Im Wallstein-Verlag ist vor kurzem ein Buch mit dem interessanten Titel »Dichterdarsteller – Fallstudien zur biographischen Legende des Autors im 20. und 21. Jahrhundert« erschienen. Die beiden Herausgeber Robert Leucht und Magnus Wieland stellen zunächst in einer Einleitung die lange vergessene These der »biographischen Legende« des russischen Literaturwissenschaftlers Boris Tomaševskij aus dem Jahr 1923 vor. Schließlich gibt es Fallstudien diverser Autoren, die die biographischen Legenden von Hugo von Hofmannsthal, Thomas Mann, Franz Kafka, B. Traven und Thomas Bernhard untersuchen. Zu Peter Handke referiert Karl Wagner den »Auftritt« Handkes bei der Gruppe 47 in Princeton 1966 und setzt ihn in Relation zu anderen, damals durchaus üblichen, weitaus opulenteren Auftritten von Schriftstellern in Konzerthallen oder Stadien. Auch über Rollenzuweisungen bei Dichterinnen gibt es einen (sehr interessanten) Beitrag (von Evelyn Polt-Heinzl). Schließlich beschäftigt sich ein Text mit Medium Twitter und den »Gebrauch« dieses Mediums von amerikanischen Autoren wie vor allem Bret Easton Ellis aber auch von Mark Z. Danielewski, Chuck Palahniuk und Lindsay Lohan.
Die biographische Legende wird dabei als Konstruktion hin zum Werk interpretiert und als Abgrenzung zum empirischen Autor aber auch zur Autorenfigur im literarischen Text betrachtet. Sie ist somit eine dritte auktoriale Instanz; sozusagen »zwischen« der realen Vita des Autors und dessen Werk. Sie ist vom Autor nur begrenzt zu beeinflussen. In einem der Aufsätze im Buch wird Tomaševskij dahingehend zitiert, dass es im Einzelfall »schwierig zu entscheiden [sei], ob die Literatur diese oder jene Lebenserscheinung reproduziert oder ob umgekehrt diese Lebenserscheinungen das Resultat des Eindringens literarischer Schablonen in das Leben ist«. Daher darf, wie die Herausgeber im Résumé des Buches klarstellen, die biographische Legende nicht reduziert werden auf »Pose, Marke, Image, Inszenierung oder Habitus«. Diese Selbstinszenierungsstrategien werden vom Autor (bzw. dem Verlag oder anderen Vermarktern) bewusst gewählt. Dagegen verschmelzen in der biographischen Legende biographische Aspekte im Werk und Werkaspekte im Leben zu einer neuen ästhetischen Figuration.
Die biographische Legende böte sich an, die jeweiligen literaturwissenschaftlichen Lager zu versöhnen: Zum einen jene, die eine strikte Trennung von Werk und Leben fordern. Und zum anderen jene, die einem Biographismus frönen und jede Textstelle mit dem realen Leben des Autors, der Autorin in Bezug bringen.
»Staatsfernsehen«
Der letzte Beitrag dieses Bandes verdient nicht zuletzt in Hinsicht auf den anstehenden Ingeborg-Bachmann-Preis besondere Aufmerksamkeit. Er ist von Christoph Steier und trägt den merkwürdigen Titel »Staatsfernsehen«. Erst der Untertitel gibt nähere Auskünfte: »Ästhetik und Funktion des Klagenfurter Autorenporträts im 21. Jahrhundert.«
Steier beginnt seinen Text mit dem Satz »Katja Petrowskaja würde gewinnen«. Derart sei seine Prognose nach Sichtung der Autorenvideos zum Bachmannpreis 2013 vor Kenntnis der jeweiligen Texte der Lesenden gewesen. Und siehe da: Petrowskaja gewann.
