wer keine Haltung hat, kann sie auch nicht einnehmen.
Wenn ich das richtig verstanden habe, erscheint Cruz selbst für Trump-Wähler zu radikal?! Vermutlich haftet Trump noch ein bisschen das Exotische an; ein Anti-Establishment-Mann, was natürlich alleine durch seine Verflechtungen in der Immobilienbranche lächerlich ist. In paar Monaten dürfte seine Kampagne Geschichte sein. Und Frau Palin dürfte sich dann vielleicht Cruz zuwenden.
Laschet / Storch habe ich nicht gesehen.
Nein. Ich wollte nur darauf aufmerksam machen, dass sich ein Vergleich zwischen Populisten in Europa mit Trump verbietet, da diese Rolle eher die Tea Party einnimmt. Trump entspricht einer Kategorie, die hier zu Lande zum Glück noch nicht vorstellig geworden ist. Zu radikal ist Cruz für die Entourage der Republikaner, weshalb sie eher einen Trump in Kauf nehmen werden.
Okay. Aber selbst die Tea-Party ist nicht mit europäischen Rechtspopulisten vergleichbar. Der Unterschied ist nicht ideologisch, sondern institutionell: Die Tea-Party ist ja nur ein »Flügel«. Ihre Anhänger sind klug genug, sich nicht abzuspalten, weil sie damit direkt politisch bekämpft werden und womöglich an Bedeutung verlieren könnten. Ihr Verbleiben bei den Republikanern ist strategisch. Ihr Ziel ist es, die Republikaner am Ende auszuhöhlen und dann wie einen Fallobstapfel zu übernehmen. Da passt natürlich der Sieg des kühl kalkulierenden Cruz gegen Trump sehr gut ins Konzept.
Ich war und bin ja ein Fan des Amerikanischen Zwei-Parteien-Systems, but... Unfortunately, there is no such Thing like a Party in Amerika!
Und selbst das wäre noch sympathisch, denkt man an die Dressurakte auf den heimischen Parteitagen, und die absolute Resistenz der Delegierten gegenüber dem, was man in Deutschland so einfach wie treffend, den »Gedanken« nennt.
Aber, und das ist ein dickes ABER: es muss ja regiert werden, es muss erörtert, entschieden und verordnet werden, und das ist das Leck in der Geschichte: die politischen Bewegungen sind unterirdisch, wahrscheinlich schon seit den GRÜNEN... Man gewöhnt sich ja an eine Abschlagsforderung nach der anderen. Es scheinen sich, Politik und »Bewegung« im sozialkonstruktiven Sinne bereits völlig zu widersprechen. Was ich wirklich bemerkenswert und absolut beunruhigend finde, ist, dass der Westen politisch »implodiert« ist, was Personal und Kompetenz anbelangt. Dennoch funktioniert das System, etwa so wie eine alte Leierorgel... Das einzige, was nicht mehr zum Westen passt, ist die... Zukunft. Also, ganz plakativ, aber auch ein bisschen metaphysisch gesprochen.
Wer hier im Blog herumsucht findet von mir einen Text, der viele Jahre alt ist und für das Mehrheitswahlrecht in Deutschland eintritt. Diesen Text würde ich so heute nicht mehr schreiben. Es ist zwar m. E. mehr als problematisch, wenn kleinere Parteien in Koalitionen je nach Lage mit einer grösseren Partei regieren und sich dabei praktisch immer die Posten sichern können (wie es bspw. bei der FDP mehr als 60 Jahre in der Bundesrepublik fast durchgängig der Fall war), aber ein Mehrheitswahlrecht, das am Ende nur zwei große Parteien kennt, ist auch nicht (mehr) die Lösung, weil, wie man in den USA 2012f gesehen hat, sich die Parteien gegenseitig blockieren.
Inzwischen geht der Einfluss kleinerer Parteien in Verhältniswahl-Demokratien eher zurück. Es dominieren sogenannte »Große Koalitionen« (in D: Union/SPD; in A: SPÖ/ÖVP). Diese »Großen Koalitionen« werden immer kleiner werden, sobald, wie in Österreich schon fast seit 20 Jahren, eine dritte Kraft nachhaltig aufkommt. Dann rettet man sich von einer einstigen Zweidrittelmehrheit auf nur noch knapp über 50%. Auch im deutschen Bundesrat wird es bald eine Dominanz von Schwarz-Roten Bündnissen geben. Damit wird praktisch die schwarz-rote Koalition im Bund nach der nächsten Bundestagswahl 2017 vorweg genommen. Deutschland und Österreich tendieren – plakativ formuliert – zu einer Art Konkordanzdemokratie nach Schweizer Vorbild.
In den USA ist seit vielen Jahren das Gegenteil zu beobachten: Die Spaltung der Gesellschaft, die sich in der gegenseitigen Blockade der beiden großen politischen Parteien zeigt. In Frankreich ist es ähnlich, obwohl es dort drei große Parteien gibt. Trotz aller Gegensätze agieren Sozialisten und Konservative nur noch mechanisch: Sie wollen in jedem Fall den rechtsextremen FN verhindern. Jegliche Politik wird diesem Ziel untergeordnet; alles wird darauf abgeklopft, inwiefern es vom FN populistisch/medial ausgeschlachtet werden könnte. (Das wäre die Zukunft in den USA, wenn sich die Tea-Party als Partei aufstellen würde, was sie deshalb nicht macht; sie wäre mit 30 oder 40% der Stimmen trotzdem machtloser als heute als rechter Flügel der Republikaner.)
