Er hieß András mit Vornamen...
Spontan greife ich zum Imperfekt, doch bestimmt trägt er den Namen immer noch mit sich herum, von einem Ableben ist mir nichts zu Ohren gekommen. Im Lauf der Jahre verschwand er aus meinem Blickfeld, machte sich rar, verbrachte ein Forschungssemester oder zwei in den USA, übersiedelte in ein anderes Land, ließ immer weniger von sich hören, zuletzt, seit einer Reihe von Jahren, gar nichts mehr. Er hieß András, bestand auf dem Akzent über dem zweiten A und konnte bissig werden, wenn ihn jemand Andreas nannte. Die paar Artikel aus seiner Feder, die mir zu Gesicht gekommen sind, zeichnete er, wenn überhaupt, dann mit »Anders Schwarz«, immer am Ende des Textes. Auch auf dem Gedichtband, den er in Italien veröffentlichte, stand dieser für Italiener schwer auszusprechende Name. Anders, wie der Mann ohne Eigenschaften. Diese Parallele ist mir erst viele Jahre später bewußt geworden. Musil nennt seinen Helden ja nie beim Nachnamen, und die Figuren des Romans tun es auch nicht.
Erst kürzlich, beim Nachdenken über das Schicksal des Multitalents, ist mir eingefallen, was ich vergessen oder verdrängt hatte, nämlich daß wir eine Art Zeitschrift herausgaben, ein paar hektographierte, mit Büroklammern zusammengeheftete Blätter, meist unter dem Titel Die Parallelaktion, manchmal auch nur Die Aktion, oder ganz ohne Titel. Eine von András’ Theorien besagte, daß Musil seine Parallelaktion als Gegenunternehmen zur Aktion verstand, der von Franz Pfemfert herausgegebenen Zeitschrift, die in den Jahren, als sich Musil an sein Großprojekt machte, kommunistische Propaganda trieb. András, im vorletzten Kriegsjahr geboren, meinte, es gehe heutzutage darum, Aktion und Parallelaktion miteinander zu verschmelzen, also individuelle Freiheit und Gemeinschaftssinn. Er war 1956 mit seinem Vater, einem Klarinettisten, der später ins Mozarteum-Orchester aufgenommen wurde, aus Ungarn nach Österreich gekommen und hatte sich 1968, als er sein Studium begann, für den Prager Frühling begeistert. Unsere Zeitschrift vertrieben wir an der Universität, nur András ging in die Cafés und Bierkeller und verkaufte »das Organ«, wie er es nannte, zu wechselnden Preisen und mit beträchtlichem Erfolg. Manchmal nahm er Michael mit oder Franz, seinen Schüler – als solchen sehe ich ihn vor mir, obwohl er älter war und auf den ersten Blick mehr Eindruck machte als sein Mentor. Franz war der einzige von uns, der zu einer gewissen, wenn auch problematischen und kurzfristigen, Berühmtheit gelangen sollte.
Jetzt, beim Nachsinnen, will mir scheinen, daß der bescheidene Erfolg der Parallelaktion durch die Illustrationen des Originalgenies bedingt war: Michael, den András, der jeweiligen Situation angemessen, mal Michel in deutscher, dann wieder Michelangelo in italienischer Aussprache nannte. Einige seiner Zeichnungen waren tatsächlich Illustrationen zu Texten, und zwar in der Manier von George Grosz, dessen Zeit damals, mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des zweiten Weltkriegs, längst vorbei war; oft aber ließ unser Michel seine Phantasie schweifen und zeichnete irgend etwas, Blumen, reine Formen, Gesichter. Ich erinnere mich an die im Gekritzel doch offensichtliche Darstellung einer Vulva, die er beim Treffen in der Steingasse damit rechtfertigte, daß er das Thema Courbets mit den Augen Picassos zu sehen versucht habe. András antwortet schlicht, es bedürfe keiner Rechtfertigungen. Er war der Ansicht, unser Organ solle den unbewußten Trieben und Wünschen aller Beteiligten Ausdruck geben. Und das geschah auch, mehr oder minder deutlich, in dieser abstrakten Prosa. Abstrakt wirken die Beiträge in meiner Erinnerung; leider kann ich die Aussage nicht überprüfen, denn die Hefte, die ich lange aufbewahrte, ohne sie je wieder anzusehen, sind bei einem meiner vielen Umzüge zurückgeblieben. Wahrscheinlich liegen sie in einer Schachtel im Keller eines Gemeindebaus auf einer Erhebung mitten in Wien, vor Überschwemmungen gefeit wie meine alten Manuskripte, von denen wenigstens eine (die »Hundegeschichte«) in der Parallelaktion veröffentlicht worden ist.
