Ich blickte vom Buch auf, um mir ein poetisches Bild aus den Fleurs du mal vor Augen zu führen (stoisch und ohne zu klagen gehen Mütter durch das Chaos der wimmelnden Städte) als vom Platz her durch das sommerabendliche Fenster ein fernes Stimmensirren zu schwellen begann. Vögel, dachte ich zuerst, Amseln, ein verirrter, verwirrter Schwarm... Dann fiel mir ein, daß es da draußen nur noch Spatzen gab. Und Krähen, die sich im Sommer verzogen. Aber jetzt knackte und knarrte es schon im Luftgefüge. Das Sirren kam näher und verwandelte sich in ein menschlich-weibliches Kreischen. Ich stand auf, schob meine Silhouette in den Fensterrahmen. Der Lindenbaum ruhte windstill in seinem staubigen Grün. Zwischen seinen Wurzeln nisteten die Autos der Anrainer. Eine unglaublich dicke Frau watschelte auf den Kinderspielplatz zu, in einem fort Flüche und Beschimpfungen ausstoßend, die zielsicher auf ein Mädchen am Rand des Sandkastens zuflogen. Diese dicke Frau, jünger, als ich beim ersten Anblick dachte, noch nicht dreißig, stieß mit dem Bauch gegen die niedrige Umzäunung. Das Gitter hielt ihren massigen Körper zurück, während ihr Gekreisch anschwoll und anschwoll. Von dem, was sie schrie, verstand ich nichts außer zwei Wörtern, die sie wie einen Refrain wiederholte, während ein helles Glöckchen an ihrer Handtasche den Rhythmus betonte: »...türkische Fut, du türkische Fut...«
Unterdessen hatte das Kleinkind im Sandkasten, ein Bruder des Mädchens, zu heulen begonnen. Das Mädchen selbst, dunkelhaarig und schmal, sein Körper zeigte kaum Andeutungen weiblicher Formen, wich einen Schritt zurück. Sehr langsam, steif, noch einen Schritt, noch einen Schritt, während ihr kleiner Bruder umso lauter schrie, je hysterischer die Dicke kreischte. Am Zaun rüttelnd spuckte die Frau, ohne ihren Wortschwall zu unterbrechen, mehrmals in die Richtung des Mädchens und traf sie schließlich am Hosenbein ihrer weißen Jeans. Das Mädchen schien den Sinn des Geschehens ebensowenig zu begreifen wie ich, der hoffte, die Erregung der Dicken würde bald abkühlen. Aber sie kühlte nicht ab, sondern steigerte sich in dem Augenblick noch einmal, als ein Mann mit vorne kurzem, hinten langem Haar, weißen Socken und orange-blauer Plastiktasche den Platz betrat. Er marschierte wortlos auf den Spielplatz zu, stellte die pralle Tasche neben der Dicken ab, stieg über den Zaun – zwei Meter seitlich von der Stelle war eine Tür – und ging im selben Tempo, in dem er zuvor den Platz überquert hatte, weiter, bis er eine Handbreit vor dem Mädchen stand. Der Mann, nicht viel größer als das Mädchen, war dreimal so breit: ein Eisschrank, der sich vor einem Besenstiel aufbaute. Er redete mit gepreßter Stimme auf sie ein, stechend, er sticht zu, dachte ich, während das Mädchen wieder einen Schritt zurückwich, jetzt mit dem kleinen Bruder am Bein, der leise und inständig weinte. Der Mann schaukelte seinen Oberkörper und tat, als würde er abdrehen, bevor er den Abstand zu dem Mädchen wieder verringerte. Er warf dem Mädchen Beleidigungen ins Gesicht, deren verletzende Wirkung ich daran ablesen konnte, daß der Körper des Mädchens zu zittern begann. Ich sah ihren Körper schräg von hinten und nahm wahr, wie sie die Schultern hob, den Kopf einzog, die Finger spreizte... Ich sah den Fleck auf ihrer Hose, sie wird ihm ins Gesicht spucken, dachte ich, was soll sie denn machen, spuck endlich, Mädchen, na mach schon, dann hast du’s hinter dir. Ich wartete begierig auf diesen Augenblick, denn es war ausgeschlossen, daß sie nicht spucken würde. Ich wünschte mit solcher Kraft, daß sie ihm ins Gesicht spuckte, daß mein eigener Körper hier am Fenstersims in der verfilzten Maueröffnung zu zittern begann wie die Schnur eines gespannten Bogens. Endlich spuckte das Mädchen los, und im selben Augenblick, als hätte er nur darauf gewartet, schlug der Mann zu. Er schlug zweimal, mit der flachen Hand, zweimal die rechte. Das Mädchen stürzte sofort zu Boden. Ihr kleiner Bruder hielt immer noch ihr Bein umklammert. Einen Sekundenbruchteil lang hielt ich das, was ich sah, für eine Sinnestäuschung, bis ich begriff, daß der Mann Anstalten machte, sich auf das wehrlose Mädchen zu stürzen. Es drängte mich, etwas zu tun tun. Aus Mitleid mit dem Mädchen, oder weil der Kampf ungleich war. Es war kein Kampf, es war eine Vernichtung. Wäre ich aus der Wohnung ins Stiegenhaus, die Treppe hinunter, zur Haustür hinaus auf den Platz gelaufen, hätte der Mann allein durch sein Körpergewicht das schmale Mädchen vernichtet. Also konnte ich nicht aus der Wohnung ins Stiegenhaus und hinunter auf den Platz laufen, statt dessen mußte ich schreien, aus Leibeskräften, und ich schrie, ohne zu wissen, was da aus meinem Mund kamen. Es war egal, was aus meinem Mund kam, es gab nichts zu sagen, der Sinn war jetzt egal. Wahrscheinlich beschimpfte ich den Mann, wahrscheinlich ein bißchen gesitteter, als der Mann und die Frau das Mädchen beschimpften. Auch das war jetzt egal, die Wörter waren kleine Pfeile, die den Proleten von seinem Opfer ablenkten und eine Art Scham hervorriefen, die ihm auf die Stirn trat, weil er viele Augen auf sich gerichtet glaubte und weil der Kampf ungleich war. Ja, es gab etwas wie Scham. Während ich brüllte, erschien an der Spielplatzumzäunung – die dicke Frau war spurlos verschwunden – ein etwa zehnjähriger Junge, der den Mann von seinem Vorhaben abbringen wollte. Der Mann, der über dem Körper des im Sand liegenden Mädchens kniete, löste sich langsam von seinem Opfer, stieg über den Zaun und gab dem Jungen ein paar Stupser, mit weniger Gewalt, als er gegen das türkische Mädchen angewandt hatte. Der Junge hielt sich die Unterarme über den Kopf, er war an diese Behandlungsweise gewöhnt. Er redete mechanisch auf seinen Vater ein, und zu meinem Erstaunen gelang es ihm, den Schläger zu beschwichtigen.
Inzwischen waren mehrere Anrainer auf dem Platz erschienen. Ich war nicht der einzige, der das Geschehen von seinem Fenster aus beobachtet hatte. Es gab eine Schar von unsichtbaren Fensterstehern, die nichts voneinander wußten. Ein aufgebrachter junger Mann wurde von einem älteren – Sprache türkisch, Trainingsanzug und Turnschuhe – davon abgehalten, sich auf den Schläger zu stürzen. Ein anderer Mann, braungebrannt, mit nacktem Oberkörper, schütterem Haar und knielangen ausgefransten Jeans diskutierte schwankend – die meisten hier waren Alkoholiker – mit der Dicken, die wieder aufgetaucht war. Zuletzt bog sogar ein Polizeiwagen um die Ecke. Irgendein Anrainer mußte die Nummer 144 gewählt haben. Unter den roten Frontlettern des Hauses, erbaut von der Gemeinde Wien in den Jahren 1926 und 1927 aus den Mitteln der Wohnbausteuer, bildete sich rasch eine Menschentraube. Jeder neu Hinzugekommene zog zwei weitere an. Ich überlegte, ob ich hinuntergehen sollte oder nicht. Schließlich war ich der einzige Zeuge, der alles von Anfang an beobachtet hatte. Ich konnte, wenn nötig, Auskunft geben.
Als ich bei den Grüppchen der Herumstehenden eintraf, hatte sich der Schläger schon aus dem Staub gemacht. Sein Sohn hatte ihn wohl durch die labyrinthische Festung in die Wohnung hinaufgelotst, während der Rest der Familie, die Ehegattin und die Mutter, hier unten die Ehre des Mannes verteidigte. Hinter den dicken Mauern verschanzen sich die Wiener Arbeiter gegen den Feind und gehen zum Angriff über. »Er hat sie gar nicht geschlagen«, rief die Dicke entrüstet, und die Mutter, eine dieser müden mißmutigen Frauen, die das Labyrinth bevölkern, unterstützte sie: »Mein Sohn hat noch nie wen geschlagen.«
»Natürlich hat er sie geschlagen«, sagte ich, »ich habe alles genau gesehen.«
Ich zeigte auf das türkische Mädchen, das mit rot geschwollenem Gesicht zwischen den gestikulierenden Grüppchen stand und abwechselnd mit dem kleinen Bruder an ihrer Hand aufschluchzte. Der Braungebrannte mit der nackten Brust, auf der sich ein paar graue Haare kringelten, pflichtete mir bei, auch er habe alles gesehen. Plötzlich schrie ihn die Dicke an, nannte ihn Kinderschänder, Perversling, scher dich um deinen eigenen Dreck! Der Mann blieb ruhig, er wippte vor und zurück und lächelte selbstsicher wie einer, der gutes Gras geraucht hat. Einer der beiden Polizisten sagte: »Na, na.« Der andere hatte einen Notizblock gezückt und nahm herrenlose Aussagen auf, die wie Zwillingsblätter aus der Linde trudelten. Die Polizisten waren junge Männer vom Land, mit steirischem oder burgenländischem Akzent. Wahrscheinlich verstanden sie weder die Türken noch die Wiener und waren überfordert, weil das Opfer-Täter-Schema, das man ihnen auf der Polizeischule oder im Wachzimmer eingetrichtert hatte, hier nicht paßte. Sie hätten gern ihre Landsleute beschützt und nicht diese Türken. Aber die Landsleute waren dermaßen dumm, daß nicht einmal die einfachsten Informationen aus ihnen herauszubekommen waren. Nur ein unsauberes Durcheinander kam aus ihren Öffnungen, ein Quark aus Beschuldigungen, Beschimpfungen, Klagen. Die Dicke und ihre Schwiegermutter taten, als wären sie felsenfest überzeugt, daß rein gar nichts geschehen war und eine einzige Person Unrecht erlitten hatte, nämlich die Dicke.