Vielleicht ist jetzt mal Zeit für steile Thesen: Die westliche Demokratie, wie wir sie kennen, ist an ihre Grenze gestoßen. Sie agiert nur noch aus Furcht vor der Mehrheit, statt sie zu bilden und zu formen. Populäre Meinungen werden voreilig als »populistisch« subsummiert. Dieses Etikett alleine genügt, um eine Stimmung, eine Strömung in der Bevölkerung abzuschmettern. Eine Beschäftigung ist dann überflüssig geworden. Demokratie wird zur Schönwetterveranstaltung, die bei Regen ausfällt. Früher war die Schweiz mit ihrer direkten Demokratie besonders für die Linke eine Art Vorbild. Heute, nachdem etliche Entscheidung anders ausgefallen sind, als sie sich das wünscht, werden Elemente direkter Demokratie als »populistisch« abgetan.
Die Furcht vor der Mehrheit... Das kann ich nur so verstehen, dass die Mehrheit für die einzelnen Parteien jeweils eine »externe Größe« geworden ist, der es sich möglichst anzugleichen gilt, und die im Störfall auch über die »eigene Basis« als Widersacher auftauchen kann.
Deleuze hat für diese immanente Mehrheit ja den Begriff »Majorität« geprägt, weil er die Beobachtung einkreisen wollte, dass es ein Leitprinzip jenseits des Zählens gibt, das man heute ganz salopp die »gefühlte Mehrheit« nennen würde. Oder den »Konsens«. Was alle wollen, jenseits des Zählens und der Details, ohne den Begriff der Allgemeingültigkeit (Legitimität) zu bemühen, den uns die Sturköpfe verordnen. Die Ursuppe des Politischen als Denkweise und Lebensform.
Ist schwer zu beschreiben, aber ich tendiere (@Gregor) auch dahin, dass die Politiker in ihrem Urvertrauen erschüttert sind, und nur noch taktisch gegenüber einer volatilen, schwer fassbaren Mehrheit, jedenfalls nicht in gutem Glauben agieren. Wenn das stimmt, dann wird sogar ein Krisenfall begreifbar, nämlich wenn die Mehrheit sich völlig verbirgt, d.h. sich der Wahrnehmung des Politikers entzieht. Hieß ja immer: es gibt keine schweigende Mehrheit! –Allzu wahr. Es kann aber auch das Gegenteil eintreten, nämlich dass sich in der Vielzahl der Diskurse keine Mehrheit abbildet. Vor diesem »Schweigen« sollten wir Angst haben!
Denn was macht der Politiker, wenn er taktisch versiert ist, und die Mehrheit sich entzieht?! Dann macht er die »Merkel«, metaphorisch, tarnt sich, weicht aus, wirft Nebelbomben aus Rhetorik, und hofft bei Verhandlungen auf das Erscheinen des Hl. Geistes.
Wo wäre z.Bsp. die Mehrheit in der Flüchtlingskrise zu verorten?! ...Ich wüsste es nicht zu sagen. Ich hab’ eine Meinung, aber diese Meinung passt nicht zu dem, was die allermeisten Journalisten (Profi-Meinungsinhaber) sagen und schreiben. Selbst wenn ich diese meine Meinung zurückstelle, kann ich keine »Mehrheitsmeinung« dingfest machen. Alles fließt! Von Aussage zu Aussage, von Einwand zu Einwand, von Vermutung zu Vermutung, etc.
Es ist ein politisches und ein intellektuelles Desaster, wenn die Mehrheit i.o.S. verschwindet, d.h. zur Chimäre wird.
Politik kann und soll sich ja nicht an (volatilen) Mehrheiten orientieren. Gerade dieses Verhalten wird ja als »Populismus« bezeichnet. Umgekehrt soll Politik Entwürfe vorstellen, die dann zur Abstimmung gestellt werden. Populisten holen die Umfrageresultate und richten danach ihr Programm aus. Darin würde ich den Unterschied festmachen.
Inzwischen ist aber Populismus zu einem Schimpfwort geworden. Das Beharren auf soziale und gesellschaftliche Standards und Gesetze gilt inzwischen als »populistisch«. Ich würde sie höchstens als »überflüssig« bezeichnen, da man doch über Selbstverständlichkeiten nicht diskutieren sollte (s. hier).
Es kann auch nicht darum gehen, jede Entscheidung per Volksentscheid legitimieren zu lassen. Das ist schon rein logistisch nicht möglich und wäre auch nicht wünschenswert. Ich glaube auch nicht, dass es primär darum geht, festzustellen, wie die Meinung in der Bevölkerung zur Flüchtlingsfrage ausfällt (das wird ja regelmässig in Umfragen versucht). Entscheidender ist, ob sich die unterschiedlichen und divergierenden Meinungen innerhalb der Bevölkerung in deren politische Repräsentanzen wiederspiegeln. Und das ist eindeutig nicht der Fall.