Die Treffen unseres Kreises fanden an wechselnden Orten statt, nur ein paar Mal, wenn der Druck der Zeitschrift bevorstand, in der Steingasse. Dort hatte die Gruppe revolutionärer Marxisten, die uns ihren Hektographen zur Verfügung stellte, in einer alten Werkstatt ihr Quartier. Meistens trafen wir uns in einem kleinen Hörsaal des Germanistik-Instituts, denn schließlich war der Lesekreis aus einem Seminar hervorgegangen, das ein Professor über den Mann ohne Eigenschaften hielt. In diesem Seminar hatte András, als er sein Referat zum Thema »Der Mann ohne Eigenschaften als Utopie für das 20. Jahrhundert« halten sollte, zwanzig Minuten geschwiegen bzw. Stille gefordert, als ihn der Professor aufforderte, doch endlich zu beginnen. »Ich denke nach«, lautete seine lakonische Erklärung. Der Professor respektierte das Schweigen und hielt, nachdem zwanzig Minuten verstrichen waren, einen spontanen, nahezu druckreifen Vortrag über die Vorgeschichte des Schweigens von Meister Eckhart über Novalis bis Hugo von Hofmannsthal. Kurz vor dem Ende des Seminars erhob sich András und sagte, Der Mann ohne Eigenschaften sei ein redseliger Roman; man müsse das Schweigen in seinen Gärten sprießen lassen. Er verließ den Hörsaal, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Im Foyer der literaturwissenschaftlichen Fakultät lehnte er an einer Säule und fragte einige, die aus dem Seminar kamen, darunter mich, ob wir Interesse an einem alternativen Lesekreis hätten, einer Parallelaktion sozusagen. Das erste Treffen, nur fünf oder sechs Leute – später wuchs unser Kreis auf mehr als zwanzig Personen an – fand in einem Schloß in Anif statt, wo sein Vater eine Wohnung mietete.
In diese Räumlichkeiten lud uns András nur, wenn der Vater, ein Vertrauter Karajans, wie mir erst viel später zu Ohren kam, auf Tournee war. Wir nutzten die Freiheit nicht, wie der Leser jetzt vielleicht denken wird, um Partys zu feiern; nein, die Treffen fanden um 10 Uhr vormittags statt, cum tempore, genau wie das Seminar des Musil-Professors. Es gab Kaffee und Kekse, und wir saßen im gutbürgerlichen Aufenthaltszimmer um einen runden Tisch mit geschwungenen Beinen, von dem wir das gehäkelte Tischtuch abzogen, lungerten auf dem Beiedermeiersofa, auf dem Perserteppich, im Fauteuil oder im Schaukelstuhl, der sich zwischen wuchernden Topfpflanzen verbarg. Der Hund fläzte sich unter den schwarzen Flügel und regte sich nicht, schaute nur hin und wieder, die Schnauze auf dem Parkettboden, aus traurigen Augen seine Herrin oder einen der Parallelakteure an. Nur wenn die Putzfrau hereinkam, wurde er unruhig und begann zu bellen. »Immer schimpfen«, pflegte die grobknochige Frau, eine Jugoslawin, die in der Küche jeden einzelnen Topf und jeden Teekessel blankpolierte, zu sagen. Ihr Kommentar erregte den Hund nur noch mehr, so daß sich die stets schwarz gekleidete Frau unverrichteter Dinge in den Flur zurückzog.