»Das Mädchen hat behauptet, daß ich auf die Felberstraße gehe«, rief sie entrüstet. Jeder weiß, daß die Felberstraße, hier ganz in der Nähe, zwischen der letzten Häuserzeile und dem Westbahngraben, der billigste Strich von Wien ist. Abends, wenn es regnet, stehen die Frauen sogar im Eingang vom Zielpunkt, wo sie tagsüber einkaufen, und warten auf Freier. Sie klammern sich an ihre Handtasche und sagen ihr Sätzchen auf.
»Darum geht es überhaupt nicht«, sagte der Eingekiffte. »Felberstraße hin oder her, man schlägt keine Kinder.«
»Wer schlägt hier Kinder?« fiel ihm die Mutter des Schlägers ins Wort. »Willst du behaupten...?«
Mehrmals versuchte ich, meine Stimme zur Geltung zu bringen und den Hergang der Handlung möglichst kurz und genau zu beschreiben. Ich hatte nichts getrunken, nichts geraucht. Aber mit Sachlichkeit war hier nichts auszurichten. Was ich sagte, schien keinen zu interessieren, auch nicht den Polizisten, der den Notizblock längst hatte sinken lassen. Ich war kein Perversling und kein Türkenfreund, und weil ich weder das eine noch das andere war, wurde ich nicht ernst genommen. Ein unaufgeregter Mensch wird in dieser Stadt nicht ernst genommen. Wieder einmal begriff ich, daß ich hier nichts verloren hatte.
Übrigens kann ich mir sehr gut vorstellen, daß die Dicke nachts auf die Felberstraße geht. Ich halte das für wahrscheinlich. Was blieb ihr denn anderes übrig? Irgendwer mußte die Notstandshilfe des Schlägers und die Frühpension der Schwiegermutter aufbessern. Mir ist es natürlich egal, ob die Dicke auf die Felberstraße geht oder nicht. Und daß das türkische Mädchen ausposaunt hat, was ohnehin die ganze Nachbarschaft weiß... Schon möglich. Die Kinder auf der Schmelz reden nun einmal so. Ich habe schon Schlimmeres gehört. Die meisten Erwachsenen haben Scheiße im Hirn. Die Kinder spielen in der Hundescheiße. Fernsehen, Krone, alles täglich. Die einheimische Klasse der Nichtstuer, Daumendreher, Biertrinker, Fernseher, die den kleinen Hitler anbeten: das ist das rote Wien. Zäune, Pfähle, Zinnen, Trennlinien, Mülltonenphalanxen, Planquadrate ordnen den Dreck. Wie in Paris, denkst du, da ist es auch nicht anders. Parallelaktionen als Schild der Trägheit. Kakanien ist vollgekackt, und vollgekackt ist abgesackt. Obendrauf ein Kringel aus Schlagobers, Osterkorns flatternde Stimme: »Böse Menschen kennen keine Lieder.« Dahingeschmolzen der Stolz, ins Gefrierfach gelegt: ein rissiger Herzklumpen, den die Schwiegermutter vormittags in der Pfanne schwenkt. Häkelzungen hängen über die Kante des Rundtischchens: »Na bitte, da haben wir’s schwarz auf weiß.«
Die Überflüssigen rotten die Überflüssigen aus.
Diese Episode schrieb ich 1996 oder 97 auf, als ich in Wien wohnte. Sie wurde Teil eines Romans, wobei ich ziemlich direkt übernahm, was mir die Wirklichkeit damals zuwehte. Ich veröffentliche sie hier, zwei Jahrzehnte später, angeregt durch Debatten, die in Österreich nach der ersten Runde der Bundespräsidentenwahl 2016 aufkamen. Der rechtspopulistische Kandidat Norbert Hofer hatte eine deutliche, wenngleich relative Mehrheit erhalten. Kurz danach schrieb der österreichische Schriftsteller Thomas Glavinic auf Facebook, man solle die Wähler Hofers bzw. ihre Ängste und sonstigen Beweggründe ernst nehmen und versuchen, mit ihnen zu reden, statt sie abzukanzeln. Diese Äußerung war an die Adresse derer gerichtet, die von ihren rechten Feinden als »Bobos« bezeichnet werden.
Grundsätzlich stimme ich mit Glavinic überein, man soll mit allen zu reden versuchen. Ich habe mich aber, als ich Glavinics Posting las, sogleich an jene Szene auf dem Neusserplatz im 15. Wiener Bezirk erinnert, wo der rechtspopulistische Kandidat am 24. April 2016 viele, aber nicht die meisten Stimmen erhielt. Das geschilderte Ereignis bestätigte mir, was ich in meinen Wiener Jahren zu ahnen begonnen hatte: Man hat diesen Leuten ins Hirn geschissen. Ich gebrauche hier eine in Wien gängige Formulierung, die mir nicht gefällt – aber vieles, was ich in dieser Stadt erlebt habe, hat mir nicht gefallen. Genau diese Leute, Österreicher, die schamlos lügen, keinen klaren Gedanken fassen können, den lieben Tag lang dahintschechern, viele von ihnen Sozialschmarotzer, die gar nicht fähig wären, irgendeinen nützlichen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten, aber eifrig auf ausländische Sozialschmarotzer schimpfen, genau diese Leute haben, da bin ich sicher, für den rechtspopulistischen Kandidaten gestimmt und werden in Zukunft für ähnliche Kandidaten stimmen.
(»Rechtspopulistisch«, dieses in den Massenmedien gängige Wort, verwende ich ungern. Ich weise darauf hin, daß das lateinische populus nichts anderes bedeutet als das griechische demos, also Volk. Hinter der scheinbar oberflächlichen verbalen Parallele verbirgt sich das ganze Unbehagen, das die heutige demokratische Praxis erregt und erregen muß.)
Auf Glavinics durchaus ein wenig populistisches Postulat bezogen: Reden, gut und schön, aber das Problem ist doch, daß man mit bestimmten Leuten, mit einer gar nicht kleinen, eher wachsenden Gruppe in der Bevölkerung nicht reden kann, weil sie die Voraussetzungen dafür – Anerkennen von Vernunftgründen, Kausalität, Wahrheitsanspruch, Fähigkeit des Zweifelns – nicht haben, vielleicht auch gar nicht haben wollen.
Die Nazis – ja, ich sehe Parallelen zu den Jahren um 1930! – bezeichneten das Parlament als »Quatschbude«, und den Satz »Wenn ich Kultur höre, entsichere ich meine Pistole« hat Goebbels, der Kulturminister, vielleicht nicht wirklich gesagt, er war in diesen Kreisen aber auf alle Fälle populär. Es gab und gibt die, die nicht reden wollen, sondern lieber zuschlagen. Gestützt und gewählt werden sie vielfach von denen, die nicht reden können.
© Leopold Federmair
Es ist unzweifelhaft, dass demokratische Entscheidungen bestimmte Vorbedingungen bei den Entscheidern voraussetzen: Wenn wir vernunftgeleitete, nachvollziehbare Entscheidungen treffen wollen, dann müssen – Wähler wie Politiker – neben den Voraussetzungen, die diese Entscheidungen möglich machen, auch ein gewisses Mindestwissen über Staat, Gesellschaft, Wirtschaft, etc., mitbringen oder sich dieses im Bedarfsfall aneignen können.
Wer das nicht kann oder will, da bleiben eigentlich nur zwei Möglichkeiten, wird entweder ausgeschlossen oder darf trotzdem mitbestimmen, weil die Zahl derer – so kann man annehmen – nicht ins Gewicht fallen wird (daneben kann man noch ins Feld führen, dass alle die von Entscheidungen betroffen sind, auch mitbestimmen sollten, allerdings könnte man das auch für ein sechsjähriges Kind ins Feld führen).
Entscheidet man sich für ersteres, dann bleibt die Frage, wer was bestimmt und festlegt, es bleibt die Frage, ob man damit nicht noch mehr Konflikte hervorruft, gerade mit den Menschen, die eh schon am Boden der Gesellschaft stehen und den Rest tragen, weil sie Arbeiten erledigen, die sonst keiner tun will, die sich dann mit den Ressentiments, die ebendiese Arbeiten und deren Ansehen mithervorbringt, vermengen.
Ich finde Glavinic’ Einlassung durchaus ehrenhaft, auch wenn er den häufig von Politikern gemachten Fehler begeht, dass er mit erwachsenen Menschen über deren Ängste reden will. Jemand der das tut, nimmt sein Gegenüber – bewusst oder unbewusst – nicht ernst. Und dieses jemanden nicht Ernstnehmen, und zwar von Grund auf als denjenigen, der er eben ist, jenes Ernstnehmen, das Voraussetzung für jeden Diskurs und jedes Gespräch ist, fehlt in bedeutenden Teilen des links-liberalen Spektrums (aber nicht nur dort). Das wiederum scheint Glavinic erkannt oder zumindest gefühlt zu haben (manchmal zeigt es sich als moralische Geste, manchmal ist es beinahe verborgen, aber in den Formulierungen präsent, eine feine Überheblichkeit, ein schon im voraus Bescheidwissen, die berühmten Unvermeidlichkeiten, Unumstösslichkeiten, Korrektheiten). Es gibt, darauf will ich hinaus, eine Art der Diskursbesetzung, die gerade jene ausüben, die vorgeben für Offenheit einzutreten, eine widersprüchliche Verengung derselben. — Ein sanfter, aber beständiger Paternalismus, der auch den Institutionen der Europäischen Union innewohnt, die nie von der breiten Masse getragen wurde.