Wir haben nicht nur eine im Bundestag 80% Mehrheit für diese Regierung – auch die Oppositionsparteien sind, bis auf kleinere Differenzen, dafür. Und jetzt kommt der wichtige Punkt: Diejenigen, die in den Regierungsparteien aus den unterschiedlichsten Gründen die Merkel-Politik befragen und für fehlerhaft finden, werden in der Öffentlichkeit als Querulanten gemaßregelt. Ihre Einwände werden nicht politisch, sondern moralisch diskutiert. Aber eine Politik, die für sich die Moral des Guten und Richtigen sozusagen verordnet hat, stellt sich gar nicht erst dem Diskurs. Ich erinnere mich an Merkels Wort, dass sie sich nicht entschuldigen will, weil sie Menschen geholfen hat. Damit wird jeder, der die Politik der offenen Grenzen kritisiert, ins moralische Abseits gestellt. Dann entsteht das, was man »Schweigediskurs« nennen könnte (eigentlich paradox).
(Die CDU-Abgeordneten, die Merkel brieflich zu einer Änderung ihrer Politik aufgefordert haben, werden ihre Quittung bei der Aufstellung der Listenplätze bei der nächsten Wahl erhalten.)
Die großen politischen Umbrüche der letzten Jahrzehnte in Deutschland (Wiedervereinigung, Euro, EU-Verfassung) sind alle ohne explizite demokratische Legitimation »von oben« verordnet worden. Ihnen haftete dabei immer die Parole an, dass sich alles zum Guten wenden wird. Diese Gewissheit ist seit den diversen Euro-Krisen und den Turbulenzen in der EU in vielen Kreisen der Bevölkerung zerstört. Das Misstrauen in die Politik wächst. Die Flüchtlingskrise, die ungelöst jedes Jahr praktisch 1 Million Flüchtlinge in der Land bringt, von denen niemand sagt, ob sie nun Migranten oder nur vorübergehende Asylsuchende sein sollen, lässt sich mit Versprechungen und wohlfeilen Parolen (»Wir schaffen das«) auf lange Sicht politisch nicht mehr durchsetzen. Wenn der geordnete Diskurs darüber nicht zustande kommt, droht tatsächlich eine Verschiebung in ungewollte Richtung(en).
Genau: Die großen politischen Umbrüche der letzten Jahrzehnte in Deutschland sind alle ohne explizite demokratische Legitimation »von oben« verordnet worden.
Ohne Ressentiments lässt sich im Nachhinein sagen: es waren Entscheidungen, deren Tragweite man nicht einschätzen konnte.
Wir scheitern an den komplexen Problemen. Die Abweisung straffälliger Asylbewerber war ja vergleichsweise einfach, jedenfalls auf dem Papier. Das war in 1–2 Wochen durch.
Aber die Kontrolle von Menschen- (Asyl), Waren- (TTIP) und Kapital-Strömen(Finanztransaktionssteuer), sozusagen die Kontrolle der Big THREE misslingt. Ist das die Grenze der Demokratie, die Kontrolle der Ströme?! Können wir nur Schule und Gefängnis?!
Dass sich Politik nicht an Mehrheiten orientieren soll, ist gewagt. Wären die Abgeordneten nur ihren Wählern gegenüber verpflichtet, könnte man die zeitweilige Abgabe der Souveränität, was man repräsentative Demokratie nennt, auch demokratisch nennen.
Sieht das in der Realität nicht ganz anders aus? Erstmal könnte man bezweifeln, ob das Primat der Politik überhaupt noch besteht. Ich denke nicht und glaube weiter, dass ein nicht unerheblicher Teil des omnipräsenten Unbehagens aus dem Gefühl der Fremdbestimmung der Politik rührt.
Z.B. beim Thema Erbschaftsrecht besteht ein eklatanter Unterschied zwischen dem Willen des Volkes und der durch den Bundestag seit Jahrzehnten gestalteten Gesetzgebung. Selbst die ausdrückliche Rüge des Verfassungsgerichtes hat nur zu marginalen Änderungen geführt. Welche Partei muss ich wählen, um dies zu ändern? Eins von vielen Beispielen der Themen, die Populisten missbrauchen können, weil der Mainstream versagt oder nicht anders handeln kann.
Aber eine Politik, die für sich die Moral des Guten und Richtigen sozusagen verordnet hat, stellt sich gar nicht erst dem Diskurs.
Es ist noch schlimmer. Wären sie davon überzeugt, könnte ich das akzeptieren. Weltanschauung ist nur bedingt diskutabel und Aufgabe der Politik ist der Kompromiss, nicht die Überzeugung. Das schlimme ist aber, dass die moralischen Argumente meist nur die einer hidden agenda übergestülpten Gründe sind, um in einer überpolitsch korrekten Gesellschaft Meinungsdruck zu erzeugen. Und das führt zu psychologischen Verheerungen.
Noch mal zum Thema: Böhme, Talk, Berichte, Manipulationen, etc.
Ich bin mit der Politik via TV bereits aufgewachsen, die Zeitung war ein Zweitmedium. Mir schien die Politik via TV von Anfang an diffus, encrypted. Nicht weil ich sofort den Durchblick hatte, sondern weil die verschiedenen Ebenen (Setting, bourgeoise Umgangsformen, Klientelverhältnis, Aussagen, Emotionen, Polemik) kein echt gutes Bild ergaben, im Sinne des holistischen Geistes.
