Es geht natürlich immer um Werte. Um »unsere Werte«. Nach der Amokfahrt von Nizza tönt der französische Botschafter in Berlin davon. Wir würden »diese Schlacht gewinnen«. Und RB Müller, durch den blöden Gang der Geschichte auch Chef eines Bundeslandes (das, wäre es geografisch in Afrika angesiedelt, sicherlich als »failed state« gelten würde), tutet in das gleiche Horn. So werden die Opfer von Nizza wie auch all die anderen Opfer von terroristischen Amokläufen ungefragt zu Ikonen eines, natürlich unseres Wertesystems. Das Märtyrertum gibt es also nicht nur bei den anderen. Perfekt onduliert verkündete schon vorher Inkompetenz-Präsident Hollande, dass man den Kampf (oder sagte er wieder »Krieg«?) gewinnen werde und man stellt sich schon vor, wie er am Schreibtisch neue Einsatzbefehle für Syrien und den Irak unterschreibt. So haben dann alle etwas von unseren Werten.
Knapp 24 Stunden später ging weiter. Diesmal musste die »demokratische Ordnung« wieder hergestellt werden. Teile des türkischen Militärs wollten Sultan Erdoğan absetzen. Der entdeckte plötzlich die Medien, die er eigentlich bekämpft und rief seine Landsleute zu Protesten auf. Wie es aussieht, ist der Putsch gescheitert. Alle sind erleichtert. Die Erdoğan-Kritiker behalten ihren Fetisch inklusive Causa Böhmermann. Frau Merkel und die EU müssen ihre Werte in Bezug auf Flüchtende nicht neu verhandeln. Die Beitrittsverhandlungen können weitergehen. Und auf WDR2 hatte eine Journalistin heute früh schon alle Türken in Deutschland befragt und verkündete das Endergebnis: Nein, eine Militärdiktatur wollten die hier lebenden Türken nicht.
Militärdiktaturen mögen wir nur, wenn es um Länder wie Algerien, Ägypten oder Thailand geht (wenn man etwas länger zurückblickt, fallen einem noch viele andere Länder ein). Da nimmt man es mit dem demokratischen Ordnungen nicht allzu genau. Und wo es nicht einmal im Ansatz solche Ordnungen gibt, braucht man sich auch nicht darum kümmern. Daher klappt das mit Saudi-Arabien so gut. Oder Katar. Oder, oder, oder…
Ja, sie sind wirklich toll, unsere Werte.
Du wirst es bemerkt haben, aber genau vor dieser Endlosschleife aus geballter Heuchelei, Doppelmoral und bewusst gestreuten Halb- und Unwahrheiten habe ich mittlerweile kapituliert. Sarkasmus, wie von Dir oben angewendet, hilft mir nicht mehr, meine Empörung, ja meine Wut über diese permanenten Versuche der Gehirnwäsche zu zügeln. Schriebe ich noch was, würde ich ausfallend – und das habe ich mir verboten. Trotzdem: Dein Sarkasmus gefällt mir, gefällt mir sehr, wie einstmals Romy Schneider in anderem Zusammenhang flirtete.
Ja, mit Burkhard Driest in der ersten deutschen Talkshowreihe. Selige Zeiten, als Prominente noch Geheimnisse hatten statt Twitter-Accounts.
Ich habe im übrigens nichts gegen Realpolitik. Man kann Saudi-Arabien als strategischen Partner haben, den Putsch in Ägypten gutheißen oder auch mit Billigfleisch ein Vier-Sterne-Restaurant betreiben wollen. Aber dann sollte man ein wenig bescheidener sein und diese Heucheleien einfach sein lassen.
Allerdings könnte man dann auf einen Wladimir Putin nicht mehr von oben herabschauen: Dieses bisweilen hilflose, fordernde, verkündigende, vorgeschobene Rekurrieren auf unsere Werte dient zuallererst dem Schließen der eigenen Reihen, dem Ausrichten auf ein Ziel, einen Weg und dem Hintanhalten von Kritik. Früher sprach man von Gott, Kaiser, Vaterland, Volk, Nation oder Reich: Im Zeitalter der Überwindung nationaler Egoismen und der Installation überstaatlicher Gebilde, muss man seine Interessen anders verbrämen und moralisch rechtfertigen. — Verwunderlich ist dann nur mehr die Verwunderung darüber, dass manche die direkte Art Putins für ehrlicher und sympathischer halten.
Das habe ich bei Putin nie gemacht. Er ist natürlich auch ein Autokrat, aber ich kann ihn nicht dafür verurteilen. Die Probleme, die er womöglich verursacht, müssen die Russen selber lösen.
Interessant finde ich die Parallelen zwischen Erdoğan und Putin: Beide galten für den Westen als Hoffnungsträger; Putin sprach im Deutschen Bundestag mal in deutsch (er spricht es aus seiner Geheimdienstzeit in der ehemaligen DDR perfekt). Erdoğan hat das Land modernisiert, allerdings nur ökonomisch. Gesellschaftspolitisch wurde am Laizismus Hand angelegt, aber das hatte man lange verdrängt. Beide haben sich in den Jahren ihrer jeweiligen Amtszeiten verändert. Das vermutlich auch (aber nicht nur), weil der Westen sie hingehalten hatte, sich ihrer zu sicher wähnte.
Meinte ich auch nicht. Natürlich ist er ein Autokrat, wie Erdoğan, wobei mir letzterer als wesentlich unberechenbarer erscheint: Putin denkt geopolitisch, in Einflusssphären, Interessen, usf., ohne stringente Logik geht das nicht. Beide vertreten nach außen deutlich die Interessen ihrer Länder (oder was sie dafür halten, mit entsprechenden Konsequenzen nach innen), ähnlich wie das auch die Vereinigten Staaten tun. Europäische Staaten tun sich mit dieser »Offenlegung« oder der Diskussion von Interessen schwer (das ist auch in der Bevölkerung kaum verankert), man verdeckt sie oder lehnt sich an seine Bündnispartner an (das ist ein Manko, denn man nimmt sich dadurch auch die Möglichkeit zu verstehen, warum andere Staaten wie handeln; im Ukrainekonflikt hat sich das gezeigt; vielleicht ist das auch ein Grund warum die politische Union Europas so wenig Rückhalt in der breiten Bevölkerung zu haben scheint).
Bei Putin bin ich mir ziemlich sicher, dass er vom Westen und speziell von Deutschland enttäuscht wurde, bei Erdoğan spielt das wohl auch eine Rolle, er hat doch vor Jahren und zur Zeit der intensiven Verhandlungen und Diskussionen die EU als Christenclub bezeichnet. Wäre Erdoğan einen anderen Weg gegangen, als den der letzten Jahre oder war der jetzige immer sein Ziel, wie das diverse Äußerungen und Zitate seine politischen Vergangenheit nahelegen? War eine Enttäuschung oder Nichtakzeptanz von Seiten des Westens (für die es gute Gründe gegeben haben mag) mit Ursache für seine Hinwendung (wenn es denn eine war) zum Islam?
Beiden, Putin wie Erdoğan, scheint die Außenwahrnehmung ihres Landes, wie dessen Status eklatant wichtig zu sein: Russland als Großmacht, die Türkei zumindest als eine regionale Macht (beides kann man realpolitisch – siehe etwa Syrien – auch nicht einfach abstreiten).
Ich glaube, dass politische Macht einen menschlichen Charakter verändern kann (nicht muss). Es ist wie Zucker – man kann irgendwann nicht mehr davon lassen. Hinzu kommt bei jemandem wie Putin, dass er auch seine politische Macht auch wirtschaftlich nutzt(e). Schon das Wechselspielchen Staatspräsident/Ministerpräsident mit Medwedew deutete in die Richtung, dass sich da jemand nicht verabschieden wollte.
Merkel war noch nicht Bundeskanzlerin, als sie, als es um die Beitrittsverhandlungen der Türkei zur EU ging, eine Mitgliedschaft der Türkei vehement abgelehnt hatte. Sie konzedierte eine »privilegierte Partnerschaft« (das gibt es zu großen Teilen wirtschaftlich heute schon), aber das war Erdoğan nicht genug. Inzwischen muss sie bei ihm die Bittstellerin machen. Es scheint so zu sein, dass ihm die EU-Mitgliedschaft nicht mehr wichtig ist.
Ein wichtiger Punkt ist die praktisch vollkommene Abwesenheit geopolitischer Interessen bei der EU. Es geht ihr einzig um die Vergrösserung des Marktes und die einheitlichen Bedingungen. Die Versuche, dies zu erweitern, sind dilettantisch (man denke an den Euro). Diese Abwesenheit bleibt aber auch nicht aus, weil die Interessenlagen der einzelnen Länder zu divergierend sind. Mit dem Ausstieg Großbritanniens könnte sich das ein bisschen ändern, aber es bleiben große Unterschiede. Militärische Bedrohungen durch Russland empfindet man in den baltischen Staaten als gegeben – in Spanien und Portugal eher nicht. Es gibt nicht einmal ein Außenministerium; der-/diejenige wird »Außenbeauftragte(r)« genannt; ein Unsinn, den man sich nur in der EU ausdenken konnte. Die Frage ist ja, ob ein derart reines Handelsimperium auf Dauer Bestand haben wird.