Der Zuspruch zum – ich mag das Wort auch nicht – Rechtspopulismus, geht mit einem grundlegenden Versagen der althergekommenen österreichischen Politik einher, eine sogenannte große Koalition, die bundespolitisch noch immer irgendwie an der Macht ist, diese nicht aus den Fingern lässt, völlig unfähig die notwendigen Reformen, für die es vielfach überparteilichen Konsens gibt, einzulösen. Es ist, als ob Gewohnheit und Machtstreben, trotz beteuertem Willen zur Änderung, angeblichen Erkennens – jetzt wird nicht mehr gestritten, sondern gearbeitet! – die Kraft und die Möglichkeit zur notwendigen Änderung, einer erneuerten Republik, dem Vollzug des sich Andeutendem, nicht vorhanden ist. — Reste eines politischen Systems, das sich nicht einmal mehr selbst abschaffen kann.
In weiten Teilen scheint die Politik, der Politiker wegen, auf österreichischer und europäischer Ebene, hohl geworden zu sein, ohne dass diese es erkennen oder aber einfach nonchalant übergehen und so tun als wäre das anders und vor allem in Ordnung, aber der Verkauf der eigenen Haut gelingt nicht mehr.
Seltsamerweise scheint einer der beiden Kandidaten diese Zeichen nicht zu erkennen, falsch zu deuten oder entgegengesetzte, fast möchte man sagen wider die Vernunft gerichtete Hoffnungen zu hegen. Ich weiß nicht, wie viele es sind, aber ein Teil der Wähler sieht nur noch die Möglichkeit dieses verkommene System endgültig zum Einsturz zu bringen und an dessen Stelle etwas Neues zu setzen. Und der andere der beiden Kandidaten bringt, so scheint es, ob man ihm das nun zutraut oder nicht, ob man ihn mag oder nicht, für beides die Mittel mit.
Bevor wir uns zu sehr der Vergangenheit zuwenden oder nicht empirisch erhobene Massen ins Spiel bringen, ist eine Analyse der Gegenwart geboten und vielleicht hätte sie uns eine vernünftig Politik – die doch endlich wieder einmal eine sein möge! – überhaupt erspart.
Glavinic’ Posting und ein Interview im Kurier.
Ich bin als Deutscher natürlich fein raus. Weder brauche ich am Sonntag abstimmen, noch muss ich direkt die Konsequenzen der Wahl ausbaden. Mir sind in den sogenannten sozialen Netzwerken sehr viele, merkwürdige Sachen aufgefallen, insbesondere was die Van-der-Bellen-Anhänger angeht. Um es ein wenig salopp und pauschal (und damit auch durchaus ungerecht) zusammenzufassen: Im Duktus passen sie sich demjenigen, den sie politisch zu bekämpfen trachten, in nahezu atemberaubender Geschwindigkeit an. So wurde beispielsweise ein Posting von Glavinics Interview mit der Aussage, er, Glavinic, schreibe ja »bekackte« Bücher kommentiert. Nun mag das stimmen oder nicht (ich kenne seine Romane nicht), aber es ist eben dieser vorauseilende Diffamierungston, der jegliche Kommunikation untereinander praktisch verunmöglicht. Ich habe Ausschnitte der unmoderierten Fernsehsendung zwischen den beiden Kandidaten gesehen – und war wirklich schockiert. Österreich scheint nur noch die Wahl zwischen Pest und Cholera zu haben und im Gegensatz zu Deutschland, wo der Bundespräsident nur sehr wenig »Macht« besitzt, ist dies ja in Österreich durchaus anders. Die VdB-Leute werben inzwischen mit dem »kleineren Übel«.
metepsilonemas Kommentar möchte ich in großen Teilen zustimmen. Es zeigt sich, dass die »Große Koalition« die politischen Ränder – insbesondere nach rechts – nährt. Die Geschwindigkeit wächst durch die schnellen Verbreitungswege. In Deutschland steht bei Umfragen die Große Koalition (Unions-Parteien und SPD) aktuell zwischen 50% und 56% (2013: 67,2%). Das dürfte eine Momentaufnahme bleiben; bis Herbst 2017 dürften sich die Zahlen insbesondere für die Konservativen noch etwas erholen. Es dürfte wohl 2017 noch einmal »klappen«. Andere Rechnungen funktionieren nicht, weil niemand mit der AfD (aktuell rd. 13%) und den Linken (ca. 9%) koalieren möchte. Somit wären fast ein Viertel der Wähler (AfD und Linke) praktisch schon einmal ausgeschlossen.
Große Koalitionen haben den Nachteil, dass sie politische Entscheidungen nicht mehr kommunizieren müssen, sondern nur noch dekretieren. Selbst eine geringe Zahl von »Abweichlern« ist möglich (derzeit hat die Große Koalition im Deutschen Bundestag 80% der Sitze). In einigen Politikfeldern gibt es überhaupt keine Opposition mehr. Die Notwendigkeit politische Entscheidungen argumentativ darzustellen und im Bundestag und in der Öffentlichkeit hierfür zu werben, entfällt. Statt im Parlament zieht man lieber die Talkshowsessel vor.
Vielleicht erleben wir auch die Grenzen dessen, was man Demokratie nennt. Bisher dachte man, das sich in der Masse am Ende immer die Vernunft durchsetzt. Dabei ist man von bestimmten Voraussetzungen ausgegangen, die so nicht mehr existieren (angefangen mit der Bildung bis zur Bereitschaft vernunftgesteuerter Diskurse). Was, wenn diese Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind und eine Art »Lust am Untergang« als die einzige Alternative gesehen wird? (Das ist übrigens wirklich eine Parallele zur Weimarer Republik, an dessen Beseitigung Kommunisten wie Nazis gleichermaßen beigetragen haben, aber am Ende hatten die Nazis leichtes Spiel, weil die verbliebenen Parteien im Reichstag unversöhnlich waren und nicht die Gefahr sehen wollten.)
Diverses in Kürze, morgen eventuell mehr:
Ich bin gerade über di Fabios Text gestolpert, er hat die Problematik im europäischen Kontext sehr schön herausgearbeitet.
Ich erspare mir einen Kommentar zu der angesprochenen »Diskussion«*; man muss die beiden aber insofern in Schutz nehmen, sie können miteinander auch fair und beinahe freundschaftlich umgehen (jedenfalls in Gegenwart eines Moderators).
Frappierend finde ich z.B. van der Bellens Standpunkt die FPÖ als stimmenstärkste Partei nicht mit einer Regierungsbildung zu beauftragen (als Begründung wird inhaltlich ihre Europapolitik angeführt); das steht dem Bundespräsidenten natürlich zu, auch wenn es von der Tradition abweicht, allerdings sollte einem schon klar sein, dass man mit dieser Ansage – als Kandidat für ebendieses Amt – natürlich auch einen Keil in die Bevölkerung treibt.
Zum österreichischen Reformbedarf und warum ein starker, aber bedachter Bundespräsident – im Gegensatz zu Tradition – nicht abwegig wäre, dort.
*das Vorbild findet man dort; es gab aber schon vor einiger Zeit einen Reaktivierungsversuch der besser gelang.
Glavinics Äußerung in FB finde ich auch ehrenhaft, zudem wichtig in der gegenwärtigen Situation. »Wenn wir politisch Andersdenkende de facto schon als Untermenschen darstellen – was sind wir dann?« Ich weiß nicht, was Glavinic mit dem Zusatz insinuiert, aber die Toleranz und nicht nur Toleranz, sondern das Bedenken des anderen Denkens, sollte in einer Demokratie eine Selbstverständlichkeit sein. Die knappe Formulierung Rosa Luxemburgs finde ich immer noch am treffendsten: »Freiheit ist immer Freiheit des anders Denkenden.«
Trotzdem möchte ich hier einen anderen Link hinzufügen. Vor etwa drei Jahren führte Glavinic ein öffentliches Gespräch mit FPÖ-Chef Strache. Da behauptet Strache, Glavinic habe gesagt, »wer die FPÖ wählt, hat nicht genug im Kopf. Das heißt, Sie haben allen freiheitlichen Wählern den Intellekt abgesprochen.« Glavinic dementiert nicht, sondern bestätigt: »Das ist ja auch richtig. Wobei ich manchmal etwas überspitze.« (http://derstandard.at/1376533739287/Hoeren-Sie-das-ist-ein-Bloedsinn)
Da drängt sich nun die Frage auf, ob Glavinic in der Zwischenzeit gelernt hat und seine Kommunikationsfähigkeit verbessern will, was natürlich ehrenhaft wäre. In diversen Foren gab es auch Stimmen, der Schriftsteller bereite sich auf den möglicherweise bevorstehenden Machtwechsel vor. Irgendwie spüre ich bei diesen Aufrufen zu Toleranz und Verständnisbereitschaft eine Art »mauvaise foi« – also daß sie nicht ganz aufrichtig sind. Haben die Toleranten denn schon einmal versucht, mit den Zukurzgekommenen, den Angefressenen, den Tschecheranten ins Gespräch zu kommen? Ist dabei irgend etwas herausgekommen? Was soll denn das »Neue« sein, für das diese »Empörten« optieren? Nach meinen Erfahrungen, und zwar seit Beginn der Haider-Ära in den späten achtziger Jahren, wollen sie nur eines: einen »starken Mann«, also ein autoritäres Regime, wie immer es dann definiert wäre (zu Definitionen waren und sind sie gar nicht imstande). Es sind übrigens, wieder nach meiner Erfahrung, nicht die von Metepsilomena angesprochenen Arbeiter, es ist das Lumpenproletariat der Wohlstandsgesellschaft, das mit Alkohol und Junkfood, mit Handy und TV dahinvegetiert. Wie ist mit denen »vernünftig« zu reden? Das sollen die Toleranten erst einmal vormachen.