Ein gut Teil der sonderbaren Wahrnehmungen ist dem Medium geschuldet, ein beträchtlicher Teil der Politik selbst. Ich hatte (und habe) unendlich viel Mühe, das auseinander zu klauben. Hat es mein Interesse, meinen Elan vital verstärkt?! Nein. Ist zum Abgewöhnen.
Was ich in Deutschland besonders vermisse: das Grundvertrauen der Kombattanten zueinander. Deutschland ist Pranger-Land, ein Schäm-Dich-Land. Die Unterworfenheit der Teilnehmer innerhalb ihrer Gruppen (Gruppen-Ödipus) geht jedem Ansinnen zu 100% voraus. Da steckt mit Sicherheit die Selektion der Parteien dahinter, ganz vorne dabei: die SPD. Nur »unterworfene Funktionäre«, mit dem Vorsatz, andere zu unterwerfen. Den freien Bürger suchst du vergeblich. Inzwischen habe ich verstanden, dass es prinzipiell nicht anders geht. Aber ich bin gelinde gesagt enttäuscht. Wenn allein schon die Sozialkonstruktion die Werte (Nietzsche) verzerrt und verkehrt, die sie vorgeblich verteidigt...
Tiefenpsychologie und Politik, das wäre noch zu klären, am Ende der Moderne.
Wer macht es warum, was macht es mit ihm, insbesondere mit IHR, der politischen Frau in den Fünfzigern, und warum machen wir es überhaupt.
Das Fernsehen hat wohl die unangenehme Eigenschaft, dass die komplette Sphäre des Politischen wahrnehmbar wird. Das trägt nicht unbedingt zur Motivation und Erheiterung bei.
@Joseph Branco
Die Aussage, dass sich Politik an Mehrheiten orientieren soll, ist als Schlussfolgerung gedacht. Das Ideal wäre: Parteien bieten ihre jeweiligen Programme zu aktuellen politischen Themen an. Hierüber wird in einem Wahlkampf diskutiert. Dann wird gewählt – und wer die Mehrheit erhält, kann es dann umsetzen. Damit nicht eine Diktatur der Mehrheit entsteht, die unter Umständen nach vier Jahren alles wieder umdreht, gibt es innerhalb des politischen Systems Regulierungen (in D der Bundesrat bspw). Entscheidend ist, dass dem Wähler je eine Programmatik vorgestellt wird und dass die Programmatiken der Parteien sich innerhalb eindeutiger Rahmenbedingungen unterscheiden. So braucht man nicht jedes Mal neu über das Grundgesetz abzustimmen – es muss die Grundlage jeder politischen Programmatik sein.
Was aber, wenn sich zu essentiellen politischen Themen parteiübergreifend ein Konsens existiert, der unabhängig vom Meinungsbild bei den potentiellen Wählern umgesetzt wird? (Lassen wir die Rolle der Medien einmal einen Moment ruhen.) Was, wenn es in Fraktionen einzelne Abgeordnete gibt, die öffentlich den Konsens befragen und substanzielle Einwände formulieren, die aber ebenso öffentlich von Parteifreunden dafür bedroht und diffamiert werden?
Was bedeutet es, wenn es heisst, dass der Abgeordnete seinen Wählern verpflichtet sein soll? Muss er sich bei jeder Entscheidung eine Art Genehmigung holen? Beruht nicht das repräsentative Element darauf, dass man als Wähler »seinem« Abgeordneten dahingehend vertrauen kann, dass er Entscheidungen mitträgt, die im Sinne dessen sind, wofür er sich im Wahlkampf eingesetzt hat und andere ablehnt, auch wenn es die »Fraktionsdisziplin« anders möchte? Hierauf beruht m. E. der Grundgesetzartikel von der Gewissensfreiheit des Abgeordneten.
Hier ist es also das V‑Wort: Vertrauen. Demokratie ist ohne Vertrauen nicht zu haben. Wenn Wähler das Vertrauen verlieren, bricht das System mittelfristig auseinander. Wenn abtrünnige Abgeordnete wie ungehorsame Kinder in die Ecke gestellt werden, ist dies ein fatales Signal. Um dies zu camouflieren, muss sie moralisieren, in dem Argumente des Andersdenkenden nicht zugelassen werden, weil sie a priori schon den selbst aufgestellten moralischen Konsens angreifen.
Ich glaube allerdings, dass die meisten der moralisierenden Politiker ihre eigenen Phrasen glauben. Darin liegt nämlich das Problem. Wären sie nur Opportunisten, müssten sie sich früher oder später an den Mainstream andocken.
Dass die Politik nur noch begrenzte Spielräume und eher fremdbestimmt daherkommt, hat sie sich selber zuzuschreiben. So wäre das gesamte Feld der Finanzpolitik durchaus regulierbar und politisch »beherrschbar« – aber man will es nicht, weil man Furcht vor eventuellen unangenehmen Nebeneffekten hat.