Ja, und ähnliches könnte man auch bei Erdoğan veranschlagen, mit seinen Ambitionen auf das Präsidentenamt und dieses dann (jetzt) entsprechend umzubauen. Ich bin heute zufällig auf einen älteren Artikel in der Welt gestoßen in dem die Überlegung zu finden war, dass Erdoğan damals einen EU-Beitritt u.a. deshalb anstrebte, weil er sich dadurch der Macht des Militärs entledigen hätte können (das in der EU restlos unter demokratische Kontrolle gestellt werden müsste).
Das was Europa grundiert sind Kultur und Geschichte, woraus man etwas wie eine übergeordnete Zivilisation ableiten kann, aber keine (einheitliche) politische Idee (die Staatsform Demokratie ist wohl fast überall vorhanden, aber das ist zu wenig und zu kurz). Eine zivilisatorische Erzählung (was etwa der »Abendland« Begriff tut), könnte man historisch und kulturell konstruieren, aber politisch war der Kontinent immer vielfältig, uneinheitlich, ja gespalten. — Ein, wenn wir den Begriff verwenden wollen, europäischer Bürger, weiß, abgesehen von diffusen Wohlstandsversprechen, die man national ebenso proklamieren könnte, überhaupt nicht welche Eigeninteressen, welcher Standpunkt, auf der europäischen Ebene (nach außen hin) vertreten werden, kurz gesagt: er weiß nicht, woran er diesbezüglich ist und das muss letztlich in einen Loyalitätskonflikt münden.
Politik und Wirtschaft stehen in einer Wechselwirkung, die erstere schafft die Grundlagen, die zweitere die Mittel, ein reines Handelsimperium kann nur dann überleben, wenn es in einem Bündnissystem steckt, welches es geopolitisch und militärisch einbindet, das hat allerdings einen Preis, nämlich den der Abhängigkeit.
Noch etwas: Nach außen hin, außerwestlich sozusagen, ist die Rede von den Werten fatal, denn ein jeder weiß mittlerweile wie doppelzüngig sich der Westen verhalten hat und verhält, jeder der die Rede von Demokratie und Werten hört, hört zugleich Interventionskrieg, Drohnentötung, Ressourcenlukrierung und Interessensdurchsetzung. Jede andere Rede würde wohl mehr Vertrauen schaffen.
Hinzu kommt ja, dass sich »unsere Werte« auch ändern. Man denke daran, dass vor 50 Jahre in Deutschland (und vielen anderen westlichen Ländern) Homosexualität strafbar war! Heute wird ein solcher Staat sofort kritisch beäugt. Und irgendwann galt auch das Recht auf Privatheit mal. Das war bevor man massenhaft E‑Mails und Telefongespräche abhörte – natürlich alles zu unserem Besten und zur Erhaltung »unserer Werte«.
Wer weiß, vielleicht wird der Werteautoritarismus ja die Herrschaftsform des 21. Jahrhunderts.
Ein weiterer Höhepunkt der Doppel-Moral, in einem besonders anschaulichen Sinne, war heute die gemeinsame Pressekonferenz von Außenminister Kerry und A‑Beauftragte Mogherini.
Kerry mahnte im Rahmen der NATO gewisse demokratische Standards an,
und Mogherini war sich (neben Kerry!) nicht zu schade, auf die Unvereinbarkeit von EU und Todesstrafe hinzuweisen.
Was für abgefuckte Funktionäre.
Der Witz ist, dass Griechenland und die Türkei seit 1952 Mitglieder der NATO sind. Sowohl die rechtsgerichtete Militärjunta in Griechenland von 1967–1974 noch die zahlreichen Militärregierungen in der Türkei haben deren Mitgliedschaft nicht tangiert. Vermutlich wusste Kerry das nicht; es wäre ja nicht das erste Mal, dass amerikanische Politiker in europäischer Geschichte nicht ganz so bewandert sind. Was er dann auch nicht wusste war, dass die NATO gar keinen Austritt oder gar Rauswurf in ihren Statuten verankert hat.
Die Todesstrafe ist ja tatsächlich ein empirisch festzumachender Punkt, der sich mit einer EU-Mitgliedschaft nicht verträgt. Öcalan, der PKK-Chef, wurde ja 1999 noch mit dem Tode bestraft. Die Aussetzung wurde dahingehend erreicht, dass die Türkei offiziell zum Beitrittskandidaten der EU ernannt wurde; die Todesstrafe schaffte man dann 2002 ab.
Die ökonomische Bindung der Türkei an die EU existiert seit Jahrzehnten. So ist die Türkei neben solchen Wirtschaftsgiganten wie San Marino und Andorra integraler Bestandteil der EU-Zollunion. Das wird häufig übersehen. So können beispielsweise alle Güter, die in die EU eingeführt sind, ohne weitere Zölle von türkischen Firmen importiert werden. Das gilt natürlich auch umgekehrt: Es gibt so gut wie keine Zölle auf Produkte der Türkei. Der Markt der EU steht also der Türkei längst offen. Eine EU-Mitgliedschaft wäre vor allem Prestige.
Ich weiß ja nicht, wie lange das Treiben von Merkel noch weitergeht, aber ihr bisher letzter Streich dürfte schwerwiegende Auswirkungen auf die EU gehabt haben.
Das einzige, was ihr angesichts frei flottierender Migrationen in Mitteleuropa einfiel, war ein Drittstaatsabkommen mit der Türkei.
Und weil man das nicht umsonst kriegt, wurde der Beitrittsprozess reanimiert. Je länger ich über diesen wahrhaft hilflosen Deal nachdenke, umso deutlich wird mir, wie stark die Aktie »EU-Mitgliedschaft« schon im Sinkflug ist. Diese Abwertung ist natürlich dem Ansehen des Kandidaten geschuldet. D.h. was Frau Merkel in ihrem Drang übersieht, ist der Einsatz, den Sie (obwohl nur strategisch) erbracht hat. Sie hält es vielleicht für raffiniert, eine Aussicht auf Mitgliedschaft einzuräumen, die gleichwohl unwahrscheinlich ist.
Die Bevölkerungen in Europa sind da aber weniger durchtrieben. Sie sehen klar, was man ihnen vor die Füße gelegt hat.
Übrigens steht hinter Frau Merkel auch eine Partei, man würde es nicht vermuten. Und da zählt Europa offenbar auch nichts mehr. Ganz zu schweigen von den linken Claqueuren, die ja nur Vereinahmungsapparate »in den Köpfen« installieren möchten, auf der Europäischen »Ebene«, versteht sich. Die haben erst recht keinen Sinn für die (@mete) politisch-kulturelle Verfasstheit, die an Idealen orientiert sein mag, aber deren Fundament immer Pragmatismus, sozialer Ausgleich und unabhängiges Denken war.
Vermag man sich bald schon nicht mehr vorzustellen.
Das »Treiben« von Merkel dürfte noch einige Jahre weitergehen. Zumal weit und breit keine Alternative zu entdecken ist. Einzig problematisch könnte ihr die CSU in Bayern werden, weil der Kurs in einer Regierung Opposition zu machen auf Dauer zum Scheitern verurteilt sein dürfte. 2013 erreichte die CSU 7,4% der Stimmen (umgerechnet bundesweit) und bekam 11 Sitze mehr als die Bayern-Liste hergab. 2009, als das Ergebnis schlecht war, bekam sie »nur« ihre 45 Bayern-Direktmandate. So etwas könnte wieder drohen, wenn der Wähler ahnt, das Seehofers Geplänkel nur taktisch ist. Die CDU hat Merkel praktisch abgeschafft. Ihr Stimmenverlust bei der Bundestagswahl wird so groß sein, dass man einen sehr guten Landeslistenplatz haben muss, um erneut in den Bundestag einzuziehen. Daher müssen die meisten Abgeordneten ihrem Kurs folgen, um nicht auf aussichtslose Plätze gesetzt zu werden. Wenn man keinen halbwegs sicheren Wahlkreis hat, muss man buckeln. Die SPD löst sich praktisch auf und die Linke verliert Wähler an die AfD. Mich überrascht ein wenig die derzeit stark aufkommende Zustimmung für die Grünen, die nun wahrlich personell katastrophal sind.
Erdoğans Interesse liegt nur noch darin, die Visafreiheit durchzusetzen. Wenn sich die Gefängnistore erst einmal geschlossen haben, wird das irgendwann bestimmt wieder auf der Agenda auftauchen. Das Geklappere mit der Todesstrafe ist nur ein Trick; natürlich wird man das nicht beschließen und stattdessen damit zeigen wollen, wie sehr man auf die EU Rücksicht nimmt.
Für Länder wie Albanien und Serbien – die nächsten potentiellen Beitrittskandidaten – ist die EU natürlich immer noch sehr interessant.
Ich fürchte, so wird es kommen. Eine anpassungsschlanke Abgeordneten-Versammlung wird eine ideenlose und fehlerintensive Politik begleiten. Der Wähler wird 2017 viel Humor nötig haben. Das ist mein Problem, ich nehme die Sache zu ernst.
Die GRÜNEN haben wohl ihre Stammwählerschaft gesichert, Tierschützer, Studenten, SozPäds, etc. Erstaunlich stabil. Eine schon von Berufs wegen menschenrechts-konforme Politik. Darin sehe ich eine (wenn auch nicht moralisch so doch intellektuell) bedauerliche Entwicklung: die 100% Übereinstimmung zwischen persönlichen und allgemeinen Interessen. Dieselbe zweifelhafte Eindeutigkeit zeichnet sich dann auf der Funktionärs-Ebene ab, besonders schön beim UNHCR.