Der Autor hat – so scheint es – den Stein der Weisen gefunden, die »biobibliographische Formel«. Die »bipolare Gretchenfrage« der »Großnarrative« zwischen Leben und Werk würde dahingehend beantwortet, dass in Klagenfurt eine spezifische, sich im Autorenportait (vulgo Video) zeigende »Autor-Text-Figuration«, die »selber eine Geschichte erzählen« muss, Preise erhält. Die Hauptpreisvergabe der letzten 14 Jahre basiere mehrheitlich auf »dem im jeweiligen Video präfigurierten Moment der Konversion, die im ‘Bewerb’ als Initiation vollzogen wird«. Ausgezeichnet würden »nicht Texte, sondern Autoren, deren Legende die Institutionen in Klagenfurt in zunehmender Oligarchie selbst zu produzieren unternimmt.«
Belohnung oder Konversion
Später legt Steier noch eine etwas volkstümlicher formulierte Version seiner These auf. Der Wettbewerb in Klagenfurt muss den Autor als an einem Übergang stehend zeigen. Hierfür gibt es zwei Möglichkeiten. Wawerzinek, Haderlap, Petrowskaja waren AutorInnen, die in der Szene zwar bekannt waren, durch die Lesung in Klagenfurt jedoch aus ihrem Nischendasein, in dem sie ein »symbolisches Kapital« angesammelt hatten, heraustraten. Nun erreichten sie die große Bühne. Der Preis fungierte dabei als »nachträgliche Anerkennung eines bisher am Markt vorbei produzierten Œuvres«, das symbolische Kapital werde nun entsprechend verzinst. Von mir wird dies im weiteren Verlauf dieses Textes »Belohnungsmotiv« genannt.
Im Falle von Passig, Petersen, Rammstedt greift diese Erklärung nicht. Ihre Auszeichnungen sind als »Anerkennung eines eingeschlagenen neuen Weges« zu sehen. Die drei genannten waren zwar nicht gänzlich publizistisch unbekannt, hatten zwar kein größeres Werk zu bieten; es gab nichts zu belohnen. Mit ihrer Lesung wurden sie nun zum »Literaturbetrieb Übergetretene« (Leucht/Wieland). Ich nenne dies »Konversionsmotiv«. Aber es geht nicht ganz ohne Bezug auf den literarischen Betrieb. Daher schreibt Steier auch später: »Einen Sieger aus dem völligen publizistischen Nichts gibt es in Klagenfurt nicht«.
Es gibt auch beide Motive, die Steier bei Seiler und Martynova ausmacht. Ob das Zutreffen beider Motive die Preisvergabe begünstigt, bleibt unklar.
Folgt man Steiers Ausführungen besteht die Aufgabe des Autors darin, seine Autorendarstellung im Video durch den Text zu beglaubigen. Dabei ist zu beachten, dass die Übereinstimmungen nicht zu offensichtlich sind; eine gewisse Überraschung sollte es doch noch geben, was in der schönen Formel einer »Kombination von Neuheit und Redundanz« mündet. Fehlt der Faktor »Neuheit« so scheitert die Preisvergabe, wie an Beispielen ausgeführt wird. So ganz überflüssig ist der Text also doch nicht. »Wenn…weder die Bestätigung noch die zaghafte Verschiebung der bestehenden biographischen Legende« sich hinreichend im Text zeigt, so fällt dieser bei den Juroren nicht literarisch-ästhetisch durch (die Lobe gäbe es trotzdem), aber sie erhalten keine Preis. Das gleiche gelte für zu perfekte Texte oder auch für zu bekannte AutorInnen. Die Liste, die Steier aufführt, ist imposant; hier hätte man sich ein oder zwei Beispiele gewünscht.
Sehr flexibel in der Auslegung seiner These zeigt sich Steier im Fall von Tex Rubinowitz, dem Bachmannpreisträger von 2014, der ohne ein Videoportrait den Preis gewonnen hatte. Hier greift, so die Interpretation, das Konversionsmotiv in Kombination mit einer besonders hohen Bekanntheitsgrad (als Cartoonist und Zeichner).
Geschmeidige Argumentation
Eine gewisse argumentative Geschmeidigkeit des Autors zeigt sich auch an anderen Stellen. Zunächst spricht er von der Ansicht von »200 Videos«, die nach der »Jahrtausendwende« produziert wurden. Geht man davon aus, dass er damit als Beginn das Jahr 2000 nimmt und als Ende das Jahr 2014 (Rubinowitz als Preisträger), gab es 236 Lesungen, wobei 6 Teilnehmer auf ein Video verzichtet hatten, einer statt eines Portraits einen »Vorfilm« aussuchte und zwei Videos laut ORF-Archiv auf Wunsch der Autorinnen entfernt wurde (eines davon – Antonia Baum – erwähnt Steier; Dorothee Elmiger nicht, was vermutlich Baums inzwischen gewachsener Popularität geschuldet ist). Somit hätte er 227 Videos ansehen müssen; er schreibt aber von 200.