@die_kalte_Sophie
Das mit dem »Pranger-Land« hat damit zu tun, das Politik in Deutschland mindestens seit den 1970er Jahren als Moralpolitik daherkam. Damals war dies in vieler Hinsicht auch notwendig; etliche Punkte, die die 68er auf die politische Agenda gesetzt hatten, wurden endlich institutionalisiert und umgesetzt. Einen Schub gab es dann in den 1980er-Jahren noch einmal durch Friedensbewegung und Grüne. Von da an war kein Halten mehr: Ob AKW, Waldsterben, Dosenpfand oder Glühbirne – wer hier nicht mitmachte, war nicht mehr politischer Gegner, sondern ein »Feind«. Wer sich gegen den Irakkrieg der USA 1991, den NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 und den Afghanistan-Einsatz 2001 stellte, unterstützte praktisch automatisch Saddam, Milosevic (und damit Hitler wie Enzensberger das 2 x formulierte) oder die Taliban. Fernsehen trat dabei anfangs als Verstärker auf. Inzwischen werden bestimmte politische Ziele nicht einmal mehr diskutiert. Das hat mit der Staatsnähe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und dem Desinteresse des Privatfernsehens an politischen Themen, die nicht skandalisierbar sind, zu tun.
Fernsehen kann dennoch heute noch als Aufklärungsmedium gelten. Man muss nur auf der Klaviatur der Programme und Mediatheken spielen können, andernfalls bleibt man bei Champions League, »Hart aber fair« oder »Druckfrisch« hängen.
@Gregor Keuschnig
Ich hatte mir letztes Jahr den Tort angetan, dass Buch von Klaus-Peter Willsch über die Sicht aus dem Haushaltsausschuss auf die Eurokrise zu lesen. Willsch ist selbstgefällig und etwas unangenehm, wenn aber nur das Wesentliche stimmt, was er schreibt, sollte man das mit dem Vertrauen schnell vergessen. Abgesehen davon, dass die Abgeordneten nicht mehr verstehen, worüber sie abstimmen, werden sie selbst wie Kinder behandelt, bekommen die Gesetzestexte erst am Tag der Abstimmung, teilweise nur in Englisch oder gar nicht. Das Parlament ist vollkommen marginalisiert. Einziger Lichtblick waren die Interventionen von Lammert, den Abtrünnigen gegen den Willen der Fraktionsführer zumindest Rederecht zu geben. Ich stimme mit Willsch nicht überein, aber seine Kritik ist treffend.
»Mein« Abgeordneter hat übrigens in den letzten Jahren zu 100% mit der Masse gestimmt, obwohl in seinem Wahlkreis sicherlich mehrfach eine andere Überzeugung herrschte. Wie ist das dann erst bei Figuren wie Volker Kauder, die jedesmal, wenn ein Christ in der Welt schief angesehen wurde, Zeter und Mordio schreit, dann aber für »sein« Heckler und Koch Stellung bezieht.
zu #17 Sehr einverstanden: wir müssen diese moralistische (Moral ist ja nun wirklich nicht so »einfach zu stricken«, wie man in D gerne glaubt) Schlagseite in der politischen Sphäre mit allen Mittel beseitigen, konterkarieren, für minderwertig erklären, etc. Da müssen Positiv-Beispiele gelingen.
Und wir brauchen das Medium Fernsehen nicht in Bausch und Bogen zu verwerfen, etwa weil es sich als korrupt erwiesen hat. Die »Verstärkung« kann ebenso gut im Dienste der Progressivität (Aufklärung) stehen.
Rettet die politische Kultur, das ist wohl der Auftrag meiner und der nächsten Generation. D.h. implizit, bewahrt die Deutschen vor ihrer urtümlichen Leidenschaft, welche Politik nur verunmöglicht.
Danke für ihre Ausführungen, das trifft es...
@ Joseph Branco
Es ist keine Anbiederung, wenn ich schreibe, dass ich Sie für die Lektüre bewundere, zumal ich glaube nachvollziehen zu können, was Sie meinen. Ich mag Willsch auch nicht, aber die Beschreibungen sind unabhängig von der Person.
Die Abstimmungen zur sogenannten Euro-Rettung waren natürlich Schmierentheater und in jedem Drittweltland hätte man dies scharf kritisiert. Aber es ging ja um »Europa«...
Der hochevangelische Klaus-Peter Willsch und Branco und Gregor Keuschnig und die_kalte_Sophie und Reiner Holznagel vom Bund der Steuerzahler und Thilo Sarrazin und Dirk »Dax« Müller aus Reilingen/Bd. und – wer noch: der Stern, die FAZ, die Wirtschaftswoche, das Handelsblatt und Hans-Werner Sinn: Das ist doch was! – Alle mit Willsch oder ohne zumindest hie und da gegen den Euro und etliche gegen die Griechen-Rettung, wie es scheint. – Bis zum nächsten Mal.
Ah: Da fällt mir der Independent ein: Er war kürzlich auch gegen die Griechen, aber er hat tiefer angesetzt als andere: Mit einer Kritik des vorherrschenden Verständnisses von Keynes.
Es wäre, um auf das eigentliche Thema zu kommen: Eine interessante Sache, zu überprüfn, wie oft einfach die Auffassung von Defizit-Spending als Wunderkur appliziert wurde im Laufe der letzten sagen wir zehn Jahre im öffentlichen Diskurs.
Das ist ein systematischer Fehler, solange man verkennt, dass Keynes durchaus der Ansicht war, geliehenes Geld müsse zurückgezahlt werden. Dies ist freilich keine unumstößliche Tatsache, weil Verträge soziale Tatsachen sind, die man, wenn es eng wird, manchmal so oder so auslegen kann.