Ich weiß keine Beispiele aus früheren Moral-Philosophien, aber sicher ist dieses eindimensionale Profils des System-kompatiblen »Gewinners« keine tragische Figur. Es gibt kein Scheitern (außer dem was vor aller Augen das Elend der Welt ist) und es gibt keinen »Konflikt«. Ich muss immer wieder an Heiner Müller denken, der sagte: Jetzt kommt das Zeitalter der Farce! Er meinte das in einem ästhetisch-politischen Sinne.
Oh, wieder Interessantes hier!
@ die_kalte_Sophie No. 15
Heiner Müller war ein Spieler. Er verstand nichts von Politik oberhalb des regierungsamtlichen Sadismus once called the eastern block – und deshalb leider gar nichts von den hellen Seiten der Demokratie.
Seine Autobiografie Krieg ohne Schlacht habe ich gern gelesen – aber da läßt er selber die Katze aus dem Sack: Er kannte nur die Diktatur. Und er hat, seinen enormen Beschädigungen (auch in der DDR erfahrene solche...) zum Trotz, was daraus gemacht.
Uwe Kolbe sieht in Müller einen Nachfolger Brechts, der die DDR sozusagen am Leben erhalten hat (empfehlenswertes Buch). Müller sei, so Kolbe, »Privilegiengenießer« gewesen, der sich seine Arbeiten im Ausland durch Linientreue und ein Lenin-Lied erkauft habe. Er findet ein von Müller 1992 (!) übersetztes und angepasstes Gedicht von Ezra Pound – gewidmet dem abgesetzten Honecker gewidmet war. Es ist eine »Vergöttlichung« des ehemaligen Generalsekretärs (Kolbe).
Ich mochte die Gespräche zwischen Alexander Kluge und Müller. Sehr unterhaltsam.
Ja, Kluge und Müller – aber Müller selber fand ich noch besser.
Kolbe – die brutale Variante: Er denkt in zu großen Schuhen.***
Die milde Variante: Er interessiert mich nicht (sorry for this one).
*** Mit der Methode (zu gr0ße Schuhe) schaufeln dann auch sovieltklassige Leute noch ein wenig Licht in ihren Kohlenkeller – muss ich grad lachen wg. Kohle: Stimmt ooch sorum...das nächste Stipendium/ der nächste Stadtschreiberposten/ die nächste dotierte lobende Erwähnung – ist immer die schwerste...
Letzteres ist ein Fehler.
Kann sein, meine politischen Kategorien sind etwas fehlgebildet, aber von Müller habe ich den grundsätzlichen Unterschied zwischen Dissidenz und Anpassung gelernt, und das Dilemma der politischen Existenz verstanden. Eine hohe Moral kann man durch Dissidenz absichern, und das ist in der Regel auch im Westen eine durchgehalten kritische Position. Am politischen Handeln ist man nur insofern beteiligt, wenn man mal zustimmt, also bei Lohnerhöhungen, Flüchtlingshilfe, Umweltschutz. Alles andere ist »schlechte Politik von anderen Leuten«, dafür lehnt man die Verantwortung ab, also Waffenexporte, Entlassungen, Kürzungen im Sozial-Budget. Diese Grundhaltung ist typisch LINKS, und funktioniert am Besten, wenn man nicht regiert. Passiert das Unvermeidliche und man kommt ans Ruder, wird’s sofort zweideutig. Dann werden die Exporte genehmigt, die Märkte geöffnet und die Grenzen für Flüchtlinge dicht gemacht.
Die hohe Moral gibt’s also nur von außerhalb, im Publikum.
Das war mir immer zu billig, ich wollte mich nicht »schön schummeln«. Andererseits habe ich aber festgestellt, dass ich die politischen Akteure immer glatter und gesichtsloser wurden. D.h. die Dissidenz (der Abstand von der politischen Klasse) war gar keine Wahl mehr sondern unvermeidliche Konsequenz. Ich kann die Leute nicht mehr ernst nehmen.
Wir sprachen ja schon darüber beim Thema »Populismus«: der Widerstand gegenüber den Bürgerlichen kann nicht mehr durch Kritik realisiert werden. Es gibt nur noch »indifferentes Einverständnis« (mainstream) oder brutale Abgrenzung (Autoritarismus).
Beides kommt für mich nicht in Frage. Was ist der dritte Weg?!
Müller war weder ein Spieler noch ein Dissident. Er hatte sich im Laufe der Jahre Privilegien erarbeitet wie sie bspw. nur dem ollen Brecht zugestanden worden waren. Dennoch blieb er ein gemäßigt kritischer Geist, der im Rahmen Affirmation in Form von Loyalität ablieferte und sich gleichzeitig nicht gemein machte. Gelegentlich setzte er sich für tatsächliche Dissidenten in aller Heimlichkeit ein bisschen ein (Jirgl). Nach der Wende wurde er zum raunenden Propheten (durch Kluge), was wirklich amüsant war (aber mehr auch nicht).
Die Frage ob er im politischen Sinne moralisch war vermag ich nicht zu sagen. Aber das war Jünger auch nicht. Trotzdem wirken diese Figuren in der aktuellen Lenor-Welt so schillernd. Ihre Widerständigkeit ist und bleibt intellektuell. Sie hat sich in der Praxis nicht gezeigt.
@ die_kalte_Sophie No. 20, @ Gregor Keuschnig No. 21
Praxis
Vielleicht ist es Ihnen auch aufgefallen: Es gibt hier im blog manchal nicht-zynische Momente fast schon der Eintracht.
Die sind mir sehr wichtig. Und über wen ist dann oft die Rede – über Leute, die einen inneren Kompass haben, und – allen Unkenrufen zum Trotz ihren Weg gehen – z. B. Hans-Jochen Vogel.
Enzens (oh – es ist nichts zu machen: Gegen die Vorzüglichen hilft nichts als die Liebe...) hat mal ein ganzes, schön gemachtes Buch über Henry Dunant, den Gründer des Roten Kreuzes, geschrieben. Nicht dass das auch nur 1 kapiert hätte, in den Feuilletons, soviel ich sah. Was an Enzensberger zudem sehr toll ist (ähnlich wie bei Jünger! – ich glaube, dass Müller den auch dafür bewunderte...) – Enzensberger beklagt sich in solchen fällen nicht. Da ist es wieder: Mach’ das Richtige, oder bemühe dich darum – was daraus wird, weiß sowieso k e i n e r – das ist eine Lektion, die viele Diamat und Histomat-Gläubige, aber auch die Technokraten z. B. bis heute nicht verstanden haben. Enzensberger hat überdies – ähnlich Goethe, einen mords Dusel gehabt: Goethe wg.Schiller, Enzensberger wegen Karl-Markus Michel.
Mit Michel hab ich einmal einen ganz zauberhaften Vormittag in Darmstadt verplaudert. Die einzige heikle Situation war die: Im Gartencafé in der Orangerie war nicht gedeckt und es war ziemlich heiß – Michel, im schwarzen Anzug, dunkles Hemd, wollte sich aber partout nicht an einen der ungedeckten Tische im Freien und überdies im luftigen Schatten setzen. Ich wollte uns dann, die von messingnen Ständern gehaltene Absperrungsbordüre überquerend – 1X Sponti, immer Sponti – den Weg freimachen, aber Michel zog es vor, die Regeln einzuhalten und in der Sonne zu braten. Ich hab das sofort vergessen – bzw. registriert, aber mich 0 geärgert. – Michel war charmant – und er ließ sich von der Hitze nicht beeindrucken.
Nun – warum Michel: Weil Enzensberger und Michel sich gegenseitig immunisierten gegen die »unerfüllbaren Forderungen« (HME); gegen die Idee, der Kapitalismus werde demnächst zusammenbrechen und die DDR wie der Phönix aus der Asche usw. (...); zudem gegen die virulenten kybernetischen Wolkenkuckucksheime. Im großen und ganzen haben sie all diese Klippen im Eismeer der Gegenwart mit bewundernswerter Sicherheit umschifft. – Michel vollbrachte diese Tat übrigens nicht nur mit Hilfe etwelcher Kenntnisse der Klassiker, sondern auch mit einer soliden Kenntnis der Theologie (cf. sein Essayband »Von Eulen, Engeln und Sirenen«).
Nun: Unsere Provinzialität gegenüber der Zukunft, unsere prinzipielle Sehschwäche in diese Richtung: Das war eines der wichtigsten und produktivsten der Antidots, die die beiden – u. a. in ganz leicht dahinschwingenden Abhandlungen über die Apokalypse und die Apokalyptiker – aus sich herausspannen.
Ich halte dafür: O. a. (das man selbstverständlich auch noch auf viele andere haltbare Arten ausdrücken könnte) ist die entscheidende Kautele, die all unser Handeln bestimmt – grade auch das politische. Deswegen ist auch vernünftige politische Kritik und insbesondere: Praxis, also reflektierte (=zivilisierte) politische Praxis, von diesem Gedanken geprägt: Nämlich vorgetragen bzw. gemacht in Kenntnis der eigenen Fehlbarkeit – bzw. Falsifizierbarkeit bzw. Fallibilität all’ (all’!!) unserer guten Absichten – bzw. gerade der guten ganz besonders.