Den geistigen Zustand dieser (weiten!) Bevölkerungsteile will ich gar nicht empirisch erheben, kann aber darauf verweisen, daß man ihn sehr leicht in den diversen Foren studieren kann. Wir wissen heute viel, viel mehr über die Mentalität der Bevölkerung als vor zwanzig Jahren. Wenn wir wissen wollen.
Das alles läuft auf die Frage und die Sorge hinaus, was da jahrelang schiefgelaufen ist, und was gegebenenfalls zu tun wäre (außer mit den Zukurzgekommenen »reden«). Die Sozialdemokratie hat viel verspielt, aber meines Erachtens vor allem das, wofür sie in Österreich stand wie kein anderer Verein: Volksbildung. Zum Ruin beigetragen haben nicht nur Politiker, der ganze Kontext hat ihn begünstigt: Monetarisierung des Denkens, »Geiz-ist-Geil«-Mentalität, von den Public Relations vorgeprägt, Verständnis von Demokratie als Selbstbedienungsladen, wo ich für »mein Geld« (»meine Steuern«, die viele der hier Gemeinten eh kaum zahlen) bekomme, was ICH will, Spaßkultur, Eurovisionssongcontest, die Kommentare des grünen Kulturpolitikers dazu, Infotainment, Fußball, Live-Ticker...
Toleranz ist ja etwas anderes als Akzeptanz. Bei Goethe steht: »Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.« In Bezug auf die Integration von Minderheiten jeder Art wird das sehr gerne zitiert und auch als Maxime herausgegeben. Bei Andersdenkenden, die unter Umständen auch ein – freundlich ausgedrückt – rechtes Weltbild haben, fällt uns das schon schwer bzw. ist es unmöglich.
Ich habe auch keine Idee, wie man »tolerant« auf FPÖ-Postings reagiert. Und ob Glavinic hier etwas vorbereitet um als zukünftiger Staatsschriftsteller zu agieren, weiß ich auch nicht. Ich weiß nur, dass, wenn ich anderswo die Fernsehdiskussion zwischen Van der Bellen und Hofer als schrecklich geißele und bekunde, ich würde keinen wählen wollen und dann als »Vollidiot« beschimpft werde, sich dieser Tonfall kaum von denen der FPÖ-Sympathisanten in anderem Zusammenhang unterscheiden dürfte. Statt argumentativer Auseinandersetzung ergießt man sich in Beschimpfung. Wenn Glavinic den moralischen Überlegenheitsgestus der Linken angreift, dann trifft er sie an ihrer empfindlichsten Stelle. Die intellektuelle Armut ist kein »Privileg« der Rechten. Der Gedanke, dass die eine Weltsicht die absolut richtige ist, das, was ich als totalitär bezeichnen würde, ist längst Kennzeichen nahezu aller politischen Lager geworden.
Ein kurzer Exkurs: In meiner Nachbarschaft lebt ein arbeitsloser Jugendlicher, der eine Zeit lang regelmässig stundenlang »Musik« hört (eine Art von Techno-Pop, die grausig ist, daher die Anführungszeichen) und dies in einer Lautstärke, dass ich in meinem Zimmer und auch anderen Räumen im Haus dem nicht ausweichen kann. Da er die Fenster öffnet, schallt dieser Lärm auch in den Garten. Zuweilen war dies wirklich unerträglich. Wie kann man diese Sache angehen? (1) Man sagt dem Burschen exakt, was man von ihm hält, bezeichnet ihn als Dummkopf, vielleicht als faulen Sack. (2) Man geht auf ihn zu, sagt ihm, dass es einen stört und wenn es sein muß, 3 x die Woche. – Welche Version verspricht wohl den größeren Erfolg?
Ich glaube nicht, dass der Bodensatz der FPÖ in Österreich auf Dauer sehr hoch (> 10%) ist. Große Koalitionen erzeugen aber ein Gefühl einer Ausweglosigkeit; die andere politische Stimme kommt sich unterdrückt vor. Sie wird auch recht schnell mit dem entsprechenden Attributen abgewatscht. Die anstehende Wahl bietet nun plötzlich eine »Möglichkeit«. Damit ist der Hofer-Enthusiasmus bei den Leuten womöglich auch zu erklären. Der Kandidat geriert sich als Anti-Establishment; ein Trick, den auch der Front National in Frankreich seit Jahren mit Erfolg praktiziert. Die Politik des »Establishments« beschränkt sich dann in Durchhalteparolen und Dystopien. Beides verfängt aber nicht; eher im Gegenteil. Merkwürdigerweise scheint niemand mehr daran zu erinnern, wie die FPÖ das Bundesland Kärnten herabgewirtschaftet hat. Warum wird hier die »Kompetenz« dieses Anti-Establishments nicht thematisiert?
Haben die Toleranten denn schon einmal versucht, mit den Zukurzgekommenen, den Angefressenen, den Tschecheranten ins Gespräch zu kommen?
Das ist die Kernfrage des Problems. Es gibt immer weniger so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl, das jenseits eines aggressiven Nationalismus daherkommt. Die Milieus leben abgeschottet nebeneinander, nicht miteinander. Das ist ein Versäumnis aller gesellschaftlichen Schichten, vor allem aber der Politik, die dieser Verkapselung nicht entschieden genug begegnet ist. (Das muss übrigens nicht immer etwas mit Geld zu tun haben.) Dabei geht es tatsächlich nicht um Paternalismus, d. h. die Sprüche, man müsse »mit den Menschen« reden, werden (übrigens zu Recht) als hohle Rhetorik wahrgenommen. Es geht um Aktion, nicht um Reaktion.
@Leopold Federmair
Stimmt, ich erinnere mich an dieses Sommergespräch. Es wäre interessant zu wissen, was Glavinic zu seiner Meinungsänderung bewogen hat, aber darüber spekulieren möchte ich nicht.
Weil wir über Vernunftgründe sprachen: Wenn das von Ihnen sogenannte Lumpenproletariat politisch ein wichtiger Faktor sein soll, dann müssen wir ihn auch empirisch benennen, also quantifizieren können, sonst hat eine Diskussion darüber wenig Sinn (es macht einen Unterschied ob wir da von 5, 10, 15 oder 20% der Wähler sprechen [die Zahlen sind als Beispiel zu verstehen]). — Wenn ich mir zwei Dinge ins Gedächtnis rufe, dass Haider verglichen mit Strache geradezu intellektuell war und darüber hinaus zweifellos eine weit überdurchschnittliche politische Begabung besaß, dass die FPÖ im Vergleich zu ihrem Vorgänger VdU deutlich erfolgreicher ist (ein Erfolg der anhält, ja weiter zunimmt), dann hat das doch beinahe zwingend mit der Politik der anderen Parteien und mit der politisch-wirtschaftlichen Entwicklung zu tun (der nationale Kern der FPÖ ist klein, ein paar Prozent, den überwiegenden Rest musste sie sich »erwerben«). Die FPÖ braucht eigentlich gar nichts tun, bloß warten. Die Arbeiter (und Personen in verwandten Berufen) laufen in Wien oder in der Steiermark in Scharen zu ihr, darunter und mit ihnen m.E. viele, die auch anders wählen würden. Warum, liegt auf der Hand: Alle negativen Auswirkungen der wirtschaftlichen Konkurrenz, der Zuwanderung, der Kürzung von Zuwendungen, usw., spüren die Menschen »unten« zuallererst; klar, viele wählen blau, wenn lieber billige Arbeitskräfte aus dem Osten eingestellt werden oder in den Gemeindebauten immer weniger Deutsch zu hören ist. Die Menschen fühlen sich nicht mehr zu Haus und opponieren dagegen; dazu kommt, dass die klassischen Institutionen wie die Gewerkschaften die Entwicklungen kaum aufhalten können oder korrumpiert sind. Und Hand aufs Herz: Solange das Kreuz an der richtigen Stelle gemacht wurde, hat der Rest (Fremdenfeindlichkeit, u.ä.) niemanden interessiert. Vielleicht ist die Sozialdemokratie in einer Sackgasse angelangt, gerade weil sie erfolgreich war. Und ihr Bildungsprojekt war auch immer ein Freiheitsprojekt, ein Projekt zur Selbstständigkeit, ich habe meine Zweifel, dass man dabei geblieben ist, mir scheint, dass man Abhängigkeiten eher verstärkt hat, die Fäden in der Hand halten wollte und will (der Wiener Bürgermeister ist dafür ein gutes Beispiel). Zur Bildung ist noch zu sagen: Ohne Eigeninitiative, ohne grundsätzliches Wollen, ist sie nicht zu haben; und: Ich glaube nicht, dass Bildung automatisch zu Konsens führt. Ich gebe Ihnen insofern recht: Den starken Mann als politische »Endforderung«, kann man als Logik einer Rundumversorgung und Konsumverwahrlosung lesen. Nur: Das alleine genügt nicht als Erklärung.
Ich kann für meinen Teil festhalten, dass ich die Lebenswelt sogenannter »einfacher Menschen« (nicht das »Lumpenproletariat«, das Sie meinen) durchaus kenne und auch immer wieder mit ihnen ins Gespräch komme. Das klappt gut, auch wenn es anders ist, als wir das hier tun. Ich halte, s.o., eine grundlegende, bedingungslose Akzeptanz des Gegenübers für die wichtigste Voraussetzung. Noch eine andere Erfahrung: Es gibt genügend gebildete Menschen (»Akademiker«), die politisch desinteressiert sind oder bloße Bauchentscheidungen treffen, also wenig gezielt nachdenken.
Zur großen Koalition noch: In den letzten Regierungsperioden hätte die Möglichkeit bestanden, Reformen einzuleiten, man hätte sich z.B. nur der Vorschläge des Rechnungshofs bedienen müssen. Natürlich, das hätte z.T. zumindest gegen eigene Machtinteressen erfolgen müssen. Der Zorn entlädt sich vor allem rechts der Mitte, auch weil eine ähnliche Partei an der linken Seite fehlt. — Was ich interessant finde, ist, dass in Deutschland jetzt eine, ich würde sagen – verglichen mit der FPÖ – noch weiter rechts liegende Opposition etabliert (zusätzlich zu NPD). Sind die Ursachen ähnlich?