Die Verträge, die die Griechen mit Europa abgeschlossen haben, wurden nicht eingehalten bzw. modifiziert, die Verträge die Griechenland mit Goldman Sachs abgeschlossen hat, wurden korrekt bedient (es ging bisher, habbich das richtsch im Kopf, um mehrere hundert Mio Euro).
Etliche mit der griechischen vergleichbare Volkswirtschaften haben k e i n zusätzliches Geld von der EU verlangt – und es wurde ihnen auch keines bezahlt.
Das bringt mich auf die Talk-Shows und sonstige Formen der Öffentlichkeit.
Gregor Keuschnig ist unbedingt zuzustimmen, was die Causa Haider angeht. Aber ich möchte mit einem zarten Hinweis fortfahren: Was, wenn Böhme besser vorbereitet gewesen wäre?
Eine Antwort auf diese Frage gibt es zur Zeit in CH zu besichtigen, wo ich von KN aus lange vom Schreibtisch aus hinzusehen pflegte, in müssigen Momenten: Der Blocher-Mann und seine Partei gewinnen Wahlen, weil sie die Wähler erreichen. Neueste Forschung – am Montag in der NZZ gelesen: – Die Arbeiterschaft ist in CH scheints mehrheitlich weg von der SP und nun bei der SVP angekommen. Die SP wählen in der Schweiz zunehmend und langsam exclusiv Leute wie solche, die sich hier austauschen.
Sachen gibt’s?!
tja – und wenn alles kommt wie prognostiziert, wird sich das in Ba-Wü wiederholen: eine Arbeiterpartei, aber keine Arbeiter mehr... (= 17,5 %!?).
Schluß
- Das alles ginge ‘türlch (F. Schulz) besser mit Luthers Apfelbäumchen oder des späten Bloch enttäuschbarer Hoffnung, aber es geht auch ohne sie.
Manchmal, wenn ich über Land fahre und bemerke, dass ich nicht einverstanden bin, stelle ich mir vor wie groß das Land ist – und welches Wunder, dass es funktioniert.
Besser geht immer.
@ Dieter Kief Ihre gute Laune ist wie immer vorbildlich aber unmöglich natürlichen Ursprungs, also: Hände weg von dem Zeug!
»Keynes« ist zur Chiffre geworden. Es steht für jene wunschökonomischen Argumentationen, die den Staat und Gesellschaft als »Ein-Konten-System« betrachten. Da wird in Flüchtlinge investiert, das Wachstum auf Pump »beschleunigt«, der Energie-Markt reguliert, und der gewünschte Output ist immer zugleich politisch wie auch fiskalisch günstig. An diesem Double-Benefit-Effekt lässt es sich ganz gut erkennen. Was hinten rauskommt, ist optimal für beide Seiten. Einfach mal Geld ausgeben, und warten, wie die Saat aufgeht.
Ich wollte in diesem Zusammenhang über Willsch sagen: Immer deutlicher finde ich mich in derselben Situation wie der »gemeine Abgeordnete«. Ich verstehe allenfalls die Hälfte des Problems (GR, Euro, Migration) will mir aber eine Meinung bilden, die ersatzweise für die Abstimmung steht. Der einzige Vorteil des freien Bürgers, als den ich mich betrachte, besteht darin, dass er nicht unter Gruppenzwang (Fraktion) steht und nicht so hartnäckigen Lobbyisten ausgesetzt ist. In jüngster Zeit stelle ich fest, dass meine Meinungen in Berlin praktisch überhaupt nicht vertreten sind, und dabei heißt »nicht vertreten« schlicht: Kommt nicht vor in Parlament und Regierung. Wollen Sie wissen, was das mit mir macht?! –Offen gestanden, ich weiß es selbst nicht. Es wühlt und arbeitet in mir, und fühlt sich prima facie wie eine gestörte Verdauung an. Ist das die wahre Last der Demokratie, wenn Sie zuschauen müssen, wenn andere* etwas komplett anderes machen, als das was sie selbst getan hätten?!
*Dabei liegt der Akzent bei »andere« auf dem Plural, der sich bei allen Entscheidungen auch im gruppendynamischen Sinne bemerkbar, der Plural richtet sich sozusagen direkt gegen die Tatsache, dass der Andersmeinende (ich) ein Einzelwesen ist. Will sagen: die Demokratie hat es nicht so mit dem Einzelnen, das spürt man besonders, wenn man NICHT mit der politischen Klasse übereinstimmt. Ihr vitales Zentrum ist die Menge (nicht die »Masse«). Immer wenn Meinungen »mengenmäßig« ins Gewicht fallen, siehe Blocher, werden sie für die Demokratie wichtig. Nur so dahingestellt, denn wir alle kennen selbstverständlich den Legitimations-Überbau, der dafür sorgt, dass so etwas wie eine Übermenge erscheint, in der wir sprichwörtlich alle enthalten sind. Di Fabio ist so ein Überbau-Spezialist. Aber ich glaub da nicht so dran, ich höre da eher auf mein Bauchgrummen. Kritisch gesprochen: wenn jede Menge Volk mit Meinung auf der repräsentativen Ebene nicht mehr vorkommt, dann wird kein Überbau den Zusammenbruch verhindern.