Deshalb: Handfeste Dinge wie Korruption sind immer zu kritisieren. Tatsache ist: Die Eliten aus den östlichen Ländern, z. B., wenn Vertreter derselben sich die Mühe machen und auf die privaten Vermögensverhältnisse von von mir aus Helmut Kohl schauen: Wie bald haben die da gleichsam Tränen der Dankbarkeit in den Augen – Tränen der Dankbarkeit und echter Rührung. Derlei verschwindet hier im Ressentiment – oder im knapp unter dem Deckel gehaltenen Hass: »Alle Politiker gehören kastriert« (Aufschrift auf Anarcho T‑Shirt, zu beziehen im einschlägigen Fachhandel, 2016). Der Rest ist – je konkreter, desto schwieriger. – Es ist ein Handgemenge, ein Blätterteig (Vom Blätterteig der Zeit – eine Meditation über den Anachronismus, Enzensberger in Zickzack, 1996). Kuhhändel. Und daran ist nichts verkehrt.
Mein diesbezüglicher (kein Witz) demokratietheoretischer Lieblingstext stammt von Keller, und findet sich – erzählt – in der Novellensammlung die Leute von Seldwyla. Er läuft darauf hinaus zu sagen: Die Leute sind links (die Schullehrer – - !) oder rechts (die Gewerbler...), aber sie wursteln sich alle durch, und wenn man mit demokratischen Mitteln die Sache so steuern kann, dass trotz der ständig (!) aus allen Poren der kleinen Gesellschaft hervorsprießenden (!!) Schulden (!!!) keiner verhungert und keiner für gar zu lang in den Schuldturm muss – und wenn überdies die Allmende gut gepflegt wird, sodass es auch die Armen im Winter warm haben: Dann ist schon unendlich viel gewonnen.
Jetzt breche ich ab – aber sie haben vielleicht den roten Faden in meiner Geschichte geshen.
1 Satz noch: Man muß in seinem Weltbild Platz für das Leid haben, in dem Sinne, dass man es anerkennt als Teil der Conditio Humana – sonst wird die Sache unweigerlich sektenhaft, (falsch) pfingstlich, verkrampft, brüchig, anmassend, dumm, gefährlich (sie kann natürlich auch aus vielen anderen Gründen aus dem Ruder laufen.
Naja, das mit dem inneren Kompass bewundere ich ja auch. Aber was, wenn dieser Kompass eben auch versucht, immer als erster eine bestimmte Himmelsrichtung anzugeben? Es gibt in Raddatz’ Tagebüchern eine Szene, in der er von einem Fest erzählt. Sehr viele bekannte Intellektuelle sind dort, unter ihnen auch Enzensberger. Den ganzen Abend über sagt er aber so gut wie nichts und Raddatz beobachtet ihn, Enzensberger, wie der all die anderen beobachtet. Und sicherlich daraus seine Schlüsse gezogen hat. Raddatz, der zu jedem irgendeine Meinung hatte, konnte Enzensberger nicht fassen. Kein Etikett passte und wenn es doch zu passen schien – da wurde es auch schon wieder von ihm konterkariert. Ich nenne das Geschmeidigkeit (vielleicht ist das ein Plagiat von Raddatz; ich erinnere mich nicht mehr): Einerseits Trendsetter – andererseits aber auch die Bereitschaft, sich eines Besseren zu belehren bzw. belehren zu lassen. Ich hatte schon einmal auf das Gespräch HME mit Gero von Boehm hingewiesen, in dem er dann, befragt nach dem, was ihn reut, exemplarisch die eher voreiligen Hitler-Vergleiche aufführte, die er so heute nicht mehr verwenden würde.
Diese Einsicht unterscheidet ihn von Figuren wie Heiner Müller oder Jünger. Die haben nie über ihre intellektuellen Irrtümer räsoniert; sei es aus Eitelkeit oder auch aus Trotz. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich erwarte keine büßenden Intellektuellen, die ihr »mea culpa« intonieren. Müller und noch mehr Jünger sind viel zu interessante Persönlichkeiten, als das man solche Selbstbezichtigungen sozusagen als Eintritt in ihren Kosmos verlangen sollte.
»Mach das Richtige« – eine schöne Maxime, die aber leider als politische Handlungsanweisung ein bisschen sehr indifferent ist. Natürlich bin ich früh, dass sich Frau Merkel oder Herr Kohl keine Paläste wie Herr Erdogan (noch dazu von Steuergeldern) bauen. Und ich genieße es auch, dass ich zu einem Amt in der Stadtverwaltung nicht gezwungen bin, einen verschlossenen Umschlag mit 100 Euro oder mehr bereit halten zu müssen, nur damit mein Anliegen bearbeitet wird. Und ja, ich bin immer wieder verwundert über den Selbsthaß sowohl von rechts wie auch von links und werde nie verstehen, warum man ein mulmiges Gefühl haben soll wenn in der 80. Minute eines Fußball-Länderspiels die deutschen Fans die deutsche Nationalhymne anstimmen, während dies bei England oder Frankreich als »stimmungsvoll« gilt.
Aber, um das Beispiel mit dem Restaurant aufzunehmen, ich werde mich nicht bei 30 Grad in der prallen Sonne mit Anzug und Krawatte setzen, wenn es andere Möglichkeiten gibt (und sei es, einen Restaurant-Wechsel). Es gab Zeiten, in denen ich so etwas als Etikette zwingend akzeptiert hätte, aber inzwischen bin ich diesem Zwang scheinbar entwachsen. Und so halte ich es auch mit der deutschen Politik. Nur weil um uns herum entweder Populisten oder einfach nur die Unfähigkeit herrscht, bin ich nicht zur Exkulpation der deutschen Politik bereit.
Die Gefahren dieser Haltung erkenne ich sehr wohl. Ich glaube zum Beispiel, dass die harte und exorbitante Kritik an den Verhältnissen in und an der Weimarer Republik von Leuten wie bspw. Tucholsky kontraproduktiv war. Gerade sein moralischer Rigorismus, sein Gleichbehandeln in der Kritik der extremistischen wie der demokratischen Kräfte hat einiges zum Legitimationsverlust der Weimarer Republik beigesteuert. Da war der konservative Knochen Thomas Mann von anderem Kaliber. Er brauchte etwas Bedenkzeit, bevor er sich für die Ideale der Weimarer Republik einsetzte. Die Störer im Publikum waren dann die Jüngers. Aber denen ging es nicht darum, die junge Demokratie zu verbessern, sondern zu zerstören.
Ich finde die Quintessenz der Novelle von Keller gar nicht so schlecht. Ich denke, es gibt zwischen Links und Rechts eine unsentimentale und faire Kohabitation. Oder: gab. Oder: könnte geben. Im Moment sind die politischen Randbedingungen aber derart vielfältig, und schon aufgrund der Vielfalt paradox, dass sich keine klare »Formation« (schrecklich ungenau) mehr abzeichnet. Und erst recht kein Land wie die Schweiz.
Jedenfalls mir geht es so: man muss sich jede verdammte Meinung im Einzelnen ansehen, und meistens geht es nicht viel über die Phrase hinaus. Um die Demokratie fürchte ich deshalb nicht, aber ich habe ein veritables Nähe-Distanz-Problem entwickelt. Einesteils könnte man »die Bürgerlichen« regieren lassen, und sich selbst zurückziehen, anderenteils ist das ja nicht zum Aushalten, wenn man nur die Nachrichten einschaltet. Man müsste wirklich wie ein Maulwurf unter Erde verschwinden.
@ die_kalte_Sophie No. 24 wg. Maulwurf – s. u. – - – @ Gregor Keuschnig No. 24 wegen dem Rest
Vorneweg: Dass ich, während Sie auf den Maulwurf kamen, auch auf den Maulwurf kam – so ca. vor 1 Stunde bei mir jezte – ist das wg. des Kluge-Enzensberger-Gesprächs?! – Müsste fast.
2) Die Übereinstimmung hier gefällt mir sehr, weil sie sozusagen auf Einzelheiten und zugleich Widerspruch basiert
@ Gregor Keuschnig No. 23
Ja, Tucholsky, Weimar, Th Mann und Jünger und Hiller. Hiller gehe ich grade ein wenig nach (Biographie Wallstein). – Und aktuell eben die Idee, man müsse tagtäglich über die Politiker herfallen. Bzw. das T‑Shirt und dessen sichtlich depravierten Träger zwei Tische weiter im Café am letztem Sonntag Nachmittag an einem unsere Lieblingsorte im Schwarzwald: »Die Politiker gehören alle kastriert«. Oder wie es grade in KN geschah: Dass man sich von Seiten eines dezidiert linken Blogs die Örtliche Grünen MdL vorknöpft wegen ihrer euphorischen Art, ihre Schwangerschaft per Ultraschallbild auf Facebook bekannt zu geben (sie ist jung – und ein wenig unbedarft – und tatsächlich türkische Secondo). Kann man über alles reden: Aber womit ich noch immer nicht fertig bin, das passierte dann: Die Altlinken hier fantasierten jetzt bierselig auf ihrem seemoz-Blog in aller Öffentlichkeit, und in »kritischer Absicht«, über das Sexualleben dieser Frau. Ein paar altgediente Grüne protestierten, der Rest der Stadtöffentlichkeit machte einfach weiter wie bisher.