Zum Establishment: Hofer inszeniert sich genau in diese Richtung; seine Gegner (Zwischenrufe aus Europa) machen es ihm leicht: Van der Bellen ist nachgerade stolz auf sein Personenkomitee, das mehrheitlich die obere gesellschaftliche Schicht repräsentiert und scheint sich tatsächlich zu einem Teil dadurch bestätigt zu fühlen, der Duktus (dahinter) ist fürchterlich; Hofer kontert polemisch: »Die Haute volee...«. Was passiert danach? Einige bürgerliche (vorallem: Ex)politiker starteten vor ein paar Tagen einen Aufruf*, als schriebe man für Hofer das Drehbuch und heute legt Frau Griss nach, quasi »Ich wähle ihn, aber das ist keine Unterstützungserklärung« (wozu tritt man dann gemeinsam öffentlich auf?). Das Bild: Einer gegen alle, alle gegen einen. Das Establishment gegen das Volk.
Das Thema Misswirtschaft in Kärnten wurde schon aufgegriffen, nur: Für die Haftungen der Hypo hat der ganze Landtag gestimmt; die Verschleppung hat die große Koalition verschuldet; dann war da noch das Intermezzo der Orangenen unter Haider (natürlich ist da ein blaues Verschulden, aber Strache oder Hofer kann man das kaum anlasten, außerdem ist das Regierungsthematik, sozusagen Themenverfehlung).
Immer weniger Gemeinschaft, ja.
*Dieser Aufruf illustriert sehr gut die weiter oben genannte Haltung, des-bescheid-wissens; er illustriert eine herablassende Haltung, er argumentiert nicht, er zeigt eine Distanz und eine Selbstvergessenheit, einen Mangel an Reflexion was man tatsächlich vermittelt und worum es geht; wenn einer sagte, das sei der Abgesang einer politischen Klasse, ich wüßte ihm nichts zu entgegenen.
@metepsilonema
Zur Lage in D: Die AfD hat vor knapp einem Jahr eine Wandlung gemacht. Zunächst galt sie als »Professorenpartei«, gegründet von Bernd Lucke, einem Professor für Makroökonomie. Hauptthema war die sogenannte Euro-Rettungspolitik der EU in Bezug auf Griechenland. Lucke plädierte nicht nur gegen diese Politik, sondern bezog Front gegen die Einführung des Euro an sich. Andere Politikfelder wurden kaum berührt. Ihm schlossen sich zunächst durchaus ehrenwerte, in der Regel konservative Persönlichkeiten und einige Liberale an. Die Partei erreichte aus dem Stand bei den Bundestagswahlen 2013 4,7% und wäre fast in den Bundestag eingezogen (das wäre ein Novum gewesen). Wer damals die Leserbriefspalten bspw. bei der FAZ las, musste den Stimmenanteil noch höher schätzen – breite Teile der Mittelschicht teilten die Anti-Euro-Position, die in der Griechenland- und später Zypernkrise ihren Ausdruck fand. Kurz danach wurde die Partei sukzessive von rechten und rechtsnationalistischen Figuren unterwandert und schließlich »gekapert«. Die jetzige Vorsitzende Petry setzte sich am Ende gegen den Lucke-Flügel durch. Lucke und etliche andere Eurokritiker verließen daraufhin die Partei und gründeten mit »Alfa« eine neue.
Obwohl es auch einige wertkonservative Figuren in der AfD gibt (Gauland bspw), halte ich die Partei für mindestens rechtsnationalistisch. Ihr Erfolg speist sich vor allem aus der Flüchtlingspolitik von Merkel im Herbst 2015, die von allen Parteien im Bundestag (auch der Opposition) mitgetragen wurde. Hier war es leicht mit Parolen in der Bevölkerung Gehör zu finden. Viele Bürger – die nicht alle Rassisten oder Rechte sind – sahen ihre Interessen sowohl im Parlament als auch in den Medien nicht ausreichend dargestellt und diskutiert. Petry et. al. nahmen dies auf und gossen noch Benzin ins Feuer.
Meine Beobachtungen gehen dahin, dass man in Politik und Medien die AfD lieber dämonisiert als argumentativ angreift. Dies glaube ich aus dem Augenwinkel auch in Österreich mit der FPÖ ausgemacht zu haben. Das Ergebnis ist, dass die Umfragewerte derzeit im zweistelligen Bereich liegen. Mittelfristig glaube ich allerdings, dass es kaum mehr werden wird. Zum einen ist das Personal der AfD sehr heterogen (um es freundlich zu sagen). Und zum anderen ist es etwas anderes bei einer Landtagswahl Protest zu wählen als bei der Bundestagswahl im Herbst 2017. Noch gilt die Große Koalition in D nicht als Drohung.
Die NPD ist in D nie als »Opposition« akzeptiert worden. Sie ist mindestens faschistoid, wenn nicht mehr; von nicht wenigen Experten wird sie als verfassungsfeindlich eingestuft. Derzeit läuft ein Verbotsverfahren für die NPD beim Bundesverfassungsgericht.
@Metepsilomena
In politischen Dingen fühle ich mich nicht sonderlich kompetent, da führe ich mir lieber Ihre Äußerungen und die von Keuschnig zu Gemüte, ich lerne einiges daraus. In meiner Erzählung und auch im Kommentar dazu spielt die Frage nach dem Verschulden der sog. Altparteien an der jetzigen Situation keine Rolle (ist aber ein wesentlicher Faktor, klar).
Ich möchte noch folgendes aus meiner Biographie beisteuern. Mein Vater war jahrelang FPÖ-Mandatar in einer kleinen Landgemeinde. Ein kluger, gesprächsbereiter, friedliebender Mann, der sich nach eigener Darstellung in der Nazizeit um den Militärdienst gedrückt hatte (seine körperliche Behinderung war aber möglicherweise ohnehin Grund genug). Ich glaube, es war 1987, als ich ihn auf einem Gang übers Land begleitete. Wir kehrten in einem gastfreundlichen Bauernhaus ein, dort fand sich bei selbstgemachtem Speck und Most eine kleine Runde zusammen. Ein Eisenbahnarbeiter, im Dorf seit langem als Sozialdemokrat bekannt, aber kein Politiker, vielleicht nur Sympathisant, zwinkerte meinem Vater an einem bestimmten Punkt der Diskussion über die damalige politische Lage zu und sagte mit zufriedenem Tonfall: »Jetzt haben wir wieder einen kleinen Hitler.« Gemeint war Jörg Haider. Die Gleichsetzung mit Hitler haben später Haiders Gegner gebraucht (Dämonisierung, wie Keuschnig zutreffend schreibt). Ich habe das immer für falsch gehalten, auch das rasche Ziehen historischer Parallelen. Dennoch hat sich mir das Gespräch in der Bauernstube tief eingeprägt. Der Eisenbahner, da bin ich sicher, hat irgendwann FPÖ zu wählen begonnen. Meinem Vater war die Bemerkung des Eisenbahners peinlich, er versuchte, das Gespräch auf »vernünftiges« Gelände zu lenken.
Die Arbeiterschaft des Industriezeitalters war schon damals geschrumpft und ist es heute noch mehr. In Wien kann man gut sehen, daß ein Großteil der Wähler aus dieser sozialen Schicht von der SPÖ zur FPÖ gewechselt ist (Beispiel Simmerin, 11. Bezirk der Stadt). Die sozialen Umwälzungen der letzten Jahre-Jahrzehnte haben neue Schichten, prekäre Arbeitsverhältnisse und einen Bevölkerungsteil von Leuten hervorgebracht, die versorgt werden müssen, weil sie schon zu lange aus dem Arbeitsprozeß ausgeschieden sind, krank sind, aus irgendwelchen Gründen arbeitsunfähig oder arbeitsunwillig sind. In diesem Zusammenhang sind die Diskussionen über Grundsicherung entstanden, ein Grundgehalt für alle (natürlich nur Inländer, so sehen es die inländischen Depravierten und rechte Politiker). Diese Forderung ist mir nachvollziehbar, ich fürchte aber, daß ihre systematische Umsetzung das Wohlstandslumpenproletariat noch verbreitern würde.
Es ist auch mein Eindruck, daß der SPÖ, vor allem in Wien, die Arbeiter und Arbeitslosen in den letzten Jahren mehr oder minder wurscht waren, es ging nur darum, Stimmen bei Wahlen zu sichern. Die Figur des Parteichefs, Faymann, sprach vor allem Pensionisten an. Die Wiener Sozialdemokratie hatte einst – hat teilweise immer noch – bemerkenswerte Aktivitäten im Bildungsbereich (ich zähle alle möglichen Aktivitäten dazu, bis hin zum Sport). Schon klar, daß Bildung allein vor und gegen gar nichts schützt. Wird aber dieser Anspruch aufgegeben, treten besonders in den niederen Schichten Leere, Frustration, Abhängigkeit von Massenmedien, die ihre Inhalte längst trivialisiert haben, Süchte der verschiedensten Art auf. Dies ist nach meinen durchaus unwissenschaftlichen, aber doch ein wenig um Systematik bemühten Beobachtungen der Sumpf, worin die Demokratieverdrossenheit wächst.
Noch etwas: Nach meinem Empfinden beträgt die Zahl derer, die in Österreich die Inhalte der FPÖ befürwortet, also nicht nur aus Protest FPÖ wählt, etwa 20 Prozent, und ich vermute, daß es mehr werden. Das ist auch die Zahl bei Nationalratswahlen seit ca. 1990. Nur 2002, als klar geworden war, daß die FPÖ in Regierungsverantwortung auch nicht mehr Konstruktives beitrug als der Koalitionspartner (ÖVP) und daß die Korruptionsanfälligkeit ihrer Politiker (Grasser, Westenthaler) mindestens so groß war wie die der anderen, gab es einen deutlichen Einbruch. Damals schlitterte die FPÖ in eine schwere Krise, die zur Spaltung führte. Das Erstaunliche in Österreich ist, daß das Versagen dieser Partei in der Regierungskoalition und während ihrer Landesregierungsverantworung in Kärnten (unter Haider) von den Wählern sehr schnell und wiederholt vergessen wurde.