Ich glaube, es ist weniger ein Unbehagen daran, dass im Parlament Sachen beschlossen werden, die man nicht mag, sondern eher, dass es keine seriöse Alternative zu geben scheint. Seit der Griechenland-Krise haben wir praktisch eine Große Koalition. Diejenigen Abgeordneten, die sich dem Mehrheitszwang nicht beugten, wurden für die einen zu Helden, für die anderen zu Dissidenten. Letztere haben die Macht über Listenplätze bei der nächsten Wahl diese Dissidenten so zu platzieren, dass sie nicht mehr ins Parlament kommen. Wird nicht das Elend dieser Repräsentation dadurch angezeigt, dass solche Figuren wie Willsch zu »Helden« werden, nur weil sie sich diesem Meutenparlamentarismus, den auch eine in dieser Hinsicht unverdächtige Figur wie Lammert beklagt, widersetzen?
Aktuell zeigt sich in der Flüchtlingsproblematik Ähnliches. Es gibt nicht nur die Große Koalition aus Union und SPD – Linke und Grüne vertreten ja eine ähnliche Sicht (über den Bundesrat regieren sie mit). Die CSU scheitert gerade daran, sich als Opposition zu profilieren, ohne auf die Macht verzichten zu wollen. Das ist von einer schrecklichen intellektuellen Armut – auf allen Seiten.
[W]enn jede Menge Volk mit Meinung auf der repräsentativen Ebene nicht mehr vorkommt, dann wird kein Überbau den Zusammenbruch verhindern.
Es gibt keinen Überbau mehr. Hierin liegt auch der Irrtum der »Wir schaffen das«-Parole, mit der versucht wird, einen solchen Überbau zu reaktivieren. Der Ersatz-Überbau sollte die EU sein, aber der »Verfassungspatriotismus« ist ein Brot, dass zu hart ist (so gesund es sein mag). Seit den 2000er Jahren ist nur noch der Konsumismus als »Überbau« übriggeblieben (die »nationale« Volte nach der Wiedervereinigung war nur ein Strohfeuer). Allenfalls die deutsche Fußballnationalmannschaft mag noch ein »Wir«-Gefühl zu erzeugen – für 90 oder 120 Minuten. So entspannend dies ist, so kompliziert ist dies auch in Krisensituationen.
Richard von Weizsäcker sprach in den 1990er Jahren von einer informellem Deal zwischen Bürgern und der Politik. Die Politik hält dem Bürger die großen Probleme vom Hals, mehrt, wo es möglich ist, dass, was man Wohlstand nennt. Im Gegensatz hält sich der Bürger weitgehend aus der Politik heraus (bis auf die Wahlen). Dieser Deal (das nicht das Wort von Weizsäcker) hat beispielsweise einen Diskurs über die EU und deren Befugnisse verhindert. Es galt als ausgemacht, dass die Politik das schon macht. Die Skepsis war nie repräsentativ vertreten bzw. sie wurde sofort denunziert.
»Es gibt keinen Überbau mehr...«. Kann sein man sucht und sucht, und findet nichts. Mir kommen die Legitimations-Spezialisten zwar sehr imponierend aber nicht eben mehrheitsfähig vor. Gewiss ist der Verfassungspatriotismus die edelste Variante. Aber ich denke, das Wir existiert nur auf der Handlungsebene, und da steht allzu leicht Meinung gegen Meinung. Oder sagen wir nicht »existiert« sondern »etabliert sich nur auf der Handlungsebene«. Es ist bestimmt leichter gesagt als getan.
Schön, wie Sie alle Identifikationsprozesse der letzten Jahrzehnte beschreiben, die »kleine nationale Episode in den Neunzigern«, Europa als geschichtliche Transformation/Trans-Formation, der Fußball, das gute Essen, etc. Alles Versuche, ein Wir aufzubauen. Zuletzt sogar Madame mit »Wir schaffen das!«. Ein weiteres Strohfeuer. Der Allerweltssatz bedeutet für jeden etwas anderes. Für mich bedeutete es: Wir sind so übermenschlich geduldig, dass die Auflösung des Europäischen Asylsystems uns nicht beunruhigen muss, weil es uns in ferner wenn auch nicht allzu naher Zukunft ganz sicher gelingt, dafür Ersatz zu schaffen. —Liege ich völlig daneben, oder hat sie das gemeint?!
Mein erster Gedanke war: Du nicht! Du hast keine Ahnung von Europa. Und die Österreicher haben mit Faymann ein ähnliches »Spiegelproblem«. Der Falsche sagt das, was man gerne glauben würde.
Der grösste Versuch eines »Wir« ist der Nationalstaat, der ja in den letzten 30 Jahren eine Renaissance sondergleichen erfuhr. Er ist Fluch und Segen zugleich, weil er nicht nur integrierend, sondern auch polarisierend und ausgrenzend verstanden werden kann. Das ist sein Problem. Rau hat mal gesagt, er mag Patrioten, hasst aber Nationalisten – das ist genau der Grat, auf den eine Politik zu balancieren hat.