- Eine Marginalie: Raddatz ist einer derer, die 1 Enzensberger-Text gerecht geworden sind: Seine Bemerkungen zu dem 1‑Seiter »Die Furie des Verschwindens« in dem gleichnamigen – öh: furiosen – »es« Bändchen, das ich mittlerweile rauf und runter zitiere, es ist ein Wunder (das Bändchen) – also Raddatz’ entsprechende Bemerkungen über dieses Gedicht insbesondere entsprechen den höchsten Gernhardt’schen Standards: Sie sind treffend, hell und schnell. Kein Zweifel – er konnte sowas! – Und dann – aber das nur als Kontrasterlebnis, nicht als moralische Veranstaltung, kann man sich spaßeshalber danebenlegen, was der Rest von Literaturdeutschland zu diesem Bändchen geschrieben hat: Da sieht Raddatz sehr gut aus.
Was er nicht konnte – wovon er keine Ahnung hatte: Das war die Welt abseits seiner eigentlich sehr eng gezirkelten Bahnen zu würdigen. Das kostet mit der Zeit Substanz. Ich denke wirklich, außer dem, was in seinen Tageüchern steht, wußte Raddatz praktisch über nichts Bescheid. Kein Wunder, waren ihm viele andere Leute unheimlich. Immerhin hat er registriert, dass sein Aussenverhältnis sozusagen merkwürdig ist.
Rushdie hat einen sehr guten Roman über derlei geschrieben: Der Boden unter ihren Füßen. Der spielt den Erfahrungsverlust durch Spezialisierung (und forcierten Hedonismus) anhand eines Rock-Superstars durch. Gefiel mir sehr!
Enzensberger ist diesem Erfahrungsverlust durch Spezialisierung entgangen, wo immer er konnte, u. a. indem er Herausgber oder Verleger wurde, das ist ja keine so ganz anspruchs- und weltlose Arbeit. Goethe z. B. auch – auch Rutschky hatte recht bald eine Vorstellung davon, dass das eine Gefahr darstellt.
Viele Analytiker, die interessant schreiben, haben ihre Klienten, die ihnen – in Form von prekären Erzählungen – Ausschnitte aus der sozialen Welt liefern. Walser reist unablässig, trifft unablässig Leute, spricht unablässig mit denen, wahrscheinlich bis er umfällt – und er tut das immer – außer wenn er diese Begegnungen verarbeitet – also, wenn er schreibt. Zudem hat er eine Weile eine muntere Kinderschar um sich gehabt.
(Nicht ganz) zufällig heute morgen darauf gestoßen: Enzensberger sagt noch, dass dieser Erfahrungsverlust für Schreiber vom Typ Maulwurf – wie z. b. Kafka – nicht so wichtig ist, weil die ohnehin gleichsam unterirdisch arbeiten. Er sei aber anders, deshalb müsse er sich in de rwelt umtun: Er sei vom Typ Storch!
Henscheid z. B., seit er nicht mehr an die Titanic und einen produktiven Frankfurter Kreis angebunden ist, erlebt nichts mehr, und wird im Zweifelsfall virtuos spinös – »Aus der Kümmerniß« ist schon fast ganz reine Sprachmusik...
Aber seine Autobiographie leuchtet noch mal gut auf. Schade, dass das Kritikerseits keinen mehr interessiert hat – außer Denis Scheck, soviel ich erinnere: 1 Cheers an Denis Scheck in diesem Fall – ich hoffe, das schmerzt Sie nicht allzu sehr!
der Maulwurf kam über mich, weil ich nach einer glaubhaften Repräsentation von Abgeschiedenheit und Integrität gesucht habe. Ich sehe mich den politischen Prozessen eher ausgesetzt, und kann die Wirkung auf mich selbst nicht steuern.
Neben der bewussten Aktivität gibt es so ein »Brodeln«, das mich beunruhigt.
Klar, die Ratio ist die Oberfläche. Das Denken, das möglichst viel »Oberfläche« durchdringt. Aber in der Tiefe laufen doch eigenständige Prozesse, Aktivierung, De-Aktivierung.
Also metaphorisch schräg: man ist schon längst zum Maulwurf mutiert, wetzt noch durch den Gemüsegarten (Öffentlichkeit), müsste aber wesensgerecht an die Arbeit gehen, stellt fest, dass man sich zwischen verschiedenen Lebensweisen nicht richtig eingerichtet hat. Kommt sich vor als »ungeschlachtes Mischwesen«, genetisch zweideutig, verwachsen.
Das Kafka-Problem: nicht eindeutig zu sein, ein Gemenge zu sein.
Immer wieder wenn ich von der medialen Getriebenheit des globalisierten Rezipienten und dem Ausgesetztsein in der Politik lese, erinnere ich mich an Goethes Wort an Zelter vom 29.4.1830:
Schon Kafka konnte das nicht mehr. Er ging schwimmen, aber dass der Krieg ausbrach (von dem man damals noch nicht wusste, welche Ausmaße er haben sollte) ging nicht an ihm vorbei. Ein Maulwurf mit Seh-Rohr nach Oben.
Daher ist es schon interessant, wenn @Dieter Kief Raddatz unterstellt, dass dieser außerhalb seines Kreises nichts mitbekommen hatte. Wobei »Unterstellung« nicht negativ gemeint ist. Könnte es nicht eine Tugend sein, sich dem Drumherum, den lästigen Entscheidungen für oder gegen etwas zu sein, zu entziehen? Die andere Frage ist, ob das ein Literaturkritiker überhaupt kann.
Storch vs Maulwurf. Und was ist mit dem Faultier?
@ Gregor Keuschnig No. 27
Es ist ein Klassiker: Spezialisierung bringt einen an die Spitze – und macht gleichzeitig doof.
Viele Leute, die wie der steinalte Goethe keinen medialen Input mehr bezögen, würden sich sehr unwohl fühlen, weil sie eben nichts wegzuschaffen haben.
Hier ein Zufallsfund von heute Nacht:
http://www.rp-online.de/nrw/panorama/gaffer-bedrohen-polizisten-in-dortmund-aid‑1.6129184
Bei Fromm liest sich das so: Es besteht die Gefahr, dass sich eine sozusagen rezeptive oder passiv-rezeptive Lebensweise – quasi einstellt. Und diese archaische Lust wird dann robust verteidigt.
Das ist definitiv eine maligne Angelegenheit. Es hat u. a. deswegen einen guten Sinn, sich derlei vor Augen zu führen, weil die Möglichkeit selber ziemlich neu ist. Stichwort: Passivierung und Pathologisierung d u r c h die sozialstaatlich garantierte Versorgung. Die Polizei und die Rettungsdienste werden zunehmend als Feinde gesehen, weil sie mit dem Sozialstaat verschwistert sind: Sie sind also an der Quelle des als sehr drängend und akut erlebten Unglücks, das man gerne – und zunehmend – beim Staat festmacht. Die Sache ist im Kern babyeinfach: Die Leute glauben, dass Geld glücklich macht – und zwar je unproduktiver sie selber leben. Daher ziehen sie den Umkehrschluß: Wenn sie unglücklich sind, ist der Staat schuld, weil er ihnen zuwenig Geld gibt. Das aber ist für sie offensichtlich: Weil sie ja sonst glücklicher wären! – Also machen sie ihrer tatsächlich empfundenen Wut und Beschämung angesichts der Rettungskräfre und der Polzei Luft: Denn die stehen für nichts anderes als für das Haupthindernis auf dem Weg zum Glück: Den Staat!
Diese Art von zirkulärer latenter bis offener Zornbewirtschaftung treiben u. a. ein Haufen drittklassiger Fernsehkasper – aber ich fürchte, der wirkliche Abgrund tut sich in der Spiele- und Video-Welt auf. Gut, dass ich davon wenig weiß...
... er deute das alles nur an/
und seine Stimme erhebe er nur/
weil sonst keine Stimme vernehmbar wäre...
Faulheit ist finde ich ok, sie wird aber wie der konstruktive/produktive Umgang mit Freiheit überhaupt gern unterschätzt. Das sind anspruchsvolle Dinge, die, wenn sie gelingen sollen, in Richtung Lebenskunst weisen. Und wahrscheinlich in Richtung Selbstbindung (das ist jetzt nicht ganz ausgegoren).
Ich habe auf diesem vielbegangenen Pfad schon viele Straucheln sehen – und da bin ich nicht der einzige: « (...) And I Lay Traps For The Troubadors/ Who Get Killed Before They Reach Bombay // Pleased to meet you Honey – hope you’ll guess my Name // Now what’s Confusing Ya/ Is the Nature// Of My Game
- – - Unglaublich,dass die Glimmer-Twins das als Twens geschrieben haben sollen... Haben sie aber. – Irgendwer hat ihnen Goethe beigebracht, I guess (Subject for further Investigation).