@Leopold Federmair
Demokratieverdrossenheit kann ich bei dieser Wahl keine ausmachen: 72,7 Prozent der Bevölkerung waren wählen und das für ein Amt, das zwar das höchste im Staat ist, von der sichtbaren Praxis her und der Meinung in der Bevölkerung aber als »unbedeutend« gilt. Und wenn man Moral und Gesinnung mit Politik gleichsetzt, dann war die Politisierung hoch.
Ich habe unlängst irgendwo gelesen, dass sogenannte populistische Parteien pragmatisch(er) werden, wenn sie an der Macht sind, weil sie sonst (auf mittlere Sicht) scheitern. Da ist sicher etwas dran. Was diese Parteien außerordentlich vermögen, ist, Unzufriedenheit zu binden, auch gerade deshalb, weil sie stigmatisiert werden: Wenn der persönliche Krug voll ist, sagt man: »Jetzt wähle ich sie auch!«. Man muss zwischen genereller und punktueller inhaltlicher Übereinstimmung unterscheiden und zwischen taktisch-strategischer Wahl (die Parteibindung ist viel schwächer geworden, angeblich gab es sogar Wähler die im ersten Wahlgang van der Bellen und im zweiten Hofer gewählt haben).
Es gab bei dieser Wahl rationale Gründe FPÖ zu wählen, ohne dass man deren Inhalte weitgehend teilen musste: Jemand der die Blauen nicht in Regierungsverantwortung sehen, aber den Reformdruck auf die große Koalition erhöhen wollte und zugleich diese Regierungsform nicht für die wünschenswerte hält, für den konnte Hofer der geeignetere Kandidat sein.
Eine interessante Erklärung des Wahlergebnisses findet sich dort. Da ist sicher einiges dran, wie weitgehend das gilt, kann ich nicht einschätzen (jedenfalls kann ich mir gut vorstellen, dass kaum ein Arbeiter, Briefträger, Müllmann, Bauarbeiter, Handwerker, usf., erfreut darüber ist, dass von ihren Steuergeldern Genderbeauftragte, u.a., finanziert werden, die sie über die Macht des Patriachats aufklären und darüber wie sie denn sprechen sollten, das muss ihnen ob ihrer gesellschaftlichen Stellung, ihrer politischen wie wirtschaftlichen Einflussmöglichkeiten wie Hohn vorkommen).
Den im Link angesprochenen »neue Klassenkampf« halte ich für arg holzschnittartig dargestellt. Da scheint eher der Wunsch der Vater des Gedankens zu sein. »Papierarbeit« als Kostgängertum per se zu subsumieren ist fast schon demagogisch.
Die Diskrepanzen der politischen Meinungen zwischen Stadt- und Land, jung und alt, Frauen und Männern gab es immer. Parteien, die diese Diskrepanzen überwinden konnten, nannte und nennt man Volksparteien. Diese Bindungen bröckeln (nicht nur in Österreich, sondern auch in Deutschland, und das schon länger). Inzwischen haben sich kleine Parteien etabliert, die ein bestimmtes Milieu bedienen (bspw. Grüne, Liberale und eben auch Strukturkonservative). Sie fallen bei einer Entscheidung zwischen zwei Personen weg; eine Differenzierung ist nicht möglich. (Daher halte ich präsidiale Systeme auch für schwach; sie kennen nur schwarz oder weiß.) Dass Hofer eine gewisse Klientel als Protestwähler gewinnen konnte, kann aber nicht 49,7% erklären. Hier muss eine breite Institutionenverdrossenheit vorliegen. Denn obwohl der Bundespräsident eine nur sehr eingeschränkte Macht hat, hätte die Besetzung durch einen FPÖ-Mann eine große Symbolik gehabt.
Bei der Wahl zum französischen Staatspräsidenten 2002 waren im ersten Wahl die Stimmen sehr breit verteilt. Chirac erreichte zwar die meisten Stimmen, aber das waren nur 19,88%. Platz belegte Le Pen (der Vater der heutigen FN-Vorsitzenden) mit 16,86%. Der erwartete Stichwahlkampf zwischen Chirac und dem Sozialisten Jospin kam nicht zustande; Jospin war nur auf Platz 3 mit 16,18%. Zur Stichwahl zwei Wochen später schlossen sich die Reihen: Chirac erhielt 82,21%, Le Pen 17,79%. Damals wirkte noch die Abschreckung vor dem Front National. Sozialisten und sogar Kommunisten sprachen sich offen für den konservativen Chirac aus. Aber das war eben 2002.
In Österreich hingegen hätte eine Wahlempfehlung der Regierungsparteien fast schon einen kontraproduktiven Effekt gehabt. Die Frage ist, woher dieses Unbehagen kommt. Ich glaube nicht, dass sich Müllmänner mit Genderbeauftragten beschäftigen. Sie haben eher Angst um ihren Arbeitsplatz, weil vielleicht die Abfallentsorgung privatisiert werden soll bzw. neu ausgeschrieben wird.
@Gregor
Die Darstellung ist vereinfachend, die Bemerkungen zur Papierarbeit mindestens polemisch, aber dass vielen die Art und Weise, wie mit Steuergeldern umgegangen wird, nicht gefällt, halte ich für zutreffend (das höre ich auch immer wieder in persönlichen Gesprächen, man muss etwa nur die Höhe der Parteienförderung hernehmen). — Nur diejenigen zahlen gerne Steuern, die sehen, dass damit verantwortungsvoll umgegangen wird.
Zur Frage nach dem Unbehagen: Eine der wenigen Institutionen (vielleicht die einzige), die in Österreich umfassendes Vertrauen genießt, ist der Rechnungshof (der letzte und der derzeitige Präsident – Fiedler und Moser – waren und sind, was ihre Arbeit und Aufgaben betrifft, tadellos). Was ist mit den Reformvorschlägen seit Anfang 2007 passiert? Sie wurden mit einer Konsequenz zu den Akten gelegt, die dreist zu nennen ist. Wir reden seit Jahren über eine Bildungsreform, der Rechnungshof macht Vorschläge wie man im System Geld sparen und das Kompetenzwirrwar beseitigen kann, passiert ist nichts (das ist nur ein Beispiel). Jetzt hört der Bürger, ich glaube das dritte Mal, von einem Neuanfang. Mich wundert das nicht.
Ich glaube schon, dass Bruchstücke dieser Diskurse (Gender, usw.), längst auch auf dieser Ebene der Gesellschaft angekommen sind (aber zugegeben, es ist ein Glaube). Was diese Menschen mehr sorgt als der Arbeitsverlust, ist die Veränderung der Arbeitsbedingungen.
@Metepsilomena
Den von Ihnen verlinkten Artikel in »Science Files« finde ich außerordentlich tendenziös, aber kaum wissenschaftlich (was mir egal wäre, aber wenn sie nicht diesen Anspruch raushängen ließen...). Der Schreiber geht überhaupt nicht darauf ein, daß sich die Arbeitsverhältnisse grundlegend verändert haben, daß ein Großteil der Beschäftigten Dienstleistungen erbringt und daß es sich dabei vielfach um notwendige und nützliche Tätigkeiten handelt. Er tut so, als gebe es immer noch eine breite Schicht von Industriearbeiten, die handfeste Dinge unter Einsatz ihrer Körperkraft produzieren. Dienstleister produzieren demnach nur »Papier«, sie sind »Kostgänger«, anders gesagt: Parasiten. Dieser Artikel wiederholt einfach bestimmte, v. a. bei den Wählern der Rechtspopulisten verbreitete Stereotype.
Ich habe auch meine Probleme mit dem von Ihnen angeführten Artikel von di Fabio in der NZZ, aus anderen Gründen, nämlich: weil er das im akademischen Milieu übliche abwägende, tarierende Verhalten an den Tag legt: Bloß keine Extreme, bloß keine Fundamentalkritik, das ist alles sofort »Populismus«, egal ob links oder rechts oder sonstwo. »Dialektik« als Justierung des goldenen Mittelwegs.
Die alte Mitte ist in der Krise, daran zumindest besteht kein Zweifel. Keuschnig hat mehrfach auf die Macht der großen Koalitionen und ihr langsames Bröckeln verwiesen. Die klarste Aussage der österreichischen Bundespräsidentschaftswahl besteht darin, daß nur 22 Prozent der Wähler die beiden Kandidaten der (koalierenden) Großparteien (bald Ex-Großparteien) gewählt haben. Diese beiden haben exakt denselben Stimmenanteil erhalten, 11,18 Prozent. Fast 80 Prozent stimmten im ersten Wahlgang für Kandidaten des alternativen Bereichs.
Andererseits hat man in Österreich gesehen, daß die FPÖ in Regierungsverantwortung nicht viel zustande bringt bzw. das Gemeinwesen eher schädigt. Das war, zumindest bisher, die Art, wie die Populisten »pragmatisch« geworden sind. In der realen politischen Umsetzung haben sie sich bisher in Österreich nicht als Alternativen erwiesen. Vielleicht, weil es gar keine geben kann?