Diese »Sondersitzungen«, wie András sie nannte – höchstens vier oder fünf im Zeitraum von etwa zwei Jahren – dauerten bis in den Nachmittag, manchmal bis gegen Abend, und danach gingen einige von uns zusammen weg, meistens nur András, Franz, Michelangelo, die Hundebesitzerin und ich. Wir fuhren im Taxi, das András bezahlte, in die Innenstadt, und ließen uns am Festspielhaus absetzen, als müßten wir zur Generalprobe. Unser erklärter Vorwand war, die Aktion zu verkaufen. Einmal gab es Schwierigkeiten, weil ein Taxilenker den Hund nicht aufnehmen wollte, ein anderes Mal wegen Franz, der laut wurde und den Lenker beschimpfte. Was den Hund angeht, so war es erstaunlich, wie fügsam dieses große Tier, eine Mischung aus Schäfer und Huskie, in den Wagen sprang und sich katzenartig im Hohlraum vor dem Beifahrersitz einrollte. Zwischen meinen Beinen, denn Judith, die Herrin, saß hinten im Fond bei den Männern, wo sie ihre Späße trieben, zum Beispiel, indem sie das Mädchen dazu brachten, seinen Pullover zu heben und einem Verkehrspolizisten die nackten Brüste zu zeigen. Daß Franz damals an seinem ersten Roman schrieb, wußten wir anderen nicht. András und sein Schüler verbrachten viel Zeit zusammen; ich hielt und halte es immer noch für möglich, daß András die Geschichten aufschrieb, die ihm Franz erzählte. Zumindest die des ersten Romans mit dem leise ironischen Titel Schöne Tage, der eigentlich nur von András stammen konnte. Schattseite, das hat sich dann der Verlag einfallen lassen. Oder der Autor selbst.
Worüber redeten wir in der Musikerwohnung? Anfangs über dieselben Themen wie im Hörsaal oder in der Steingasse bei den revolutionären Marxisten. Romankapitel, einzelne Figuren, Diotima (Hatte sie wirklich etwas mit Hölderlin gemein? Worin bestand die wahre Empfindsamkeit?), Stumm von Bordwehr (Ein Naivling? Ein durchtriebener Reaktionär? Oder doch einer, den Ulrich, wenn er nur wollte, erziehen könnte wie den Hans Sepp und seine nationalmystische Bande?), Arnheim (Gleichzusetzen mit Thomas Mann? Typisch deutsch? Ein Spion?), gesellschaftspolitische Fragen. Revolution oder Reform, wofür trat Ulrich ein? Mußte man sich entscheiden, oder konnte man diese Fragen auch in der Schwebe lassen, sie von den Umständen entscheiden lassen? Wie wichtig war bei alldem der subjektive Faktor? Gab es ein Ich oder nur Platzhalter im funktionalen – dysfunktionalen? – System? Warum hatte Ulrich seine Schwester vergessen, wieso tauchte sie erst so spät auf? War die Schwester vielleicht eine Wiedergängerin der ebenfalls vergessenen Gattin des Majors? Was hatte es mit dieser Vergeßlichkeit auf sich? Waren Musil Fehler unterlaufen? Oder waren die Figuren allesamt Marionetten einer Maschinerie namens Kakanien oder Roman, sogar Ulrich, der glaubte, darüberzustehen? Waren die Planungen dieser Politiker, Wirtschaftsbosse, Beamten, Soldaten fort- oder doch eher rückschrittlich? War der Friedenskaiser nicht der verlogene Kriegsherr, seine Parallelaktion nur dazu da, von den tatsächlichen, längst im Gange befindlichen Vorbereitungen abzulenken, bei denen er sich Arnheims als eines ökonomischen Helfershelfers bediente, der vor allem finanzielle Interessen hatte? Und welche Absichten verfolgte eigentlich Ulrich? Verfolgte er überhaupt Absichten? War er nicht einfach nur ein notorischer Außenseiter? Ein Nörgler? Ein Spieler? Bloßer Beobachter, Schriftstellertyp? Hatte Musil alles unter Kontrolle, oder wurde er von seinem Roman kontrolliert? Bei all diesen Diskussionen, denen er Stichworte lieferte, hielt sich András eher zurück, wenn auch nicht so radikal wie im Seminar des Professors. Im Unterschied zu den anderen Parallelakteuren schien ihn vor allem die Mystik zu faszinieren, von der erst im zweiten Buch des Romans die Rede ist, und besonders die Frage, ob dieses Lustwandeln und Herumliegen im abgeschiedenen Garten ein alternatives Lebensprogramm darstellen könne und wie sie in Verbindung mit dem großen Ganzen, mit der Gesellschaft, mit der Politik zu bringen sei. Besonders auf diese letzte Frage, die »Lebbarkeit« – das Wort züngelt aus meinem Gedächtnis – einer Utopie, schien András eine Antwort schmerzlich zu vermissen. Nicht zuletzt durch die Wiederlektüre von Musils Werken ist mir bewußt, daß das Gedächtnis ein verändlich‘ Ding ist. Schon möglich, daß ich hier nur meine eigenen, damals stummen Gedanken wiedergebe, denn ich saß die meiste Zeit wortlos dabei, ganz Auge und Ohr und Gedanke. Ohr für die Ausführungen der Parallelakteure, Auge für Judith und, so seltsam es klingen mag, für diesen schönen, melancholischen Hund unter dem schwarzen Klavier mit der goldenen Aufschrift »Steinway«. Gedanke für . . . den Zusammenhang.