Man könnte sicherlich die Ambivalenzen besonders im linken Milieu zum Staat genüsslich ausbreiten. Zum einen wird er – ganz Tea-Party-gemäss – als überflüssig interpretiert. Zum anderen dann jedoch als riesige Umverteilungsmaschine begrüsst, die bis in die kleinsten Haarspitzen hinein alles zu regeln hat. Der Gipfel ist die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, welches natürlich auch wieder »der Staat« zur Verfügung stellen soll. Die Symbole des Staats – Politik, Polizei, Justiz – werden wenn überhaupt nur als Beglückungsbringer akzeptiert. Besonders abstruse Blüten treibt dies im Kulturförderwesen: Man reklamiert Stipendien, Subventionen, Unterstützungen – um dann genau dieses Gemeinwesen nicht nur zu kritisieren (das ist legitim), sondern zu attackieren.
.-.-.-
Mit »Faultier« meint ich tatsächlich den mehr oder weniger nur noch dosierten Konsum von Nachrichten jeder Art. Ich bin bei weitem noch nicht so alt wie Goethe 1830 und damals dürfte die Nachrichtenlage auch weniger spektakulär sein als heute, kann aber seine Klage sehr gut verstehen. Früher habe es im Fernsehen sonntags eine Sendung, die sich »Wochenspiegel« nannte. Hier wurden die wichtigsten nachrichtlichen Ereignisse der Woche zusammengefasst. Man hatte während dieser 30 Minuten nicht den Eindruck, etwas zu verpassen. Auch das ist bereits 30 oder 20 Jahre her. Dennoch glaube ich, dass das Sich-Aussetzen mit Tickern und Aktuellem praktisch jeder Art eine Art von Umweltverschmutzung darstellt, die eine Person psychisch und intellektuell deformieren können.
Der Putschversuch in der Türkei und die Ereignisse danach sind jetzt eine Woche her. Zusammenfassen könnte man das Geschehen – ohne die Komplexität wesentlich zu reduzieren – in zehn Zeilen. Stattdessen hat man auch »normaler« Nachrichtenkonsument sicherlich Stunden um Stunden damit verbracht, sich über die Ereignisse wie auch immer (Internet, Radio, Fernsehen, Zeitung) zu informieren. Damit meine ich nicht die Hintergründe, die aufscheinen (das leisten die Aktuell-Medien immer weniger). Die Komplexität des Vorgangs selber bleibt unangetastet. Um ein Bonmot abzuändern: Nicht das Internet oder Facebook sind die großen Zeitvernichtungsmaschinen, sondern die Echtzeit-Nachrichtenangebote.
»Faulheit« bestünde darin, sich diesem Strom zu entziehen – ohne allerdings in einer platonischen Höhle zu versauern. (Dazu passt mein Mitleid mit den Feuilletonisten, die sich fast zwanghaft damit beschäftigen, wie und warum »Pokémon Go« funktioniert und dies in Selbstversuchen über sich ergehen lassen. Stattdessen hätte man doch besser ein paar Bücher gelesen und rezensiert.)
@ Gregor Keuschnig No. 29
Ja klar – alles richtig!
Ich z. B. kucke keine Nachrichten und lese so wenig wie möglich online. 2 Tageszeitungen, 2–3 Blogs/ Tg., ein paar andere Blätter, fertig. Fernsehen weniger als 1 Std. / Tag. Naja – kein richtiges Faultier...
Auf die Gefahr hin, dass Sie jetzt in ein Höllengelächter ausbrechen – ich mache das so wie meine Mutter, die auf einem Substistenzbauernhof auf gut 1000 Metern Höhe im Sudetenland aufgewachsen ist, und die stets mit einem skeptischen Blick auf die hiesige Betriebsamkeit reagiert hat (Gott hab sie selig!) – bzw. Enzensberger (ja, Gott, diese Höfe, von denen die Familie herstammt im Allgäu, die stehen oft noch da, und der Name kommt vom Enzian – früher waren die Hänge blau davon, das ist ja alles ganz normal).
Hintergründe sind interessant – aber was mich sehr beschäftigt: Auch die werden gern als reine Fakten geliefert. Dank Internet könne selbst kleine Medien im Handumdrehen 15 000 Zeichen machen zu – Konflikt in Türkei usw. – Sinn vonnet janze: Wenn der Auswähler und die Aufbereiterin keine Peilung haben: = 0; obwohl evtl. alles richtig ist. Für den Spiegel ist das ganz schlecht, weil wikipedia und der online-Zugang zu allen alten Spiegel-Ausgaben ca. 3/4 des Wissensvorsprungs des Spiegels zum Verschwinden brachten; 3/4 des Inhalts sind bei großen Themen meist von der Konkurrenz bis hin zum windigsten online-Medium und zur Gratiszeitung (in CH sehr stark) regelmäßig abgegrast, wenn das Heft erscheint.
Heute morgen ein längeres Gespräch, darin: Klatsch (30%), Düsseldorfer Gaffer (30%), Türkei (20% – u. a. Erdogans Schulbildung: 4 Jahre. Sehr gut auch diese Info – gestern aus einem Blog gefischt: Der Unterschied zwischen der »hellen« und der »dunklen« (= türkische Bezeichnungen) Türkei: Städter, Gebildete, Laizisten, Mittelschicht u Oberschicht, vs. formal Ungebildete (0 – 4 Jahre Schule), fest im Glauben, stolz und dankbar auf der Seite Erdogans (einer von uns!). Die dunkle Türkei ist z. T. vollkommen ortsfest, z. T. hochmobil (u. a. viele deutsche Gastarbeiter).
Dann noch die Frage, wie Verschwörungstheorieaffin ist die Türkei? Das hat Steve Sailer auf isteve in einem eigenen Blogbeitrag hervorragend abgehandelt. Ichab ihm mal geschrieben, dass in meinem Umfeld der Schriftsteller HME der erste war, der dieses Faktum beackerte – für die Türkei – - explizit, soweit ich sah (aber ich sehe da nicht sehr weit).
Sailer schrieb, er sei vor Jahren mit einem US-Thinktank ein paar Tage in der Türkei gewesen und habe bemerkt: Verschwörungstheorien sind dort ein Ausweis intellektueller Stärke. – Solche Dinge sind natürlich gut zu wissen – und anschlussfähig. Islamische Kulturen sind in der Defensive, und wenn man in der Defensive ist, fühlt man sich auch leicht verfolgt. Bzw. entwickelt Suprematie-Vorstellungen, die handkehrum Verfolgungsideen generieren usw. – Bis hin zum letzten irrlichternden Beilschwinger in Mainfranken...
Cf – : Es ist wie vor dreißig Jahren in und um Frankfurt: Wer die negative Dialektik des BRD-Gesamtverblendungszusammenhangs nicht durch mindestens 32 Verschachtelungen hindurch noch zu erkennen vermochte, galt nicht als zurechnungsfähig – bzw. als Büttel des Systems, Chauvinist, Arbeiterverräter, Konterrevolutionär usw.
Aber das war’s dann auch für mich mit der Türkei, im Großen und Ganzen.
Toll, dass Sie die Subventionsabgreifer im Kulturbereich erwähnen – im Grunde die gleiche Struktur wie bei den Düsseldorfer Prolo-Gaffern: Du beweist, dass du als Subventionskünstler nicht gekauft bist (Prolo-Gaffer: = nicht von der Lügenpresse verstrahlt usw.), indem Du – je hirnloser, desto besser – aufrührerische Reden führst.
Hier war vor ein paar Wochen eine weitere Diskussion über die Frage Regietheater – ja oder nein – und der aus dem linken Hauptstadt-Milieu glaubich in die dumme Provinz eingeflogene Regisseur eröffnete die Diskussion vor den schon erbarmungswürdig duldsamen Resten des Konstanzer Bildungsbürgertums (50 graue Köpfe) – und sicher noch ein paar der letzten Konstanzer SPD-WählerInnen und braven Theaterkarten-Abonnentinnen und Steuerzahlerinnen mit der Feststellung: »Schröder ist ein Arschloch!« – Dann begann er zu begründen, warum er im Zerbrochenen Krug a l l e Rollen von a l l e n SchaupielerInnen spielen ließ: Weil wir heute (!?) sowohl Angeklagte als auch Richter (?!) seien – Stichwort: Dekonstruktion – - vor 50 Jahren emt Klassenjustiz. Jetzt werden die Kennzeichen der bürgerlichen Repression dekonstruiert am Beispiel Kleists, den der Experte dann für an sich unspielbar erklärte, weil die Motive heute keinen Anklang mehr fänden.
In Tat und Wahrheit sind diese Leute nicht nur beschränkt, sondern überdies sterbenslangweilig. – Nun gut, das ist nichts besonderes. Umso toller, wenn es jemand anders macht: Gestern Toni Erdmann gesehen – 20% des o. a. Gesprächs unter Konstanzer Blochkennern galten Maren Ades Meisterwerk – in unserer Räucherkammer gab es – immerhin vom einzigen unter den diskutanten, der den Film gesehen hat, 100% Zustimmung.
@ Dieter »Cf – : Es ist wie vor dreißig Jahren in und um Frankfurt: Wer die negative Dialektik des BRD-Gesamtverblendungszusammenhangs nicht durch mindestens 32 Verschachtelungen hindurch noch zu erkennen vermochte, galt nicht als zurechnungsfähig...«
Ein Zufall, das ist mir jüngst auch eingefallen, just die Analogie zwischen der arabischen Vorliebe für Verschwörungstheorien, und seiner »theoretischen Variante«, wobei damit nicht die raffinierten Autoren angesprochen wären, sondern das intellektuelle Fußvolk. Wichtigste Differenz: die Araber machen die Person zum Ursprung der Verwicklungen, die Westler das System.
