Nein, der ach­te Mai ist für mich kein Tag der Freu­de

Je­der, der die Re­geln der Lo­gik be­her­zigt, wird vor dem Um­kehr­schluss zu­rück­schrecken; er wird er­ken­nen, wenn er es nicht oh­ne­hin weiß, dass das »ter­ti­um non da­tur« hier gar nicht gül­tig ist, da sich an die­sem Tag, wie an je­dem an­de­ren, ne­ben Trau­er und Freu­de auch an­de­re Emo­tio­nen ein­stel­len (oder nicht ein­stel­len) kön­nen. Und er wird be­mer­ken, dass die­se (feh­len­den) Emo­tio­nen nicht not­wen­di­ger Wei­se mit der po­li­ti­schen oder zeit­ge­schicht­li­chen Deu­tung und Be­wer­tung der Er­eig­nis­se kor­re­lie­ren müs­sen. – Nach ei­ner kur­zen Pha­se des Nach­den­kens wird er sich ver­ge­gen­wär­ti­gen, wel­che Funk­tio­nen und wel­che Aus­wir­kun­gen die po­li­ti­sche Loya­li­sie­rung durch Emo­tio­nen hat.

Die dem Bun­des­prä­si­dent­schafts­kan­di­da­ten Ho­fer (jo­vi­al) ge­stell­te Fra­ge – »Apro­pos Freu­de, Herr Ho­fer, der 8. Mai wä­re das für Sie ein Tag der Freu­de...?»1 – hät­te an­ders (und da­mit er­gie­bi­ger) for­mu­liert wer­den müs­sen, et­wa: »Ge­setzt der Fall, Sie hiel­ten ei­ne Re­de am ach­ten Mai, wie wür­den Sie die­se in­halt­lich ge­stal­ten?«. Denn: Nicht die Emo­tio­nen des näch­sten Bun­des­prä­si­den­ten sind das, was den Bür­ger in­ter­es­siert, son­dern viel­mehr das, was er zu sa­gen hat (oder ha­ben könn­te).

Die Fra­ge aber wur­de so ge­stellt, dass die Ein­ord­nun­gen und Ant­wort­mög­lich­kei­ten, der Rah­men al­so, be­reits ge­setzt und vor­weg­ge­nom­men wa­ren; we­der dem Pu­bli­kum, noch dem Zu­se­her, noch dem Adres­sa­ten soll­te Of­fen­heit al­so Kom­ple­xi­tät zu­ge­mu­tet wer­den, so als ob das, was Ho­fer per­sön­lich den­ke oder füh­le, not­wen­dig mit dem über­ein­stim­men muss, was er als Bun­des­prä­si­dent sa­gen könn­te und so, als ob das Füh­len und Den­ken stets brav und den Scha­blo­nen ent­spre­chend kor­re­lier­te (et­wa: der, der sich freut steht auf der Sei­te der Gu­ten, der der das nicht tut, auf der an­de­ren): Es geht um Über­füh­rung, um De­mas­kie­rung. Hans Rauscher schrieb da­zu ei­ne nichts­sa­gen­de Ko­lum­ne, die auch noch Le­se­emp­feh­lun­gen er­hielt, ob­wohl oder weil sie sich an das Vor­ge­ge­be­ne hält; ihr ein­zi­ger Zweck ist die po­li­ti­sche Mo­bi­li­sie­rung und Stim­mungs­ma­che (in der Ko­lum­ne steht nichts, was sich nicht ein durch­schnitt­li­cher Zu­se­her hät­te den­ken kön­nen und wohl auch dach­te). – Hi­sto­ri­sche Da­ten wer­den nicht zum An­stoß in­tel­lek­tu­el­ler Ent­wür­fe, Aus­ein­an­der­set­zun­gen oder Bei­trä­ge, son­dern ver­kom­men zur emo­tio­na­li­sier­ten Ge­sin­nungs­re­kru­tie­rung: Ein wahr­haft gu­tes Ge­fühl mit den rich­ti­gen Emo­tio­nen in ei­ner ein­fa­chen, schö­nen Welt auf der rich­ti­gen Sei­te zu ste­hen! Man er­kennt, wie ei­ne sol­che Her­an­ge­hens­wei­se Dif­fe­ren­zen ni­vel­liert, sie ist ein Mu­ster des po­pu­li­sti­schen Dis­kur­ses.

