Groß in Erscheinung getreten ist Hans-Jochen Vogel im Vergleich zu den damals »großen« Sozialdemokraten Brandt, Bahr oder Schmidt eher selten. Selbst als er Bundesjustizminister im »Deutschen Herbst« war. Nach Schmidts erzwungener Demission 1983 ließ er sich überreden, als Kanzlerkandidat zur Verfügung zu stehen. Selbst aus damaliger Sicht, als die Medien noch nicht derart hyperventilierten, erschien dies kurios. Ein Menschenfischer war Vogel maximal auf der kommunalen Ebene, weil er von den Problemen vor Ort etwas verstand. Im Bund zählte das damals schon nicht. Sein Image als Ordnungsfetischist, der Vorgänge in Klarsichthüllen zusammenfasste, war exakt das Gegenteil dessen, was der Macher Helmut Schmidt verkörperte. Vogel wirkte als Kanzlerkandidat steif. Zudem war die Partei zerstritten, der Schmidt-Kurs in der Nachrüstungsdebatte wurde beerdigt, aber der Kandidat konnte mit dem Thema wenig anfangen. Heute bin ich überzeugter denn je, dass Hans-Jochen Vogel ein sehr guter Kanzler geworden wäre, aber als Kandidat war er einfach überfordert.
Vogel hat mehrmals in seinem politischen Leben Ämter und Funktionen übernommen weil seine Partei, die SPD, ihn darum gebeten hatte. Fast immer hat man ihm das angemerkt. Der Bayer in Berlin. Das war nicht Vogel. Er war dünnhäutig, wenn die politische Sachebene verlassen wurde; im heutigen durchironisierten Politikbetrieb hätte er – leider – keine Chance mehr. Sein Auftritt bei ZAK aus den 1990ern ist legendär; sein Befund damals war nicht ganz falsch. Gut war Vogel, wenn er Leidenschaft mit Sachkenntnis kombinieren konnte. Dabei war er immer pragmatisch und konsensorientiert; Ideologie war ihm verhasst. Die hatte er als junger Mann bei den Nazis kennengelernt und ihr, so Vogel später, nicht genügend widerstanden. Hieraus speiste sich seine Motivation für die Politik.
Heute wird Hans-Jochen Vogel 90 Jahre alt. Er lebt seit einigen Jahren mit seiner Frau in einem Seniorenstift. Das Gespräch, das er vor einigen Jahren BR2 gab, ist absolut hörenswert. Ich habe nicht immer mit ihm übereingestimmt, aber ich habe ihn immer respektiert. Es fallen einem vielleicht ein Dutzend anderer Politiker ein, die ein ähnliches Format hatten wie er.
Bei Politikern wie »Jockel« Vogel merkt man erst spät, dass sie etwas richtig machen. Als junger Mensch misstraut man (ich) solchen Gestalten. Erinnert einen wohl zu sehr an die Schulerlebnisse, die penetranten Paucker.
Ich hab mit dem Älter-Werden gemerkt, dass man vergleichbare Persönlichkeiten später besser würdigen kann. Und noch später, wie wichtig die selbständigen ideologiefreien Köpfe in der Parteienlandschaft sind.
Als Vergleich fällt mir spontan Ilse Aigner aus Bayern ein, die ich sehr schätze. Ihre Karriere wird ähnlich verlaufen wie die von Vogel. Es ist wohl wirklich eine Typ- und Charakterfrage, fast schon im Sinne von Nietzsche, ob ein Mensch »Überzeugendes«, d.h. gleichermaßen ihn und im Anschluss erfolgreich andere Überzeugendes, für etwas »Wahres« hält. Ich glaube, die Leidenschaft, das Eine für das Andere zu halten, kann ein Volk in der Theologie und in der Politik in die Hölle führen. In Deutschland von langer Hand erprobt.
(Und da meinte dieses Gelichter doch glatt, nach Hitler wäre man aus dem Schneider. Nach Hitler, gestattet mir den paradoxen Vergleich, ist sozialpsychologisch gar nicht mal so viel günstiger wie »nach Luther«. Es ist die schiere Verführbarkeit, die sich nicht ändert.)
Ihre Bemerkungen sind wie immer sehr erfrischend. Ja, es geht mir auch so: Ich habe auch erst später gemerkt, was man an Vogel »hatte«. Und auf Ilse Aigner wäre ich nie gekommen.
aber als Kandidat war er einfach überfordert
Ich bezweifle, dass in der Situation damals irgendein Kandidat eine Chance gehabt hätte. Vogels Aufgabe war es, die SPD wieder zu »sortieren«, die Gräben der Schmidt-Zeit zu schließen und die Übergabe der Führung an die »Enkel« vorzubereiten. Ich glaube nicht, dass er das schlecht gemacht hat.
Es ist schon interessant: In wenigen Monaten hatte die SPD sich in der Nachrüstungsdebatte um 180 Grad gedreht (und Schmidt nachträglich desavouiert). Und trotzdem wurde der von allen ungeliebte und verspottete Kohl mit 48,8% gewählt. Was immer unter den Tisch gefallen ist: Vogel hatte im Vergleich zu 1980 nur rund 5%-Punkte verloren. Was er nicht aufhalten konnte, war der Aufstieg der Grünen. Die hatte Schmidt vollkommen unterschätzt und geglaubt, sie ignorieren zu können.
Man kann streiten, ob die Übergabe an die »Enkel« gelungen ist bzw. ob es überhaupt möglich war, sie zu organisieren. Der größte Schock für die SPD war sicherlich, dass bei den Wahlen 1990 Lafontaine derart abgestraft wurde.