Meine Vermutung: es gibt einen Zwang, eine »Norm« im Westen, zu de-personalisieren. Westliche Menschen sind (immer im Vergleich zu den Muslimen) zu sehr vom Schuldkomplex geprägt, so dass jede Verschwörungstheorie immer als »unverschämte Anklage« zu verstehen wäre. Kommt trotzdem vor, zuletzt viele Spekulationen über die wahrhaft boshaften Motive der Kanzlerin bei der Beförderung der Zuwanderung.
Aber das sind Ausnahmen. Ich glaube, dass die Norm zur De-Personalisierung kultur-immanent ist, und das westliche Denken (im landläufigen Sinne) exklusiv prägt.
Ich fasse das mal deleuzianisch als Hypothese zusammen:
ES MUSS JEMAND SCHULD SEIN, ABER ES WÄRE BESSER, WENN DAS KEIN MENSCH IST...
Vielleicht hat die große Errungenschaft »Theorie« ja doch ethnologische Wurzeln.
@ die_kalte_Sophie No. 31
Meinen Sie ethnische oder ethnologische Wurzeln?
Ansonsten ist das ein simpler Befund – den interessanterweise Sailer und Enzensberger haben – viele andere nicht: In Turkiye jibbet mehr Verschwörungstheorien als beispielsweise in Deutschland oder den USA.
Mein Adorno-Bezug ist eine strukturelle Analogie, sie berührt nicht den Befund. Positiv gelesen: Auch Adorno war in dieser Hinsicht tadellos: Er war k e i n Verschwörungstheoretiker.
Hie Verschwörungstheoretiker – da keine oder vergleichsweise sehr wenige (eigentlich keine von Relevanz – Nachdenkseiten-Müller ist, so will mir scheinen, nicht von großer Relevanz).
Man kann derlei sicher auch mit Bezug auf Deleuze durchdenken – so wie man, laut Hans Traxler glaubich, den Kahlen Asten im Rothaargebirge selbstverständlich auch mit Sauerstoffgerät besteigen kann. – Entsprechend merkwürdig ist ihr Fazit, das fast alle Differenzierungen, die ich oben vorgenommen habe, wieder einsammelt. Und an deren Stelle eine lustige, aber sinnfreie Pointe setzt: Schuld ohne Menschen.
»Mein Adorno-Bezug ist eine strukturelle Analogie, sie berührt nicht den Befund. Positiv gelesen: Auch Adorno war in dieser Hinsicht tadellos: Er war k e i n Verschwörungstheoretiker.«
Jetzt müsste man ganz genau sein, und am besten allein und nicht zu zweit...
Erstmal, danke! Ich meinte tatsächlich »ethnisch« im abendländischen Sinne.
Schon habe ich mir ein Problem ins Knie geschraubt.
Dann zu ihrer Aussage oben: Wenn es im Westen im Umkreis der kritischen Theorien (Deutschland, Frankreich, U.S.A.) so etwas wie eine de-personaliserte Form der Verschwörungstheorie gibt (was ich behaupte, aber halt auch behaupten möchte), dann würde das bestimmt den »Befund« berühren, oder sagen wir schlicht, den epistemischen (Erscheinungs-Beschreibungs-) Wert der Theorien.
Uff. Und im Einzelfall müsste man dann ganz genau sein. Adorno?! Ein bewegliches Denken, das sich mit der Politik gar nicht einlassen wollte. Schwerpunkt: Ästhetik.
Habermas?! Schwierig. Das politische Handeln, das er theoretisch in Betracht zieht, hat natürlich viel mit Proto-Politik, aber absolut nichts mit Wirtschaft zu tun. Schon wieder wird nur links geblinkt, aber nicht richtig analysiert.
Erst muss der Verblendungszusammenhang aufgesprengt werden, dann der Neoliberalismus geknackt. Und dabei weiß jeder Leser mit Verstand ganz genau, dass diesen Begriffen keine Objektivität beikommt.
Aber »klingt« diese Begrifflichkeit nicht deutlich nach Verschwörung ohne Hauptperson?! Ich meine, der paranoische Aspekt ist vielleicht schwach ausgeprägt, aber er ist vorhanden. Diesen schwachen paranoiden Komplex würde ich in beiden Fällen einen »hochfliegenden kultur-verträglichen Ersatz für arabische Verschwörungs-Theorien« nennen. Will sagen, es hat dieselbe FUNKTION. Es hält die Spannung hoch, und gibt Anlass für Spekulationen.
Sie haben recht: Adorno ist kein Verschwörungs-Theoretiker. Aber ein ganz ganz kleines bisschen...
@ die_kalte_Sophie No. 33
Jetzt mach ich ohne Abkürzungen: Dass Adorno nichts mit Politik zu tun hatte, ist falsch.
Ebenso falsch ist es zu sagen, Habermas habe nichts mit Wirtschaft am Hut – er ist vielleicht so frei, diesen Bezug so zu gestalten, wie er es für richtig hält. Lesen Sie evtl. mal die TdKH – man kann seine Zeit erheblich sinnloser zubringen (öhhh), es finden sich allein dort viele Dutzend Bezüge zur Wirtschaft.
Sie missverstehen mich, lieber Dieter. Ich gehe von den Schwerpunkten der Denker aus und ihren Interessen. Da ist es keineswegs falsch zusagen, Adorno hatte nichts mit Politik und Habermas hatte nichts mit Wirtschaft am Hut.
Aber diese Grobheiten spielen für meine blut-junge Hypothese von den »de-personalisierten Verschwörungs-Komplexen« gar keine Rolle. Das ist ein Thema für ein ganzes Buch, das ich natürlich nicht schreiben werde. Aber die nächsten Jahre über werde ich vermutlich »Zettel« darüber sammeln, weil es mich wirklich interessiert.
Ich gehe davon aus, dass die Virulenz bei den ausgewiesen akademischen Denkern relativ gering ist. Der Abstand zur Wald-und-Wiesen-Ideologie ist gewaltig. Ganz klar. Indes, die Bedeutung für die politische Formation »West« ist im Moment doch mit Händen zu greifen, oder?! Dass die Denker davon nur in homöopathischen Dosen Gebrauch machen, ist ein schwacher Trost gegenüber dem alltäglichen Wahnsinn.
Politik ist Vernunft für alle, die sie für anschlussfähig erachten. Die Unterschiede zwischen den Politiken sind aber immer noch riesengroß. Streng genommen gibt es keine Politk, die wirklich vernünftig ist, wenn man den Vernunft-Begriff des reinen Denkens heranzieht. Jede Pragmatik geht von anderen Prioritäten und »Wahrscheinlichkeiten« aus.
Wenn Sie so wollen, hat Adorno sich als Polit-Skeptiker sich längst nicht so kollosal geirrt wie Habermas als universalistischer Polit-Pragmatiker. Ja, der lag wirklich ganz schön daneben. Aber vielleicht muss das ja so sein, von irgendwo weit draußen aus einem kosmischen Blickwinkel heraus betrachtet. Vielleicht will jeder gewaltige Irrtum ausführlich sein.
@ die_kalte_Sophie
Zuerst machen Sie eine generelle Aussage über Adorno und Habermas – und dann sagen Sie, das sei nicht so gemeint gewesen.
Die Frage, die sich da immer aufdrängt ist: Wenn Sie das nicht so gemeint haben – warum haben Sie es dann so geschrieben?
Im übrigen: Ich fürchte in der Tat, dass Sie eine falsche Vorstellung haben vom Zusammenhang von Theorie und Praxis. Kurz gesagt: Sie theoretisieren praktische Fragen. Dieser Fehler ist ehrenwert, aber nicht ganz auf der Höhe der Zeit. Wenn man ihn nicht in den Griff kriegt, macht man sich, kann sein, viel unnötige Gedanken.
Derlei liegt als offenes Buch vor uns: In den Arbeiten von Frege, Wittgenstein, Lask auf der einen Seite und Weber, Habermas, Mead usw. (Lakoff) auf der anderen.
Indem ich Sie »missverstehe«, versuche ich einfach klar und deutlich zu argumentieren. – Das freilich versteht sich nicht von selbst, außer, sagt Gadamer mit Bezug auf Goethe irgendwo: Bei der reinen Seele. Kurzer Hinweis: Notwendiges Kennzeichen der reinen Seele ist, dass sie von ihrer Natur nichts weiß.
Wenn Sie eine Lektüre-Empfehlung zur Kenntnis nehmen wollten: Erkenntnis, Gottfried Gabriel, De Gruyter 2015, 25 Euro.
Die (politische) Philosophie hat immer das Manko, dass sie zuweilen durchaus prägnante und treffende Gesellschaftsdiagnosen aufzustellen vermag (man denke auch an Marx) sich aber immer dann in rhetorische Wolkenkuckucksheime flüchtet, wenn es an die praktischen Anforderungen geht. Dies überlässt man den Interpretatoren – und entsprechend sehen die utopischen Entwürfe des 20. Jahrhunderts ja auch aus.