Ich vermute und hoffe, daß es welche geben kann, fühle mich aber nicht kompetent, sie konkret anzuzeigen. In meinem Schreiben (und Denken) interessieren mich wahlstrategische Überlegungen nicht besonders. Was mich u. a. bestürzt, ist ein Aspekt, der selten in die Diskussion gebracht wird. Di Fabio setzt in seinem Artikel voraus, daß man den Kapitalismus gar nicht vernünftig kritisieren kann. Er ist einfach eine Gegebenheit, die Frage ist, wie man damit politisch umgeht. Ich sehe aber und habe erfahren, daß sich der Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten wesentlich verändert hat. Das, was Adorno in seiner Kritik an der Kulturindustrie noch auf den Kulturbereich beschränkt sah, der nur einer unter anderen Bereichen war, durchdringt heute sämtliche Bereiche. Der Kapitalismus, und zwar durchaus der abstrakte Kapitalismus, also das System, hat sich der Kultur bemächtigt, auch und vor allem der Volkskultur, der Pop-Kultur, die einmal avantgardistisch und systemkritisch war. Kultur ist ein erstrangiger Wirtschaftsfaktor geworden, ein nicht unwesentliches Segment dabei der massenmedialisierte Sport. Damit wirkt das monetäre, profitfixierte Prinzip aber auch, über die Jahre hinweg, auf die Köpfe und Herzen. Wenn Sie sich die diversen Postings lesen, werden Sie feststellen, daß sich eine große Zahl von Leuten Demokratie als eine Maschine vorstellt, die ihre individuellen Bedürfnisse befriedigen und nicht ein Gemeinwesen möglichst sinnvoll am Leben erhalten soll. Sie tun alle so, als würden sie persönlich die Institutionen finanzieren (und nicht als Teil einer Gemeinschaft). Beispiel: Wenn sich jemand verletzt, soll er selbst für Rettung und Versorgung bezahlen, aber bitte nicht an mein (Steuer?)Geld rühren. Raucher werden gehaßt, weil sie von »meinem Geld« medizinisch behandelt werden, wenn sie Lungenkrebs kriegen. Haß über Haß, bei weitem nicht nur gegen Asylwerber. Haßpostings finden Sie heute zuhauf, die allermeisten werden toleriert, als ganz normal aufgenommen. Ich nenne hier gar nicht die (dümmeren), aus denen unverfroren der Neid spricht, der Haß auf jene, von denen sie glauben, daß sie privilegiert seien, ganze Schichten, die Lehrer zum Beispiel, obwohl es gerade daran mangelt, an guten Lehrern (ja, Science Files, die »belehrenden Kostgänger«!). All diese ano- und pseudonymen Personen, die sich gern zu Schwärmen summieren und Shitstorms entfesseln, statt Solidarität zu entwickeln und Kritik zu üben, erwarten von den Politikern, daß sie auf Wahlergebnisse schielen, daß sie Vorurteile und Stereotype aufgreifen und verstärken, kurz: Politik ist für sie grundsätzlich nichts anderes als Populismus. An dieser tiefgreifenden mentalen Veränderung, wesentlich bedingt durch die Macht der Kulturindustrie, haben alle politischen Richtungen teil, auch die ökologischen, auch die linken. Berufspolitiker haben das Gefühl, aber selten ein klares Bewußtsein, daß sie diesen neuen Bedingungen nicht entgehen können, sondern daß sie ihnen ausgeliefert sind, ja ihnen huldigen sollten. Demokratie, hat Keuschnig einmal gesagt, ist immer ein wenig populistisch. Das mag stimmen. Populus heißt nichts anderes als Demos. Das Grundproblem sehe ich darin, daß die vorherrschende Mentalität heute gleichbedeutend ist mit kurzfristigem Erfolgsdenken (Rankings!), wie es das kapitalistische Profitdenken vorschreibt.
Entsolidarisierung allenthalben. Es gälte, nach den Ursachen zu forschen (was ich hier auf meine dilettantische Weise ein kleinwenig versuche). Politische Antworten können nicht darin liegen, daß man dem Populismus entgegenkommt (was eh schon alle tun). Die Frage ist, wie man neue Formen der Solidarisierung entwickeln kann.
Di Fabios Artikel ist eine interessante Ergänzung zum Populismus-Buch von Müller, der ja durchaus konstatiert (wenn auch recht spät), dass die inflationäre Verwendung dieses Begriffs – zumal als Kampfbegriff »gegen« irgendwen – schnell verpuffen wird. Di Fabio wendet sich aber gegen ein »Durchregieren« der Europäischen Union. Dieses »Durchregieren« besteht – so verstehe ich ihn – eben genau nicht darin, auf populistische Strömungen zu reagieren, sondern einfach mit dem weiterzumachen, was man für richtig hält.
Ich möchte ungern der Diskussion zum Müller-Buch vorgreifen, daher nur soviel: Es ist doch bezeichnend, dass man inzwischen den Wählerwillen (um nicht den Begriff des »Volks« zu verwenden, der ambivalent ist) fürchtet. Dem »Populismus« wird mit dem »Durchregieren« eine Art Paternalismus des Richtigen entgegengesetzt. Aus welchen Gründen auch immer wehren sich die Wähler dagegen. Aber statt nun vom Paternalismus in einen argumentativen Diskurs überzuleiten, wird die Dosis einfach noch erhöht. Hinzu kommt, dass, wer nicht dafür ist, sofort abgeschrieben wird. Ich las auf Facebook nach der Bundespräsidentenwahl tatsächlich, dass die Wahl zeige, dass 49,7% der Österreicher Nazis seien. (Und das schreiben keine Dummköpfe.)
Zum Kapitalismus: Der Kapitalismus hat sich mit der Zeitenwende um 1990, als er sich endlich global und ohne Schranken etablieren konnte, verändert. Ich habe in den 1970er Jahren eine kaufmännischen Lehre bei einem Chemiehändler gemacht. Man hatte eigene Abfüllanlagen mit ätzenden und andersgefährlichen Produkten. An der Säureabfüllung (Salzsäure, Schwefelsäure) arbeitete ein Mann, der während meiner Zeit dort 50 oder 60 Jahre alt wurde. Er war dort schon 15 oder 20 Jahre tätig. Seinen Schulabschluss weiss ich nicht; vielleicht war es das, was man damals »Sonderschule« nannte. Sein IQ war vermutlich bei 80; sein Wortschatz sehr eingeschränkt. Aber seine gefährliche Arbeit (trotz Schutzhandschuhen und Schutzbrillen) erledigte er akkurat und fehlerlos, was ihm überall Respekt einbrachte. (Eine Verwechslung der Produkte in einer Mischung kann fatale Folgen haben.) Ein solcher Mann hätte heute keine Möglichkeit mehr – weder an einer Chemieabfüllanlage noch sonstwo.
Der ehemalige Intendant des WDR gestand vor ein paar Jahren einmal, dass er, ohne Abitur, heute nicht einmal mehr Pförtner in der Sendeanstalt werden könnte, wo er einst journalistische Sendungen geleitet und schließlich seine Intendanz verrichtet hatte. Er würde nicht einmal mehr eingeladen zu einem Vorstellungsgespräch.
Das alles sind Rückblenden aus einer Zeit, in der noch Arbeitskräfte Mangelware waren, zugegeben. Nach dem Krieg konnten viele eine Karriere beginnen, die heute unmöglich ist. Aber es war auch immer arbeitgeberseitig eine Bereitschaft vorhanden, »Risiken« bei der Besetzung von Stellen einzugehen. Es ging nicht sofort darum, aus jeder Zahnpastatube noch das letzte Fitzelchen herauszudrücken.
Wenn ich die Stellengesuche heute durchforste, entdecke ich das, was man das »Minimax«-Prinzip nennen könnte: Da werden maximal ausgebildete Kandidaten gesucht, die man dann zumeist mit minimalen Gehältern abspeisen möchte. Das erkennt man darin, dass die Anforderungen an die Berufserfahrung sehr eingeschränkt sind; 5 oder 6 Jahre Berufserfahrung sind schon am oberen Ende dessen, was man möchte. Ältere Mitarbeiter sind zu teuer, zu eigensinnig, zu wenig formbar.
Wer mit 40 Mittelschicht ist, muss Angst haben, bei einem wie auch immer motivierten Arbeitsplatzverlust, binnen zwei, drei Jahren abzurutschen in die untersten Stufen der sozialen Sicherungssysteme. Wenn die Babyboomer in Deutschland erst einmal in Rente und die Beamten in Pension gehen, reichen die Sozialkassen nicht mehr aus, weil zwischenzeitlich immer weniger Leute adäquate Arbeitseinkommen erzielen können, um die Kassen aufzufüllen. Gleichzeitig wird immer mehr Arbeit an Maschinen delegiert. Das Dienstleistungsgewerbe wird in den nächsten Jahrzehnten einen gewaltigen Aderlass verzeichnen. Viele Tätigkeiten im Alltag werden von den Kunden selber vorgenommen, sei es beim Einkaufen, bei Reisen oder bei der Verwaltung seines Kontos. Menschliche Dienstleistungen werden bald Luxus sein.
Die Frage ist, wie man neue Formen der Solidarisierung entwickeln kann.
Vielleicht ist das die Frage. Wobei zunächst geklärt werden müsste, wer sich mit wem zu solidarisieren hat. Wo soll Solidarität herkommen, wenn Gemeinschaften nach ’45 immer kritisch beäugt wurden. In dem kommunistischen Staaten pflegte man einen von oben verordneten »Sozialismus«, der natürlich auch nicht funktionierte. Im Westen war der Individualismus das Ziel. Dieser hat sich nach 1990 durchgesetzt. Der neue, globale Kapitalismus hat ihn dahingehend weitergeschrieben, dass jeder seines Glückes Schmied sein soll. Der amerikanische Traum – weltweit. Aber das funktioniert nicht. Es entsteht eine Ellenbogengesellschaft. Nur progressive Fußballtrainer gestehen manchmal, dass man »Konkurrenz« und »Wettbewerb« innerhalb der Mannschaft gut findet. Aber so kann man keine Gesellschaft zusammenhalten.
Wenn man will, kann man im aufkommenden Nationalismus vor allem in Osteuropa eine Gegenbewegung zum Individualismus entdecken. Aber dieser Nationalismus ist auch ausgrenzend; er schafft Schein-Identitäten, die mit Gehorsam erkauft werden. Und Nationalismus war nie kapitalismuskritisch; eher im Gegenteil.
Ich skizziere einmal die politischen Zustände in Österreich, dann wird vielleicht verständlich warum ich den Punkt, den der Artikel aufwirft, für wichtig halte (dass er polemisch ist und dahinter wohl eine staatskritische Position steckt, stimmt; jedenfalls vermisse ich diesen Aspekt in der Diskussion um die Wahl).