Das Re­fe­ren­zie­ren auf be­stimm­te (und ver­bind­li­che) Emo­tio­nen, legt auch of­fen wie stan­dar­di­siert und scha­blo­ni­siert un­se­re Er­in­ne­rungs­kul­tur ist: Ge­denk­ta­ge sind kei­ne Zwän­ge, son­dern Ge­le­gen­hei­ten, sie er­mög­li­chen uns et­was, be­deu­ten Frei­heit, deu­ten auf et­was Wich­ti­ges; es er­scheint bei nä­he­rem Hin­se­hen ab­surd die­sen Tag über­haupt emo­tio­nal fär­ben zu wol­len, zu­min­dest für je­man­den wie mich, der vie­le Jah­re spä­ter ge­bo­ren ist: Per­sön­lich ha­be ich die­se Zeit nicht er­lebt, aus dem per­sön­li­chen Er­le­ben kön­nen sich da­her kei­ne Emo­tio­nen ein­stel­len, das ist nur mög­lich und pas­siert auch, wenn ich mich mit den Er­eig­nis­sen in nicht ab­strak­ter Form be­schäf­ti­ge, et­wa über kon­kre­te Schick­sa­le le­se, aber nicht des­we­gen, weil man an ei­nem be­stimm­ten Tag ei­nes be­stimm­ten Er­eig­nis­ses ge­denkt (oder die­se tun könn­te). Ich weiß nicht, wie es ist, wenn man im Krieg ist, in ei­nem La­ger ein­ge­pfercht wird oder in ei­ner Dik­ta­tur lebt, ich kann nur ver­su­chen mir das vor­zu­stel­len. Viel wich­ti­ger aber scheint mir sich mit den Er­eig­nis­sen zu be­schäf­ti­gen, Schlüs­se zu zie­hen und Zu­sam­men­hän­ge zu ver­ste­hen, als sie zu emo­tio­na­li­sie­ren und zu in­stru­men­ta­li­sie­ren. – Dass ich mich heu­te freue, über et­was das ich nicht er­lebt, zu dem ich nichts bei­getra­gen ha­be, er­scheint mir über­dies un­red­lich, zu­al­ler­erst aber kann ich es schlicht und er­grei­fend nicht; es ist – als kon­kre­tes Er­eig­nis – in mei­ner Ge­gen­wart nicht prä­sent (und war es nie). Dies al­les hat aber kei­ne zwin­gen­de Ver­bin­dung da­mit, was ich über die­se Er­eig­nis­se den­ke: Selbst­ver­ständ­lich war es gut, dass der Krieg ein En­de hat­te (was aber noch kein En­de des Leids be­deu­te­te). Al­ler­dings: Wie die Men­schen das da­mals er­lebt ha­ben, ist da­mit nicht ge­sagt, dies hie­ße den Rück­blick des Spät­ge­bo­re­nen ana­chro­ni­stisch mit dem Er­le­ben der Men­schen da­mals in eins zu set­zen: Ich ver­mu­te dass vie­le von zwie­späl­ti­gen Ge­füh­len ge­zeich­net wa­ren, weil sie, trotz des Glücks über das Schwei­gen der Waf­fen, der da­mit ein­her­ge­hen­de Er­leich­te­rung, noch im­mer vor den Trüm­mern ih­rer Exi­stenz stan­den, ih­re An­ge­hö­ri­gen ver­misst, tot oder er­mor­det wuss­ten, in Ge­fan­gen­schaft ge­rie­ten und in den mei­sten Fäl­len ein nicht um vie­les ge­wis­se­res Schick­sal vor Au­gen hat­ten; und man­chen fehl­te wohl auch die Kraft da­zu. Wie auch im­mer es ge­we­sen sein mag: Der ach­te Mai ist für mich emo­tio­nal ein Tag wie je­der an­de­re, an man­chen die­ser Ta­ge, aber eben nicht nur an die­sen, den­ke ich über die da­ma­li­ge Zeit nach, in­ner­halb mei­ner Rhyth­mik und mei­ner Not­wen­dig­kei­ten.

Was ich heu­te wahr­neh­me, sind die Fol­gen des ach­ten Mais, auch sei­ne Fol­gen. Ich emp­fin­de Dank­bar­keit, dass es uns heu­te bes­ser geht, Dank­bar­keit, dass wir heu­te Frie­den ha­ben, dass wir ge­lernt ha­ben, viel­leicht ge­lernt ha­ben; ja: dank­bar kön­nen wir sein, wem auch im­mer ge­gen­über. – Die­se Dank­bar­keit, das blie­be noch fest­zu­stel­len, wä­re al­ler­dings nicht auf den ach­ten Mai zu be­schrän­ken.

Viel­leicht noch die­se knap­pe, nach­ge­tra­ge­ne An­mer­kung: Wenn Hans Rauscher in sei­ner Ko­lum­ne fest­hält, dass der ach­te Mai das »Wie­der­erste­hen ei­nes de­mo­kra­ti­schen Öster­reich und den Be­ginn ei­nes fried­li­chen, frei­en Eu­ro­pa« war, dann geht er non­cha­lant über die Ent­wick­lun­gen in Ost­eu­ro­pa hin­weg und er ver­gisst, dass die Dik­ta­tur in Spa­ni­en bis 1975 währ­te. Und wenn es denn schon um die Wie­der­errich­tung der De­mo­kra­tie in Öster­reich ge­hen soll, dann kann man doch den 27. April als Ge­denk­tag wäh­len.