Schließlich verändert er laufend seine Untersuchungszeiträume. Ist zunächst von der Jahrtausendwende die Rede, wird plötzlich der Zeitraum zwischen 2006 und 2013 genannt und dann, zwei Seiten später, noch einmal auf 2007–2014 verändert. Ab 2007 stellt er nämlich fest, dass der Hauptpreis zumeist an (vergleichsweise) »ältere« AutorInnen geht (eigentlich ein Belohnungsmotiv, aber das gilt dann nicht für Rammstedt 2008 und Petersen 2009), die Nebenpreise hingegen an jüngere Teilnehmer, vermutlich, so Steier, um die Verlage zu ermuntern, junge Talente weiterhin nach Klagenfurt zu schicken. Frappierend ist, dass auch die Preisträger 2015 (die nicht von Steier berücksichtigt werden, weil vermutlich der Text schon 2014 fertig war) diesem Muster entsprichen. Mit der Hauptreisträgerin Nora Gomringer wurden wieder beide Motive angesprochen und die beiden anderen Preisträgerinnen entsprachen ebenfalls dem Schema.
Die Übereinstimmungen machen skeptisch. Hätten nicht auch Olga Flor 2014 oder Leopold Federmair 2012 den Hauptpreis bekommen können (Belohnungsmotiv)? Oder Anousch Müller, die 2013 aus der »Twitter-Literatur« kam, im Rahmen des Konversionsmotivs (à la Passig)? Und warum hat eigentlich Passig 2006 den Hauptpreis bekommen (Konversionsmotiv) und nicht Norbert Scheuer (Belohnung)? Wegen ihres »autoreferentiellen Auftritts«? Steier wird argumentieren, dass die Texte der Gescheiteren nicht ausreichend die im Portrait ausgegebene »Autor-Text-Figuration« unterstützt hätten. Aber hier hätte man sich detailliertere Ausführungen gewünscht (was aber womöglich den Rahmen des Textes gesprengt hätte).
»Positiver Rassismus« und das Pochen auf das biographische Erlebnis
Launig wird es, wenn Steier den durch einige Juroren mindestens in den letzten Jahren (meist paternalistisch daherkommenden) »munter-herbeigeredeten positiven Rassismus« analysiert, wie etwa Caduffs Lob einer »Nicht-German-Native-Speakerin« (sic!) gegenüber oder Feßmanns Rede auf Senthuran Varatharajah. Hier weicht die dritte auktoriale Instanz der biographischen Legende einem vulgären Biographismus, der auch noch nach einer entsprechend »korrekten« Rezeption verlangt.
Am Beispiel von Wawerzineks Text, der 2010 gewann, wird die Instrumentalisierung des Biographischen deutlich. Als es in der Jury-Diskussion Kritik an seinem Text gab, meldete sich – was ungewöhnlich ist – der Autor zu Wort und wies mit ein paar Worten auf die Schwierigkeiten hin, diese, seine Geschichte (eine Kindheit in den 1950er/1960er Jahren in einem Heim in der ehemaligen DDR) niederzuschreiben. »Der Bann wirkte«, so Steier, »auch die zuvor schärfsten, formal argumentierenden Kritiker des durchaus kitschwürdigen Textes wagten im Anschluss nicht mehr, diesen unabhängig von Wawerzineks Biografie zu verhandeln.«
Vorher hatte Steier Wawernizek als Preisträger des Belohnungsmotivs ausgemacht, wenig später macht er einen bewusst inszenierten Biographismus aus. Greift hier die biographische Legende, die ja ausdrücklich nicht die Inszenierung meint, nicht mehr? Die Antwort bleibt aus. Auch anderweitig mangelt es ein wenig an Konsistenz. Nachdem zunächst suggeriert wird, dass das Portrait und der biographische Werdegangs des Autors ausreichend für die Ermittlung des Preises sind (man vergleiche den ersten Satz seines Aufsatzes), kommt dann doch noch der Text ins Spiel. Und gegen Ende ist dann sogar vom »Dreischritt Video, Lesung, Diskussion« die Rede. Dennoch erscheinen die Juroren bei Steier seltsam determiniert. Die Preisfindung wird reduziert auf eine Art Reiz-Reaktions-Schema: die biographische Legende, die ihren Ausdruck im Video findet und der Bestätigung dieser Legende im Text des Autors.