Von 2003 bis Anfang 2005 tagte der Österreich-Konvent, der zahlreiche Vorschläge zu grundlegenden Staats- und Verfassungsreformen gemacht hat. Die wichtigste und politisch unangenehmste, die Föderalismusreform, wurde bis heute nicht umgesetzt (andere, weniger politisch heikle, wie die Entrümpelung der Verfassung wurden in Angriff genommen), obwohl es dazu auch in jüngster Zeit Gelegenheiten gab (etwa die Hypo-Abwicklung). Das Resultat dieses Nichthandelns ist, dass die Landeshauptleute dem Bund vor der Nase herum tanzen können und Dinge, die ihnen nicht passen einfach nicht umsetzen (etwa das Beispiel der Beamtenpensionen in Wien) oder einfach diktieren was sie wollen, Stichworte Realverfassung und Landeshauptleutekonferenz, ein von der Verfassung nicht vorgesehenes Gremium. Das Ausbleiben dieser Reform ist ein wesentlicher Faktor warum in Österreich kaum Reformen gelingen, sie es oft nur dem Namen nach sind oder erst nach wiederholten Anläufen und öffentlichkeitswirksamen Skandalen durchgesetzt werden können; die Bildungsreform ist da ein gutes Beispiel: Niemand traut sich die Kompetenzen und Doppelgleisigkeiten zu beseitigen, die es zwischen Bund und Ländern gibt. Dazu kommt Geldverschwendung durch Inserate, parteinahe Verlage, denen Aufträge zugeschoben werden – ein Verhalten, das sich erst änderte, als dem gesetzlich ein Riegel vorgeschoben wurde – oder die immens hohe Parteienförderung. All dies (eine Pensionsreform, etwa) und viel mehr liegt seit Jahren herum. Und wenn etwas getan wird, sind es meist kosmetische Reformen, halbgare Angelegenheiten mit Hintertürchen die offen bleiben (Lohnsteuerreform, etwa das Fehlen von Sanktionen, wenn eine Partei gar keinen Rechenschaftsbericht über ihre Finanzen abgibt). Wir brauchten einen Finanzskandal um einheitliche Budgetregeln für die Länder einzuführen und die Kameralistik abzuschaffen. Wenigstens das konnte dann doch nicht verhindert werden, aber es brauchte fünf Anläufe (dass etwas wie die Heiligenbluter Vereinbarung überhaupt möglich war, ist bezeichnend und typisch für die österreichische Realverfassung; und was die Länder noch immer nicht müssen: Selbst Steuern einheben und mit diesen auskommen, sie werden über den Finanzausgleich finanziert, etwa 22 Milliarden für die Länder, etwa 10 für die Gemeinden, das ist aber noch nicht alles [lesenswerte Details und weitere Beispiele dort], ein System das den verantwortungsvollen Umgang mit finanziellen Mitteln ungemein fördert; dazu kommt, dass Minister bzw. Kanzler bei uns regelmäßig auf Zuruf der Landeshauptleute vor allem Prölls und Häupls abgesetzt oder inthronisiert werden; Beispiele aus der nahen Vergangenheit sind Spindelegger, Mikl-Leithner oder Kern). Den Linzer Finanzskandal, die Kärntner Landesbank namens Hypo-Alpe-Adria (die von den Haiderschen Umtrieben über Kontrollversagen, den von allen politischen Parteien im Landtag beschlossenen Landeshaftungen, die Notverstaatlichung und die politisch motivierte Verzögerung der Abwicklung, reicht), das Wiener Crossborderleasing, die Veranlagung von Wohnbaugeldern, Frankenkredite, die angeblich kein Spekulationsinstrument darstellen, hohe Gewerkschaftsfunktionäre, die sich Sozialbauwohnungen unter der Hand sichern, einen Wiener Bürgermeister, der Jungunternehmern empfiehlt einmal bei ihm vorbeizukommen, Nationalbankpensionen, etc., etc.* Die Schattenseite der österreichischen Gemütlichkeit.
Der Staat hat genau eine Aufgabe, nämlich die Sicherstellung des allgemeinen Wohls; die ihm zur Verfügung gestellten Gelder sind zweckmäßig und sparsam einzusetzen, sie müssen erwirtschaftet werden (wir haben eine Staatsquote von über 50%). Ich sehe nicht ein, warum diese Republik ein politischer Selbstbedienungsladen sein soll, ein Ort verantwortungslosen Handels oder einer von Freunderlwirtschaft. Was ich aber am allerwenigsten einsehe, ist, dass Menschen nach schweren Krankheiten eine Invalidenpension nicht zuerkannt wird oder anderen, die nach Organtransplantationen eingeschränkt und deutlich kürzer als der Durchschnitt leben, wieder etwas gestrichen oder aberkannt wird.
Der Zorn lenkt die Unzufriedenen dorthin, wo etwas gegen dieses System unternommen wird, weil – da es sich nicht selbst reformieren kann – weg muss, so die logische Folgerung. Was danach kommt, zählt zunächst nicht. Dass die Blauen kaum besser, sondern im Vorgehen eher dilettantischer sind, darüber täuschen sich viele wohl hinweg (vielleicht in der Hoffnung, dass jemand ins Loch spring, aber wer soll das sein?). Die Wähler der FPÖ setzen sich aus vier Teilen zusammen, zwei davon, das von Ihnen angeführte Lumpenproletariat und die die sich dort ideologisch wohlfühlen, sind nicht diejenigen, die die Partei stark machen, das sind diejenigen, die mit dem beschriebenen System gebrochen haben, Arbeiter (nicht in strengem Sinn) und Bürgerliche und sie haben für ihre Unzufriedenheit gute Gründe (und beide würden ohne weiteres wieder anders wählen).
Über (fast) all diese Dinge ließe sich leicht ein überparteilicher Konsens herstellen, was fehlt ist der politische Wille. Wer sich fünf Minuten Zeit nehmen will, kann sich das Interview mit Franz Fiedler vom 25.5. (Ö1) anhören, er schildert und beschreibt gut, warum er pessimistisch bleibt. Und ich schließe mich ihm an, man muss sich nur ein paar Indizien näher ansehen, etwa wie der neue Bundeskanzler ins Amt kam und, dass er, darauf angesprochen, durchblicken ließ, dass er nicht daran denkt, die über zwanzig Krankenkassen in Österreich zusammenzuführen (dass fast die gesamte Medienlandschaft mitjubelt ist bezeichnend).
Ich stelle folgende Prognose: Kern wird zusammen mit Mitterlehner Arbeitsmarkt- und Wirtschaftsreformen auf den Weg bringen, vielleicht auch noch anderes; es wird zu wirtschaftlichen Verbesserungen kommen, die Arbeitslosenrate wird sinken; dies wird genug sein um der großen Koalition Stimmenzuwächse zu bringen, die für weitere ein bis zwei Perioden genügen. An den grundsätzlichen Problemen im Land wird sich nichts ändern (Kern wurde entgegen den Intentionen Häupls, der Zeiler präferierte von den übrigen Länderchefs zum Kanzler gemacht, die sich ohne Häupl trafen und ihn vor vollendete Tatsachen stellten, eine kleine Sensation; Kern wird sich mit ihnen nichts verscherzen wollen, einen neuen innerparteilichen Streit ist das letzte was die SPÖ braucht).
Richtig, Kakanien ist abgesakt und wer die Verhältnisse im Land ändert, wird leicht eine neue Solidarisierung finden und entwerfen können.
* * *
Noch zwei Anmerkungen: Eine nationale Rechte muss (wie eine internationale Linke, die nur aus anderen Gründen) gegen einen internationalen agierenden Kapitalismus auftreten, weil dieser alle Bindungen auflöst (und auflösen muss), um die Menschen ökonomisch verfügbar zu machen; umgekehrt erhoffen sich viele Menschen wohl Schutz in solchen Bestrebungen. Generell gilt: Jede überindividuelle Bindung, jede Tiefenerzählung setzt Referenzpunkte und damit Sinnerzählungen jenseits der Ökonomie (die ja eigentlich nur ein Mittel zum Wohle des Menschen sein sollte).
Ja, di Fabio sieht wo das Problem liegt: In Wahrheit ist die Frage nach einer europäischen Zusammenarbeit nur eine nach ihrer Gestaltung, nicht eine prinzipielle (die Linke will den Kapitalismus nicht, die Rechte die Nationen erhalten und die derzeitige Politikerelite ein [zunächst] vor allem ökonomisches Projekt).
* * *
*Diese Aufzählung ist selbstverständlich unvollständig.
Wie Keuschnig andeutet: Es wird besser sein, die Debatte anhand des Populismus-Buchs fortzusetzen.
Nur kurz zwei oder drei Punkte: Der Dienstleistungssektor wird einbrechen, körperliche Tätigkeiten werden noch mehr von Maschinen übernommen werden. Das heißt aber: noch viel höhere Arbeitslosigkeit. Daher das Projekt (teilw. Realität) einer Grundsicherung. Allerdings fraglich, wie auf Dauer zu finanzieren. Im Grunde bestünde im Überflüssigwerden unkreativer Arbeiten eine große Chance (wie schon Marx prognostizierte). Bestimmte Erfahrungen, die auch die obige Erzählung zum Ausdruck bringt, lassen allerdings zweifeln, ob diese Chance genutzt werden wird. Da spielen dann ethische, mentale, pädadogische Fragen herein.
Wie Metepsilonema Österreich beschreibt (ich glaube, zutreffend), erinnert an das alte Fortwursteln. Musil hat es im »Mann ohne Eigenschaften« als kakanisches Grundprinzip dargestellt, und zwar mit aller Ambivalenz. Fortwursteln kann auf Dauer gefährlich werden, alle Kreativität zerstören usw. Der »Mann ohne Eigenschaften« sollte mit der Katastrophe des 1. Weltkriegs enden, aber Musil hat das Ende des Romans schreibend verschoben, jahrelang, noch zu Zeiten, als bereits der 2. Weltkrieg im Gange war.