Eine EU als supranationales Gebilde schafft keinen Zusammenhalt, weil sie Heterogenität als Makel begreift und einebnen will. Am Ende steht dann ein »Europa der Regionen« – eine Art Folkloreveranstaltung mit Blasmusik und Dolce vita (im Süden) oder Holtzhäuschenromantik und Shanty-Chor (im Norden).
Wir schaffen das« ist ähnlich wie »blühende Landschaften«. Wenn es einen Fehler gibt, den man Kohl 1990f nachsagen kann, dann ist es der, die Mühen und Kosten des Vereinigungsprozesses verharmlost zu haben. Ähnliches macht jetzt Merkel. Beides geschieht in gutem Willen – man will, wie De Maizière so treffend sagte – den Leuten nicht zu viel zumuten.
Aber noch kann man sich halt, wie der misslaunige Herr Kief noch wundern, dass das alles so funktioniert. Stunden nachdem zu Blutspenden nach dem Zugunglück in Bad Aibling aufgerufen wurden, wurde gemeldet, dass man mit der Fülle der Reaktionen nicht mehr nachkommt. Immerhin.
Die »größte Variante des Wir«, die Nation, ist vielen suspekt. Die Argumente zielen dann immer auf die nötige Abgrenzung und die mögliche Entartung hin. Ersatzweise wird dagegen die noch größere Variante »Weltpolitik« aufgeboten. Das Wir soll Alle sein. Alles andere gilt für unmoralisch. Ich lese heute in den Diskursen immer noch Deleuze aber auch Bruckner, die nicht aufhören können oder konnten sich darüber zu wundern, wie der westliche politische Wille auf eine »sinnstiftende Inbesitznahme des Planeten Erde« ausgeht. Mir scheint, dem politischen Willen liegt vielfach eine »terrestrische Komponente« zugrunde, die manche Masochisten dann sogar als Werteimperialismus wiederum gegen den Strich lesen.
Ich mache mich nicht darüber lustig, im Gegenteil: ich sehe das als abendländische Macke, die auf mich übergegangen ist, wogegen ich mich aber wehre, —dieser Wille der ein Menschheit-Sein impliziert. Darunter machen es ja viele nicht. Ich nenne sie die »Universalisten«, da sie augenscheinlich mehr auf ein Seins-Verhältnis als auf internationale Rechtssysteme wert legen. —Um Hitler zu paraphrasieren: eines Tages wird diese Erde »restlos uns gehören«. Worauf Keynes antworten würde: Ja, aber langfristig sind wir alle tot!
Naja, ob Herr H. satisfaktionsfähig ist? Ich zweifle daran.
Nach dem Ende des Kalten Krieges glaubte man, dass der Niedergang des Kommunismus ein Sieg der westlichen Werte gewesen war. Dabei scheiterte man schon an einer halbwegs verbindlichen Definition von »Freiheit«. Leute wie Bush jr und Joschka Fischer waren bzw. sind beides Universalisten. Ihre Politik unterschied sich nur in ihrem missionarischen Eifer. Bush wollte einen Demokratiepflock im Irak einschlagen und glaubte ernsthaft, dass die Iraker das auch wollten. Fischer umarmte »nur« Osteuropa. Kulturelle Unterschiede wurden weggedacht; es gibt sie ja (angeblich) gar nicht. Universalisten haben immer und überall die Moral für sich. Sie erinnern dabei an spanische Missionare des 16. Jahrhunderts. Statt der Kirche beizutreten wird jetzt verlangt, Coca Cola und die Homo-Ehe anzuerkennen. Der Unterschied zu damals ist, dass die Spanier waffentechnisch vollkommen überlegen waren und damit jeglichen Widerstand gewaltsam unterdrückten. Das geht heute nicht.
»Es gibt keine kulturellen Unterschiede...«, —ganz wichtig. Jede Differenz, die eine Basis für den politischen Widerstand bieten könnte, leugnen, überspielen, weg lächeln, etc.
Es passt die allgemeine Tendenz der Dekulturalisierung (Olivier Roy), welche der Materialismus (die »Maschine«) einfordert, ja so verdammt gut zu diesem moralischen Planierraupen-Feldzug. Beschleunige den Zerfall im Inneren, und Du wirst den Krieg ohne Blutvergießen gewinnen, sagt der chinesische Meister.
Aber was, wenn das Innere schon der ganze Weltkreis ist?!
Dann hat man es mit einem Idioten zu tun, würde selbiger Meister antworten.
Ich könnte mich stundenlang darüber echauffieren, die Wände vollschreiben aus reiner Hysterie.
P.S.: Eine verbindliche Definition der Freiheit?! Ein großes Thema. Vor drei Tagen ist mir eine sehr gute Definition eingefallen. Sie ist zwar ohne Kontext etwas kryptisch, könnte u.U. aber trotzdem »satisfaktionsfähig sein«.
—Die Emotion des Schauspielers prägt die Utopie der Freiheit im Westen.—
Und noch ein LINK, der wunderbar zu diesem Thread passt, und ein Sprungbrett zum Weitersurfen abgeben kann:
http://www.nzz.ch/feuilleton/glauben-leugnen-hoffen‑1.18694422
Es geht um die immanenten Grenzen der Demokratie.
Sehr schön.
Und dann das hier, als Allegorie vielleicht (nur bis 19.02.2016): Zeit der Kannibalen (86 Minuten; keine einzige langweilige dabei)