Sehnsucht nach der Dekonstruktion literarischer Analyse
In einer ersten Reaktion auf die Konfrontation mit Steiers These beharrt Klaus Kastberger, Juror seit 2015, zwar auf »eine gewisse Widerstandskraft der Literatur«, konzediert jedoch, dass die Juroren nur noch »ein Teil der [Fernseh-]Dramaturgie« seien. Sie stünden mit ihren Kriterien nicht mehr über dem Geschehen. Das würde in der Konsequenz bedeuten, dass der Verlauf des Wettbewerbs ein anderer wäre, wenn das Fernsehen nicht übertragen würde.
Die langjährige Jurorin Daniela Strigl bestand und besteht ebenso wie Kastberger auf einem Vorrang der Literatur: Es »sollte hier um den Text gehen und nur um den Text.« Tatsächlich habe es einmal die Idee gegeben, für die Videos einen eigenen Preis zu stiften. Dies sei aber fallengelassen worden, nicht zuletzt weil »die finanziell Potenten oder jene mit Kontakten zu Filmszene« bevorzugt gewesen wären. Sie selber habe die Videos nicht vorher angeschaut und sich vollends auf die Texte konzentriert. Hinzu komme, so Strigl, dass die Videos manchmal für die Jury nicht hör- und/oder sichtbar gewesen seien.
In Steiers Klagenfurt-Formel (über die Kastberger leicht ironisierend mit dem Hashtag #kff einige Bemerkungen getwittert hatte) spiegelt sich die Sehnsucht nach der Dekonstruktion literarischer Analyse durch eine Art medialer Phänomenologie. Wie schon in der »Automatischen Literaturkritik« (auf die Steier hinweist) werden außerliterarische Kriterien bemüht, um literarische Qualität positivistisch zu messen. Der Traum so manches Klagenfurt-Groupies ist erfüllt: Das After-Show-Programm kann sofort beginnen. Es winkt (oder droht?) der unendliche Spass. Oder doch eher die unendliche Langeweile?
Und längst scheint sich ein neues Phänomen herauszubilden. Nach der Bekanntgabe der Lesenden werfen einige TeilnehmerInnen ihre Netzwerk-Maschinen an und versuchen ein höchstes Maß an Aufmerksamkeit im Vorfeld zu erzeugen. Die derart begonnene Selbstdarstellungsmaschine muss dann nur noch durch entsprechende Multiplikatoren (Zeitungen; Onlineforen) aufgenommen und angeheizt werden. So werden »Stars« erzeugt, deren einzige Leistung darin besteht sich möglichst laut und/oder schrill in Szene gesetzt zu haben. Medien mögen diese Form der Personalisierung. Mit biographischer Legende im Sinne Tomaševskijs hat das nichts mehr zu tun, zumal die Literatur in solchen Inszenierung gänzlich abwesend ist.
Eine besondere Pointe des (nicht einmal nur wegen Steiers Aufsatz sehr empfehlenswerten) »Dichterdarsteller«-Buches ist es, das es zwar um biographische Legenden und Autor-Werk-Konfigurationen geht, aber nicht einmal Kurzbiographien der Autoren der Aufsätze abdruckt sind.
Die Bedeutung dieser Klagenfurt-Minivideos wird m. E. überschätzt (Tex Rubinowitz hat die entsprechende Konsequenz gezogen). Literaturwissenschaftler beschäftigen sich gern mit Kinkerlitzchen.
Steier ist ja sowohl Literaturwissenschaftler wie auch Schriftsteller. Sein Text für den Sammelband der »Dichterdarstellungen« ist mir persönlich dahingehend zu wenig »wissenschaftlich«, da er nicht genau spezifiziert wie er zu den Ergebnissen kommt. Gerade da, wo es interessant wird, ist er von präziser Ungenauigkeit.
Ich gestehe, dass mich die Videos nie besonders interessieren. Meist gehe ich, wenn sie denn laufen, zur Toilette oder mache mir einen Kaffee. Ganz selten schaue ich mal eines im Internet vorab an. Für Leute, die sich normalerweise wenig oder gar nicht mit Literatur beschäftigen, ist das so etwas wie ein in bewegten Bildern erscheinender Klappentext.
Ich werde aber nie vergessen, als eine wirklich renommierte Jurorin sichtlich irritiert war, als Andreas Maier 2000 auf ein Video verzichtete. Sie kannte den Autor nicht (was nicht schlimm war) und hoffte vermutlich mehr biographisches über ihn zu finden, um ... Ja, was? Ich rätsele heute noch.