  1. ab 1:36:51 

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  2. Zwei An­mer­kun­gen.

    Am 2. Ju­ni hat in den deut­schen Ki­nos der Film »Vor der Mor­gen­rö­te« (Re­gie: Ma­ria Schr­a­der) Pre­mie­re. Er er­zählt von den Jah­ren 1936 bis 1942 im Le­ben von Ste­fan Zweig. In ei­ner Sze­ne die am 28.11.1941 spielt sitzt Ste­fan Zweig (gran­di­os ge­spielt von Jo­sef Ha­der) auf dem Bal­kon und blickt in die üp­pi­ge tro­pi­sche Land­schaft. Man sieht, wie er in die­sem Au­gen­blick an an­de­res denkt. Zu sei­nem Ge­gen­über aber noch mehr zu sich selbst sagt er sinn­ge­mäss: Ich kann mich doch nicht freu­en, wenn auf Ber­lin er­folg­rei­che Bom­bar­de­ment ge­mel­det wer­den...

    Zweig ge­rier­te sich als Eu­ro­pä­er, als Kos­mo­po­lit. Er lehn­te die pa­the­ti­schen Stel­lung­nah­men der In­tel­lek­tu­el­len, die fast al­le Exi­lan­ten wa­ren, ab. Wi­der­stands­ge­sten tau­sen­de von Ki­lo­me­n­tern ent­fernt wa­ren für ihn oh­ne Ri­si­ko; er be­zeich­ne­te die­ses Vor­ge­hen als »gel­tungs­süch­tig«. Ob­wohl er als Ju­de sel­ber ge­zwun­gen war, ins Exil zu ge­hen. Er dach­te an das Ber­lin, dass er so oft be­sucht, wo er Freun­de ge­trof­fen hat­te. Die Welt ver­sank in Bar­ba­rei und er war am En­de hilf­los. Das En­de ist be­kannt.

    Die zwei­te An­mer­kung tan­giert die Dis­kus­si­on von die Re­de von Ri­chard von Weiz­säcker am 8. Mai 1985 als Bun­des­prä­si­dent. Er sprach von ei­nem »Tag der Be­frei­ung«, was spe­zi­ell in kon­ser­va­ti­ven Krei­sen mit Grim­men kom­men­tiert wur­de. Was Weiz­säcker da­bei auch zum Aus­druck brach­te: Es be­durf­te der Be­frei­ung von au­ßen, um die Na­zis zu be­sei­ti­gen. Die Pa­zi­fi­sten (u. a. auch Zweig) hat­ten kei­ne Ar­gu­men­te mehr; die Al­ter­na­ti­ve wä­re ge­we­sen, sich den Na­zis zu beu­gen. Und das war eben kei­ne Al­ter­na­ti­ve.

    Weiz­säckers »Tag der Be­frei­ung« schien und scheint mir ei­ne ad­äqua­te­re Aus­ein­an­der­set­zung. In dem »Befreiungs«-Topos steckt na­tür­lich auch ganz gut ver­steckt die Mär der »Stun­de Null« bzw., ge­nau­er, ei­ne Art von Rei­ni­gung, die nun über das deut­sche Volk er­gan­gen ist. Als hät­te man die Deut­schen vom Ge­dan­ken­gut der Na­zis auch gleich mit be­freit. Das war na­tür­lich in kei­nem Fall so.

    In­zwi­schen wer­den sol­che Ge­denk­ta­ge mehr oder we­ni­ger nur noch zu Po­sen. Sie er­star­ren vor ei­nem Pflicht­ge­fühl der Be­trof­fen­heit. Na­tür­lich ist die Fra­ge, ob der 8. Mai ein »Tag der Freu­de« sei, mit ei­nem Hin­ter­ge­dan­ken ver­se­hen: Wer das ne­giert oder auch nur an­zwei­felt, wird so­fort in die Ecke ge­stellt, in der man ihn schon so­wie­so hin­ge­stellt hat. Da­mit ent­wür­digt man das Ge­den­ken, was man ei­gent­lich pfle­gen möch­te.

  3. Ja, Zweig, dan­ke für die Er­in­ne­rung.

    Be­frei­ung ist viel bes­ser (ein Be­griff!). Aber auch er ist pro­ble­ma­tisch, nicht nur hin­sicht­lich der Rei­ni­gung, der Be­griff sug­ge­riert doch auch, dass es sich da nur um ei­ne Art Na­zi-Cli­que ge­han­delt hat, die dem Rest ih­ren Wil­len auf­ge­zwun­gen hat (Kol­la­bo­ra­ti­on und Mit­tä­ter­schaft blei­ben un­an­ge­spro­chen). — Au­ßer­dem: Die Be­frei­ung ganz Ost­eu­ro­pas war ja – ge­lin­de ge­sagt – ei­ne zwei­fel­haf­te.