András sprach manchmal für, manchmal gegen die Mystik. Gegen und für das zurückgezogene Dasein in Symbiose mit einer vertrauten Person, »eher vom anderen Geschlecht« (er sagte das ironisch, mit einem Seitenblick auf mich, wie mir schien), in einem schönen Garten, den man vom verhaßten Vater geerbt hat. »So wie hier«, sagte er und deutete zum großen, dreiflügeligen Fenster, vor dem sich tatsächlich ein vorne gepfleger, weiter hinten dann wild wuchernder Garten erstreckte, der erst am Waldrand zu enden schien. »Aber man muß aus sich herausgehen, die Fesseln hinter sich lassen, auch wenn es schöne Schnörkel sind. Ja, gerade dann.« Franz nickte zustimmend, seine Fesseln waren wohl nicht so schön gewesen. Im Verlauf des Nachmittags bildeten sich Grüppchen, der eine oder andere verabschiedete sich, irgendwann setzte sich András ans Klavier und begann zu spielen. Niemand schien seinem Spiel Beachtung zu schenken, und er selbst wandte öfters den Kopf herum, machte zwischendurch eine Bemerkung, stand auf, um irgendeinen Handgriff zu tun. Die Tonfolgen schweiften zwischen den Körpern, ein Liniengewirr, ein geheimes System ähnlich den Lichtstreifen der Fahrzeuge auf jenen Postkarten, die Nachtansichten von Großstädten zeigen. Ich empfand dieses Fluten und Schweben wie eine stetige, leichter und stärker werdende Berührung, eine Zärtlichkeit an uns allen, die uns András mit leichter Hand und geschmeidigen Fingern zukommen ließ. Nur einmal fragte ich ihn, was er da spiele, und seine Antwort war, über den Flügel hinweg gesprochen: »Woher soll ich das wissen?« Später holte er dann noch ein anderes Instrument, aus einem anderen Zimmer – keine Klarinette, nein, sondern ein Tenorsaxophon, und die Töne, die er ihm entlockte, oder genauer (mit seinen eigenen Worten): als deren »Operateur« er fungierte, diese Töne waren Verwandlungen dessen, was der Steinway hergegeben hatte, weniger komplex, dafür konzentrierter, intensiver, bis zu einem Punkt, an dem das Wohlbehagen des Hörens, das die Brust und den ganzen Körper bis hin zu den Gliedmaßen erfüllte, in Schmerz umzuschlagen und den Brustkorb zu sprengen drohte. Da hörte er dann zu spielen auf . . . Stille, die Gespräche verstummten. Und kamen auch nach der entstanden Pause nicht mehr in Fahrt. Es wurde Zeit für den Aufbruch.