Selbst Kants Kategorischer Imperativ kann zu einer Diktatur führen. Marx’/Engels’ Sozialismus fand in Stalin, Castro, Honecker, Mao und Pol Pot die unterschiedlichsten Deuter. Verglichen damit sind Adornos und Habermas’ postmoderne Theorien eher Glasperlenspiele; im Fall von Habermas in einem bedeutungsschwanger daherkommendem Duktus verfasst. Die Diskursethik von Apel/Habermas wird im Europäischen Rat angewendet – die Erfolge sind bekannt. Popper plädierte einst, Theorien statt Menschen sterben zu lassen. Seine Theorie (sic!) einer sich ständig institutionell verbessernden Gesellschaft ist m. W. die einzige, die den Ball an die politischen Praktiker weiterspielt, ohne sich in ideologische Fallstricke zu verfangen.
Jeder Bürgermeister einer mecklenburgischen Kleinstadt, der drei Jahre im Amt ist, dürfte mehr Ahnung von Politik haben als so mancher Theoretiker an seinem Katheder. (Die braucht man zwar trotzdem, erweisen sich aber eben meist als untaugliche Regentenschüler.)
@ Gregor Keuschnig No. 37
Habermas ist sich des fundamentalen Unterschieds zwischen Theorie und Praxis durchaus bewusst. Deswegen unterscheidet er, was er als Wissenschaftler (TdKH, Faktizität und Geltung, Nachmetaphysisches Denken I u II) usw., und was er als Intellektueller, also als engagierter Bürger auf ganz eigene Verantwortung veröffentlicht – seine zeitdiagnostischen Aufsätze, die oft auch in der Presse erscheinen und gesammelt in den »Kleinen politischen Schriften« als »es«-Bändchen vorliegen. Kürzlich hat er erklärt, diese Reihe sei abgeschlossen, er werde keine weiteren Bändchen mehr folgen lassen.
Seine Kommunikationstheorie basiert auf kontrafaktischen (=nicht realen) Idealisierungen, das spricht er auch seelenruhig aus.
Derlei ist keineswegs ehrenrührig oder auch nur ungewöhnlich, und die Physik z. B. wäre ohne derlei undenkbar – aber das ist natürlich eine Hürde, die die EU immer reissen wird: Die TdKH ist per se n i c h t praktisch.
Es lassen sich allenfalls Folgerungen daraus ableiten, die dann eine sinnvolle praktische Kritik unterfüttern können. Einfacher ist das – for the better or worse (kurpfälzisch: so odda so) – n i c h t zu haben.
Strukturelles Problem aller geistigen Höhenflüge ist die Landung, so to speak.
Strukturelles Problem aller Praktiker ist ihr enger Horizont.
In gut funktionierenden Kulturen gibt es einen produktiven Austausch zwischen diesen beiden – kleiner Scherz: – Archetypen.
Bestes mir bekanntes Bispiel – Bichsel und die Schweiz. Ich stelle Bichsel was diesen Aspekt eines Schriftstellerischen Schaffen angeht, noch über Frisch, insbesondere wegen seiner über Jahrzehnte verfassten und vielgelesenen Zeitungskolumnen. Und explzit wegen seiner sozialdemokratischen Sicht auf die Schweiz – die er immer im Sinne Poppers pflegte – seine sozialdemokratische sicht jetzte. Dem liberal-Grünen Hürlimann ist auf dem Gebiet auch vieles sehr Imponierendes gelungen.
Aber dieses Gelingen setzt immer eine Kultur voraus. Ihr Handke-Serbien-Buch kenne ich nur ausschnittsweise, aber ich behaupte auf dieser etwas wackligen Faktenbasis, das zählt hier auch.
Wieder ein imposantes Werk, wo derlei zur Anschauung kommt, wieder, wie im Falle Keller (nicht ganz zufällig, wie ich zugebe) von einem Schweizer: Friedrich Dürrenmatt, Das Versprechen.
@ Dieter, Sie haben schon recht: »Ich fürchte in der Tat, dass Sie eine falsche Vorstellung haben vom Zusammenhang von Theorie und Praxis. Kurz gesagt: Sie theoretisieren praktische Fragen.«
Ob dieser Fehler etwas mit der zeitlichen Entwicklung der Geistesgeschichte zu tun hat, weiß ich nicht. Es ist wohl meine Erwartung, die der »Entwicklung« zuwider läuft.
Meine Erfahrung war: wenn man das politische Feld, so wie es sich in der medialen Beobachtung entfaltet, beobachtet und die Erfahrungen des Engagements hinzu nimmt, dann stellt sich rasch Ernüchterung über die Diversität von Theorie und Praxis ein. In der Tat bin ich über diesen Abstand ziemlich irritiert.
Ich habe mich daher (schon wieder richtig!) entschlossen, praktische Probleme zu theoretisieren. Ob ich mich damit ins Abseits katapultiere, um ein fröhliches Dilettantentum zu pflegen?! Das kann gut sein. Nichts weiter würde ich für mich in Anspruch nehmen.
Wir sind uns einig, dass die Theorie die Politik nicht ersetzen kann und will.
Und vielleicht würden Sie mir sogar zustimmen, dass Habermas die Kurve nicht ganz gekriegt hat, da seine Meinungsbildenden Aufsätze stets so wenig Aufschluss über die richtigen Maßnahmen geben. Das Handeln erreicht er nicht mal stellvertretend, er bleibt in der Rhetorik gefangen. Das ist ein Scheitern, das mich abgeschreckt hat, muss ich offen zugeben. Ganz ohne hochnäsige Bewertung.
Das ist ja bürgerliches Los: vom Handeln immer einen Schritt entfernt zu sein. Und sich in diesem Abstand einrichten zu müssen. Als Theoretiker, Berufsphilososoph, Kulturschaffender, what ever.
@ Gregor. In der Tat, der Theoretiker sollte wissen, wann er den Ball abspielen muss. Das hat Popper wohl besser gelöst.
@Dieter Kief
Den engen Horizont der Praktiker erweitert man aber nur schwer mit polit-philosophischen Traumgebilden. Denn der Praktiker muss sich den Problemen stellen, die der Theoretiker wohl geordnet und ausgiebig analysieren kann. Helmut Schmidts Ausspruch vom Visionär, der des Arztes bedarf, ist ja nicht zuletzt ein Erfahrungssatz. Ja, in funktionierenden Gesellschaften müsste es diesen Austausch zwischen Theorie und Praxis geben – aber das Gegenteil ist der Fall. Die universitären Lehren sind eher elitär. Dass einst eine Frau Süssmuth ihre akademische Karriere für Kohls Kabinett aufgab wäre heute noch undenkbarer als damals. Letzter, erbärmlich gescheiterter Versuch ist jener (kluge wie für den Betrieb ungeeignete) »Professor aus Heidelberg«, der schon im Wahlkampf verbraucht wurde.
Ihre Äußerung zu Handke/Serbien habe ich nicht verstanden. Wie meinen Sie das?
Handke /Serbien – liegt für mich auf einer Ebene mit Dürrenmatt/Schweiz. Eigensinn und öffentliche Belange verbindend. Ich erwarte dann vom Intellektuellen nicht, dass alle seine Thesen verallgemeinerbar, oder alle seine Beobachtungen originell sind. Aber ich habe bei Handke verstanden, dass er eine Beziehung zu Jugoslawien hatte, eine Sicht drauf, die das Verschwinden dieser Gesellschaft für ihn mit Verlustgefühlen und Wut und Trauer auflud.
Nochmal zu den Geisteswissenschaften – das ist drollig: Sie haben praktisch kein Mittel gegen schärfste, sogar fundamentale Kritik. Letztlich funktionieren sie daher auch nur als kollektive Veranstaltung. Und ihre Wirkung muß in jedem Diskurszusammenhang sozusagen aufs Neue hergestellt oder beglaubigt werden.
Berüchtigt sind hier am See Ausflüge einzelner aufgrund von Einladungen der VHS St. Georgen osä ins vollkommene Nirwana. Das kann sehr schmerzlich sein.
Noch zu Handke. Was ich ebenso ganz gut nachvollziehen konnte war, dass es eine Tendenz in der Berichterstattung und in den Äußerungen der Politik gab, die Schuld am gesamten Unglück ungerecht zu verteilen.
Kennen Sie vielleicht P. J. O’Rourkes Reportage über den Zerfall Jugoslawiens? Auf deutsch in Reisen in die Hölle – bei – - der anderen Bibliothek.
@ die_kalte_Sophie – ja so ungefähr – avanti Dilettanti – das geht immer. Aber man schießt als Freibeuter unweigerlich viele Fahrkarten.
Ich weiß wirklich nicht, was so sehr gegen das Lesen spricht – und weshalb der eigene Dilettantismus soviel besser sein sollte. Sie haben sicher schon gemerkt, wo meine diesbezüglichen Sympathien liegen. Ich meine, es wird in der Regel die Produktion über- und die kluge Rezeption unterschätzt. Das war auch ein Fazit aus meinen Jährchen als Literaturzeitschiftenmacher.
Aber insgesamt – vielen Dank für Ihre Zeilen hier! – Ich bin ab morgen ein Weilchen unterwegs.
Die Aufregungen sind enorm, derzeit.
@ Dieter. Gute Fahrt, und eine letzte Zustimmung. Die kluge Rezeption ist hoch zu halten. Beim Lesen kann man nicht genau genug sein.