Ich habe ihn gefragt, wieviele Instrumente er denn beherrsche. Dumme Frage. Die Antwort, lächelnd und widerwillig: Keines. Die Instrumente beherrschten ihn, wenn er mit dem Spiel beginne, falle es ihm schwer, sich zu entziehen. Egal welches Instrument? »Ich bin das Instrument, nicht sie.« Mit dem Sport, fügte er hinzu, sei es nicht anders. »Auch Tennis ist eine Kunst, die dich wählt.« Solche Sätze, Aphorismen, gab er manchmal von sich. Oder Kalauer. Kalauer, Aphorismen. Tennis spielte er übrigens wie . . . ja, wie das Saxophon, er holte immer einen Ton hervor, einen Schlag, den man nicht erwartete, stürmte ans Netz, obwohl er dem Gegner damit freien Raum schenkte, zog sich zurück, wenn er den Punkt machen konnte, spielte lange Zeit auf der Grundlinie wie in Trance, wich sofort wieder zurück, wenn er einmal zwei Schritte nach vorne getan hatte, ahnte den Flug des Balls voraus, setzte plötzlich einen unwahrscheinlichen Topspin, der hinter dem Rücken des Gegners herabfiel wie ein Geschoß aus heiterem Himmel. Rein zufällig, auf einem ausgedehnten Spaziergang mit Judiths Hund, war ich an einer Sportanlage in Morzg vorbeigekommen, wo er gerade mit einem mir unbekannten Mann spielte; anders als durch Zufall hätte ich von seiner sportlichen Aktivität vermutlich nie Kenntnis bekommen. Ich war überrascht, wie schnell die beiden spielten, mit welcher Wendigkeit und Kraft, vor allem András, der es, stellte ich mir vor, durch hartes Training zum Profi hätte bringen können. Aber Training war nicht seine Sache, auch hätte er dafür gar nicht genügend Zeit gehabt. Er trennte die Bereiche, die verschiedenen Ebenen, auf denen sich sein Leben abspielte, als hätte er Angst, die Personen, die sie bevölkerten, könnten einander in die Quere kommen, ein Chaos anzetteln und ihn an der Ausübung seiner Freiheit hindern. Es war kein Doppelleben im herkömmlichen Sinn; auch »Vielfachleben« würde ich es nicht nennen, obwohl wir damit der Wirklichkeit etwas näher kommen. Es war einfach so, daß sich die Dinge, also die Möglichkeiten, wie von selbst ergaben, entwickelten und vervielfachten, ohne sein Zutun, und daß es ihm schwerfiel, nein zu sagen. Nur dann, wenn etwas – eine folgenschwere Entscheidung, ein ernsthaft zu planender Schritt – gefordert war, weigerte er sich oder verschwand für eine Weile von der Bildfläche.
Sein Tennispartner war übrigens Arzt im Landeskrankenhaus; bei einem kurzen Aufenthalt wegen einer Pilzvergiftung erkannte ich ihn wieder. András selbst erzählte mir später, er gebe Tennisstunden zur Aufbesserung seines Gehalts (es war keineswegs so, daß er aus allem ein Geheimnis machte). Zweifellos war das, was er nebenbei verdiente, ein Vielfaches von dem Betrag, den ihm das Mathematik-Institut für seine Mitarbeit an einem Forschungsprojekt zahlte. »Meine besten Schüler sind Hausfrauen«, sagte er mit einem Gran Herablassung in der Stimme. Hier berührten sich wohl die Bereiche, denn eine andere Seite seiner Existenz war das Schürzenjägertum, das er mit Maßen betrieb, nicht so hysterisch wie sein Vorbild, der Mann ohne Eigenschaften. Die Frauen kamen zu ihm wie die Töne, wie die Bälle und die Ideen, die Erfindungen, die Schiffe. Auf dem Tennisplatz hatte ich seine Tätowierung gesehen; an der Uni und bei den Treffen der Parallelakteure trug er stets langärmelige, weiße, gebügelte Hemden, im Gegensatz zu den anderen Akteuren, die im Hippie-Look daherkamen und Pullis oder T‑Shirts trugen. An den muskulösen Oberarmen prangte rechts ein feuerspeiender Drachen und links ein Frauengesicht mit langem, welligem Haar. Einmal verschränkte er die Arme, und es sah aus, als bliese der Drachen jener unbekannten Frau Feuer ins Gesicht, und über der Stirn der Frau glitzerten Sterne, nicht ein einzelner wie auf den Che-Guevara-Porträts, sondern unendlich viele. Anzunehmen – nein: sicher, daß er sich die Tätowierung in seiner Zeit als Schiffsjunge oder Seemann hatte machen lassen. Ein Relikt sozusagen, eine Reliquie, die hereinwirkte in die Gegenwart, als Talisman oder als Fluch. Auch die Zeiten waren getrennt, nur selten berührten sie einander.
© Leopold Federmair
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